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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Schaffen und Genießen

in ihrem innersten Gefühlsleben weniger mit ihr zusammen. Die Folgen aller
dieser Änderungen ordnen sich dem allgemeinen Wandel unter, von dem hier
die Rede ist. Die alte Familie mit ihren: autoritativ gebundenen Wesen hatte
einen objektiven Charakter: die Familie bedeutete eine Einheit, die sich über die
einzelnen Personen erhob und ihnen gleichsam als ein substanzielles Gebilde
gegenüberstand. Die Gefühle der Verehrung, die den Familienhäuptern ent¬
gegengebracht wurden, gingen dabei gleichzeitig über sie hinaus und gewannen
ihre stärksten Kräfte eben durch ihren Bezug auf jene überpersönliche Einheit.
Denn es liegt in der Natur des Menschen einer solchen sich williger unter¬
zuordnen, sich stärker von ihr gebunden zu sühlen, als es persönlichen Auto¬
ritäten gegenüber der Fall ist. Die stärksten Gefühle verknüpften so den einzelnen
mit dieser Einheit, der er zugleich seine besten Kräfte widmete. Heute ist die
Familie zu einer von den vielen Organisationen geworden, durch die der Mensch
seine wesentlichen Bedürfnisse in planvoller Weise befriedigt. Sie ist eine Ver¬
anstaltung geworden, in die die Menschen teils durch freie Wahl hineintreten,
teils durch die Natur hineingestellt sind -- immer aber mit dem stillschweigenden
Vorbehalte, daß man aus ihr ausscheiden kann, sobald sie ihren eigentlichen
Zweck nicht mehr hinreichend erfüllt. Bei den letzten Worten denken wir an
die Erleichterung der Ehescheidung, wie sie heute durch das Gesetz und die ver¬
änderten wirtschaftlichen Verhältnisse gegeben ist. Dazu kommt die Verengung
des Kreises, innerhalb dessen sich das Familienleben abspielt: die patriarchalische
Zugehörigkeit des Gesindes zu ihm hat gänzlich aufgehört, und ebenso werden
Verwandte nur selten noch von? Familienleben mit umschlossen; und dasselbe
beginnt bereits zum Teil für die erwachsenen Söhne zu gelten. Diese Ver¬
engung aber rückt besonders den Kindern die Gefahr nahe, die Familie lediglich
im Lichte einer ihrem Egoismus dienenden Institution zu erblicken. Wer vollends
ehelos, wer ohne im Hause lebende Kinder verwitwet ist, der ist vom
Schicksal der Atomisierung bedroht. Die Gesamtwirkung aller dieser Wand¬
lungen ist klar. Dem Familienleben wird heute weniger innere und äußere
Arbeit zugewendet, es werden in die Familie weniger Gemütswerte hinein¬
gesteckt als in früheren Zeiten: sie ist eine Stätte geworden, in der mehr als
früher die Güter des Lebens lediglich genossen werden.




Daß ein ähnlicher Wandel sich vielfach mit unserer Geselligkeit vollzogen
hat, sei nur im Vorbeigehen erwähnt. In der vorindustriellen Epoche nahmen
die Bildungsinteressen in ihr einen viel größeren Raum ein als heute. Der
Kreis der Interessen war geringer, die Gemeinsamkeit in ihnen demgemäß
größer, die persönlichen Beziehungen infolge der engeren äußeren Dimensionen
des Lebens wärmer. So ging man in die Gesellschaft mit der Erwartung,
aus ihr etwas mit nach Hause zu nehmen und gab sich demgemäß. Heute
herrscht zumal in der Großstadt überwiegend das entgegengesetzte Verhalten.


Schaffen und Genießen

in ihrem innersten Gefühlsleben weniger mit ihr zusammen. Die Folgen aller
dieser Änderungen ordnen sich dem allgemeinen Wandel unter, von dem hier
die Rede ist. Die alte Familie mit ihren: autoritativ gebundenen Wesen hatte
einen objektiven Charakter: die Familie bedeutete eine Einheit, die sich über die
einzelnen Personen erhob und ihnen gleichsam als ein substanzielles Gebilde
gegenüberstand. Die Gefühle der Verehrung, die den Familienhäuptern ent¬
gegengebracht wurden, gingen dabei gleichzeitig über sie hinaus und gewannen
ihre stärksten Kräfte eben durch ihren Bezug auf jene überpersönliche Einheit.
Denn es liegt in der Natur des Menschen einer solchen sich williger unter¬
zuordnen, sich stärker von ihr gebunden zu sühlen, als es persönlichen Auto¬
ritäten gegenüber der Fall ist. Die stärksten Gefühle verknüpften so den einzelnen
mit dieser Einheit, der er zugleich seine besten Kräfte widmete. Heute ist die
Familie zu einer von den vielen Organisationen geworden, durch die der Mensch
seine wesentlichen Bedürfnisse in planvoller Weise befriedigt. Sie ist eine Ver¬
anstaltung geworden, in die die Menschen teils durch freie Wahl hineintreten,
teils durch die Natur hineingestellt sind — immer aber mit dem stillschweigenden
Vorbehalte, daß man aus ihr ausscheiden kann, sobald sie ihren eigentlichen
Zweck nicht mehr hinreichend erfüllt. Bei den letzten Worten denken wir an
die Erleichterung der Ehescheidung, wie sie heute durch das Gesetz und die ver¬
änderten wirtschaftlichen Verhältnisse gegeben ist. Dazu kommt die Verengung
des Kreises, innerhalb dessen sich das Familienleben abspielt: die patriarchalische
Zugehörigkeit des Gesindes zu ihm hat gänzlich aufgehört, und ebenso werden
Verwandte nur selten noch von? Familienleben mit umschlossen; und dasselbe
beginnt bereits zum Teil für die erwachsenen Söhne zu gelten. Diese Ver¬
engung aber rückt besonders den Kindern die Gefahr nahe, die Familie lediglich
im Lichte einer ihrem Egoismus dienenden Institution zu erblicken. Wer vollends
ehelos, wer ohne im Hause lebende Kinder verwitwet ist, der ist vom
Schicksal der Atomisierung bedroht. Die Gesamtwirkung aller dieser Wand¬
lungen ist klar. Dem Familienleben wird heute weniger innere und äußere
Arbeit zugewendet, es werden in die Familie weniger Gemütswerte hinein¬
gesteckt als in früheren Zeiten: sie ist eine Stätte geworden, in der mehr als
früher die Güter des Lebens lediglich genossen werden.




Daß ein ähnlicher Wandel sich vielfach mit unserer Geselligkeit vollzogen
hat, sei nur im Vorbeigehen erwähnt. In der vorindustriellen Epoche nahmen
die Bildungsinteressen in ihr einen viel größeren Raum ein als heute. Der
Kreis der Interessen war geringer, die Gemeinsamkeit in ihnen demgemäß
größer, die persönlichen Beziehungen infolge der engeren äußeren Dimensionen
des Lebens wärmer. So ging man in die Gesellschaft mit der Erwartung,
aus ihr etwas mit nach Hause zu nehmen und gab sich demgemäß. Heute
herrscht zumal in der Großstadt überwiegend das entgegengesetzte Verhalten.


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[0365] Schaffen und Genießen in ihrem innersten Gefühlsleben weniger mit ihr zusammen. Die Folgen aller dieser Änderungen ordnen sich dem allgemeinen Wandel unter, von dem hier die Rede ist. Die alte Familie mit ihren: autoritativ gebundenen Wesen hatte einen objektiven Charakter: die Familie bedeutete eine Einheit, die sich über die einzelnen Personen erhob und ihnen gleichsam als ein substanzielles Gebilde gegenüberstand. Die Gefühle der Verehrung, die den Familienhäuptern ent¬ gegengebracht wurden, gingen dabei gleichzeitig über sie hinaus und gewannen ihre stärksten Kräfte eben durch ihren Bezug auf jene überpersönliche Einheit. Denn es liegt in der Natur des Menschen einer solchen sich williger unter¬ zuordnen, sich stärker von ihr gebunden zu sühlen, als es persönlichen Auto¬ ritäten gegenüber der Fall ist. Die stärksten Gefühle verknüpften so den einzelnen mit dieser Einheit, der er zugleich seine besten Kräfte widmete. Heute ist die Familie zu einer von den vielen Organisationen geworden, durch die der Mensch seine wesentlichen Bedürfnisse in planvoller Weise befriedigt. Sie ist eine Ver¬ anstaltung geworden, in die die Menschen teils durch freie Wahl hineintreten, teils durch die Natur hineingestellt sind — immer aber mit dem stillschweigenden Vorbehalte, daß man aus ihr ausscheiden kann, sobald sie ihren eigentlichen Zweck nicht mehr hinreichend erfüllt. Bei den letzten Worten denken wir an die Erleichterung der Ehescheidung, wie sie heute durch das Gesetz und die ver¬ änderten wirtschaftlichen Verhältnisse gegeben ist. Dazu kommt die Verengung des Kreises, innerhalb dessen sich das Familienleben abspielt: die patriarchalische Zugehörigkeit des Gesindes zu ihm hat gänzlich aufgehört, und ebenso werden Verwandte nur selten noch von? Familienleben mit umschlossen; und dasselbe beginnt bereits zum Teil für die erwachsenen Söhne zu gelten. Diese Ver¬ engung aber rückt besonders den Kindern die Gefahr nahe, die Familie lediglich im Lichte einer ihrem Egoismus dienenden Institution zu erblicken. Wer vollends ehelos, wer ohne im Hause lebende Kinder verwitwet ist, der ist vom Schicksal der Atomisierung bedroht. Die Gesamtwirkung aller dieser Wand¬ lungen ist klar. Dem Familienleben wird heute weniger innere und äußere Arbeit zugewendet, es werden in die Familie weniger Gemütswerte hinein¬ gesteckt als in früheren Zeiten: sie ist eine Stätte geworden, in der mehr als früher die Güter des Lebens lediglich genossen werden. Daß ein ähnlicher Wandel sich vielfach mit unserer Geselligkeit vollzogen hat, sei nur im Vorbeigehen erwähnt. In der vorindustriellen Epoche nahmen die Bildungsinteressen in ihr einen viel größeren Raum ein als heute. Der Kreis der Interessen war geringer, die Gemeinsamkeit in ihnen demgemäß größer, die persönlichen Beziehungen infolge der engeren äußeren Dimensionen des Lebens wärmer. So ging man in die Gesellschaft mit der Erwartung, aus ihr etwas mit nach Hause zu nehmen und gab sich demgemäß. Heute herrscht zumal in der Großstadt überwiegend das entgegengesetzte Verhalten.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/365>, abgerufen am 24.08.2024.