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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Schaffen und Genießen

verleugnen und treten dem Menschen wie ein Schicksal mitleidlos und zermalmend
entgegen. Sie werden getragen ebenso von niederen wie von höheren Interessen,
entspringen ebenso banalen wie edlen Motiven. Eben in dieser Vereinigung
von Trivialität, innerem Gehalt und Allmacht liegt ihre Eigentümlichkeit. Ihre
Wirkung besitzt demgemäß neben ihrer schöpferischen Kraft oft einen tragischen
Zug: der einzelne, der sich wegen ihrer schlimmen Wirkungen ihnen widersetzen
will, wird von ihnen zur Isolierung und Verkümmerung verurteilt, indem sie
ihn der Verbindung mit den Kräften der Zeit berauben; so wird der Mensch
genötigt, ihrem Zuge auch da zu folgen, wo er klar erkennt, wie viel an edlen
Werten er ihnen opfern muß. Zwei verschiedene Verhaltungsweisen kennt unsere
Zeit ihnen gegenüber. Die eine davon ist uralt, auf allen anderen Kulturstufen
allein entwickelt und auch bei uns bis vor kurzem ausschließlich vorhanden. Es
ist der Fatalismus: der Mensch, der in seinem Banne steht, läßt sich von den
Wogen der Zeit treiben; und selbst wenn er sich zur Reflektion über ihre
Tendenzen erhebt, nimmt er sie als etwas Unentrinnbares und Unvermeidliches
hin, mag er sie nun als ein Schicksal oder als einen Ausfluß des göttlichen
Willens betrachten. Erst unsere Zeit hat daneben ein Verhalten von völlig
entgegengesetzter Art ausgebildet -- ein Verhalten von durchaus aktivistischem
Charakter. Freilich, das ist klar: mit schönen Worten und schönen Gefühlen,
mit Eigenbrödeleien, mit bloßem Abkehren und Meiden kann man diesen
Gewalten nicht beikommen. Man muß sie vielmehr wie einen übermächtigen
Feind behandeln, den man nur zu besiegen hoffen kann, wenn man ihn ent¬
weder für sich gewinnt oder ihm einen ebenbürtigen Gegner entgegenstellt. Die
von uns gemeinte Verhaltungsweise besteht demgemäß darin, daß man jene
Tendenzen auf ihrem eigenen Boden bekämpft, indem man sie entweder innerlich
umbiegt oder ihnen andere von gleicher Stärke entgegenstellt. Doch bevor wir
auf diese Bekämpfung eingehen, müssen wir zunächst den Siegeszug unserer
Tendenz auf den übrigen Gebieten des modernen Lebens verfolgen.

Zunächst macht sie sich auch in der persönlichen Seite des Familienlebens
bemerkbar in dem Sinne, daß sie Ehe und Familienleben innerlich und äußerlich
lockert. Auch hier handelt es sich wiederum nicht um zufällige Veränderungen.
Ein großer Teil des Wandels entspringt aus der Frauenbewegung, die ihrer¬
seits wieder in den stärksten Kräften der Zeit wurzelt. Diese hat die Frau im
Prinzip ebenbürtig neben den Mann gestellt, während sie sich ihm bisher unter¬
ordnete. Für die Kinder und insbesondere für die erwachsenen Kinder ergeben
sich daraus ähnliche Verschiedenheiten des ganzen Verhaltens. Die Kräfte der
Unterordnung und Autorität, die früher das ganze Familienleben durchdrangen
und beherrschten, haben an Macht verloren. Das alte patriarchalische Gefüge
der Familie wird zunehmend durch ein demokratisches ersetzt. Ferner greift die
wachsende Berufstätigkeit der Frau ein, soweit sie innerhalb der Ehe ausgeübt
wird. Sie wirkt in demselben Sinne wie das Zurücktreten der häuslichen
Produktion: die Frau steckt weniger in die Familie hinein und wächst deswegen


Schaffen und Genießen

verleugnen und treten dem Menschen wie ein Schicksal mitleidlos und zermalmend
entgegen. Sie werden getragen ebenso von niederen wie von höheren Interessen,
entspringen ebenso banalen wie edlen Motiven. Eben in dieser Vereinigung
von Trivialität, innerem Gehalt und Allmacht liegt ihre Eigentümlichkeit. Ihre
Wirkung besitzt demgemäß neben ihrer schöpferischen Kraft oft einen tragischen
Zug: der einzelne, der sich wegen ihrer schlimmen Wirkungen ihnen widersetzen
will, wird von ihnen zur Isolierung und Verkümmerung verurteilt, indem sie
ihn der Verbindung mit den Kräften der Zeit berauben; so wird der Mensch
genötigt, ihrem Zuge auch da zu folgen, wo er klar erkennt, wie viel an edlen
Werten er ihnen opfern muß. Zwei verschiedene Verhaltungsweisen kennt unsere
Zeit ihnen gegenüber. Die eine davon ist uralt, auf allen anderen Kulturstufen
allein entwickelt und auch bei uns bis vor kurzem ausschließlich vorhanden. Es
ist der Fatalismus: der Mensch, der in seinem Banne steht, läßt sich von den
Wogen der Zeit treiben; und selbst wenn er sich zur Reflektion über ihre
Tendenzen erhebt, nimmt er sie als etwas Unentrinnbares und Unvermeidliches
hin, mag er sie nun als ein Schicksal oder als einen Ausfluß des göttlichen
Willens betrachten. Erst unsere Zeit hat daneben ein Verhalten von völlig
entgegengesetzter Art ausgebildet — ein Verhalten von durchaus aktivistischem
Charakter. Freilich, das ist klar: mit schönen Worten und schönen Gefühlen,
mit Eigenbrödeleien, mit bloßem Abkehren und Meiden kann man diesen
Gewalten nicht beikommen. Man muß sie vielmehr wie einen übermächtigen
Feind behandeln, den man nur zu besiegen hoffen kann, wenn man ihn ent¬
weder für sich gewinnt oder ihm einen ebenbürtigen Gegner entgegenstellt. Die
von uns gemeinte Verhaltungsweise besteht demgemäß darin, daß man jene
Tendenzen auf ihrem eigenen Boden bekämpft, indem man sie entweder innerlich
umbiegt oder ihnen andere von gleicher Stärke entgegenstellt. Doch bevor wir
auf diese Bekämpfung eingehen, müssen wir zunächst den Siegeszug unserer
Tendenz auf den übrigen Gebieten des modernen Lebens verfolgen.

Zunächst macht sie sich auch in der persönlichen Seite des Familienlebens
bemerkbar in dem Sinne, daß sie Ehe und Familienleben innerlich und äußerlich
lockert. Auch hier handelt es sich wiederum nicht um zufällige Veränderungen.
Ein großer Teil des Wandels entspringt aus der Frauenbewegung, die ihrer¬
seits wieder in den stärksten Kräften der Zeit wurzelt. Diese hat die Frau im
Prinzip ebenbürtig neben den Mann gestellt, während sie sich ihm bisher unter¬
ordnete. Für die Kinder und insbesondere für die erwachsenen Kinder ergeben
sich daraus ähnliche Verschiedenheiten des ganzen Verhaltens. Die Kräfte der
Unterordnung und Autorität, die früher das ganze Familienleben durchdrangen
und beherrschten, haben an Macht verloren. Das alte patriarchalische Gefüge
der Familie wird zunehmend durch ein demokratisches ersetzt. Ferner greift die
wachsende Berufstätigkeit der Frau ein, soweit sie innerhalb der Ehe ausgeübt
wird. Sie wirkt in demselben Sinne wie das Zurücktreten der häuslichen
Produktion: die Frau steckt weniger in die Familie hinein und wächst deswegen


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[0364] Schaffen und Genießen verleugnen und treten dem Menschen wie ein Schicksal mitleidlos und zermalmend entgegen. Sie werden getragen ebenso von niederen wie von höheren Interessen, entspringen ebenso banalen wie edlen Motiven. Eben in dieser Vereinigung von Trivialität, innerem Gehalt und Allmacht liegt ihre Eigentümlichkeit. Ihre Wirkung besitzt demgemäß neben ihrer schöpferischen Kraft oft einen tragischen Zug: der einzelne, der sich wegen ihrer schlimmen Wirkungen ihnen widersetzen will, wird von ihnen zur Isolierung und Verkümmerung verurteilt, indem sie ihn der Verbindung mit den Kräften der Zeit berauben; so wird der Mensch genötigt, ihrem Zuge auch da zu folgen, wo er klar erkennt, wie viel an edlen Werten er ihnen opfern muß. Zwei verschiedene Verhaltungsweisen kennt unsere Zeit ihnen gegenüber. Die eine davon ist uralt, auf allen anderen Kulturstufen allein entwickelt und auch bei uns bis vor kurzem ausschließlich vorhanden. Es ist der Fatalismus: der Mensch, der in seinem Banne steht, läßt sich von den Wogen der Zeit treiben; und selbst wenn er sich zur Reflektion über ihre Tendenzen erhebt, nimmt er sie als etwas Unentrinnbares und Unvermeidliches hin, mag er sie nun als ein Schicksal oder als einen Ausfluß des göttlichen Willens betrachten. Erst unsere Zeit hat daneben ein Verhalten von völlig entgegengesetzter Art ausgebildet — ein Verhalten von durchaus aktivistischem Charakter. Freilich, das ist klar: mit schönen Worten und schönen Gefühlen, mit Eigenbrödeleien, mit bloßem Abkehren und Meiden kann man diesen Gewalten nicht beikommen. Man muß sie vielmehr wie einen übermächtigen Feind behandeln, den man nur zu besiegen hoffen kann, wenn man ihn ent¬ weder für sich gewinnt oder ihm einen ebenbürtigen Gegner entgegenstellt. Die von uns gemeinte Verhaltungsweise besteht demgemäß darin, daß man jene Tendenzen auf ihrem eigenen Boden bekämpft, indem man sie entweder innerlich umbiegt oder ihnen andere von gleicher Stärke entgegenstellt. Doch bevor wir auf diese Bekämpfung eingehen, müssen wir zunächst den Siegeszug unserer Tendenz auf den übrigen Gebieten des modernen Lebens verfolgen. Zunächst macht sie sich auch in der persönlichen Seite des Familienlebens bemerkbar in dem Sinne, daß sie Ehe und Familienleben innerlich und äußerlich lockert. Auch hier handelt es sich wiederum nicht um zufällige Veränderungen. Ein großer Teil des Wandels entspringt aus der Frauenbewegung, die ihrer¬ seits wieder in den stärksten Kräften der Zeit wurzelt. Diese hat die Frau im Prinzip ebenbürtig neben den Mann gestellt, während sie sich ihm bisher unter¬ ordnete. Für die Kinder und insbesondere für die erwachsenen Kinder ergeben sich daraus ähnliche Verschiedenheiten des ganzen Verhaltens. Die Kräfte der Unterordnung und Autorität, die früher das ganze Familienleben durchdrangen und beherrschten, haben an Macht verloren. Das alte patriarchalische Gefüge der Familie wird zunehmend durch ein demokratisches ersetzt. Ferner greift die wachsende Berufstätigkeit der Frau ein, soweit sie innerhalb der Ehe ausgeübt wird. Sie wirkt in demselben Sinne wie das Zurücktreten der häuslichen Produktion: die Frau steckt weniger in die Familie hinein und wächst deswegen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/364>, abgerufen am 22.07.2024.