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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Schaffen und Genießen

Die Gemeinsamkeit der Interessen geht nicht über die Oberfläche hinaus; man
betritt den Salon mit dem Gedanken, mit Menschen einige Stunden zusammen¬
gekoppelt zu sein, die man vorher niemals gesehen hat und hinterher niemals
wieder sehen wird. Wozu sich also anstrengen? Man beschränkt sich demgemäß
nach Möglichkeit auf die bloße Konsumtion im wörtlichsten Sinne, was auf
deren Qualität eine Rückwirkung auszuüben nicht umhinkann.

Ähnlich ist es um das moderne Reisen bestellt. Wie herrlich einfach ist es
damit heute. Der Bädecker, der treue und unentbehrliche Ratgeber, sorgt für
alles und erspart uns selbst die kleinste Mühe der Selbständigkeit: Ziel und
Route, Hotels, Tagespläne und Gegenstand des Interesses -- alles liefert er
uns. Wer Zeit hat. besieht sich alles in den Museen und Kirchen; wer eilig
ist, beschränkt sich auf das, was durch Sterne ausgezeichnet ist. Man kehrt
dann von dem Genusse heim mit dem erhebenden Bewußtsein, dem der fran¬
zösische Sergeant, von dem Plötz unserer Jugend erzählt, einen klassischen Aus¬
druck verliehen hat: ist das Bild in dem Museum gewesen, so habe ich es auch
gesehen. Immerhin hat dieses Verfahren noch den Übelstand, daß man sich im
Bädecker orientieren und selbständig in die Droschke und Straßenbahn steigen
muß. Auch diesem wird abgeholfen durch die Gesellschaftsreisen, die die
Methoden der geistigen Massenspeisung auf ihren Gipfel erhoben haben. Wie
altväterisch erscheint demgegenüber das Verlangen, man solle Land und Leute
auf Reisen kennen lernen. Man verbringt seine Zeit unterwegs im Schlaf¬
oder Speisewagen und begnügt sich mit dem Gedanken, einige bekannte
Knotenpunkte passiert zu haben; und hinsichtlich der Menschen kehrt man mit
dem befriedigenden Bewußtsein heim, aufs neue erfahren zu haben, daß
es überall auf der Welt Oberkellner, reisende Engländer und deutsche
Regierungsräte gibt.

Wir haben damit den modernen Kunstgenuß bereits gestreift. Die Seg¬
nungen, die eine national abgeschlossene Kultur enthält, sind uns auch auf
diesem Gebiete verloren gegangen. Der Stoff drängt sich unabsehbar aus allen
Zeiten und Ländern heran: er erdrückt jeden, der sich nicht dagegen zu wehren
vermag. Heute schwelgen wir in der japanischen Kunst, morgen in Rembrandt,
ohne uns durch die Tatsache beschwert zu fühlen, daß beide sich in ihren:
innersten Wesen widersprechen. Wir sind längst über jene Einfachheit der Kultur
hinaus, in der die Menschen einander alle so gleich sind, daß der Gehalt des
Kunstwerks sich ohne weiteres der Seele des Genießenden mitteilt. Selbst wenn
wir uns auf unsere eigene Zeit beschränken, bedarf es überall erst besonderer
Bemühungen, um den vollen Gehalt des Kunstwerks in sich erfassen und ver¬
arbeiten zu können. Es bedarf dazu einer allgemeinen Übung im künstlerischen
Hören oder Sehen und einer Vertiefung in die besondere Welt des einzelnen
Künstlers. Damit vergleiche man das Verhalten des Durchschnittspublikums in
einer Galerie: vor jedem Bilde wird an der Hand des Kataloges der Urheber
und die Benennung festgestellt, daran reiht sich vielleicht eine Bemerkung oder


Schaffen und Genießen

Die Gemeinsamkeit der Interessen geht nicht über die Oberfläche hinaus; man
betritt den Salon mit dem Gedanken, mit Menschen einige Stunden zusammen¬
gekoppelt zu sein, die man vorher niemals gesehen hat und hinterher niemals
wieder sehen wird. Wozu sich also anstrengen? Man beschränkt sich demgemäß
nach Möglichkeit auf die bloße Konsumtion im wörtlichsten Sinne, was auf
deren Qualität eine Rückwirkung auszuüben nicht umhinkann.

Ähnlich ist es um das moderne Reisen bestellt. Wie herrlich einfach ist es
damit heute. Der Bädecker, der treue und unentbehrliche Ratgeber, sorgt für
alles und erspart uns selbst die kleinste Mühe der Selbständigkeit: Ziel und
Route, Hotels, Tagespläne und Gegenstand des Interesses — alles liefert er
uns. Wer Zeit hat. besieht sich alles in den Museen und Kirchen; wer eilig
ist, beschränkt sich auf das, was durch Sterne ausgezeichnet ist. Man kehrt
dann von dem Genusse heim mit dem erhebenden Bewußtsein, dem der fran¬
zösische Sergeant, von dem Plötz unserer Jugend erzählt, einen klassischen Aus¬
druck verliehen hat: ist das Bild in dem Museum gewesen, so habe ich es auch
gesehen. Immerhin hat dieses Verfahren noch den Übelstand, daß man sich im
Bädecker orientieren und selbständig in die Droschke und Straßenbahn steigen
muß. Auch diesem wird abgeholfen durch die Gesellschaftsreisen, die die
Methoden der geistigen Massenspeisung auf ihren Gipfel erhoben haben. Wie
altväterisch erscheint demgegenüber das Verlangen, man solle Land und Leute
auf Reisen kennen lernen. Man verbringt seine Zeit unterwegs im Schlaf¬
oder Speisewagen und begnügt sich mit dem Gedanken, einige bekannte
Knotenpunkte passiert zu haben; und hinsichtlich der Menschen kehrt man mit
dem befriedigenden Bewußtsein heim, aufs neue erfahren zu haben, daß
es überall auf der Welt Oberkellner, reisende Engländer und deutsche
Regierungsräte gibt.

Wir haben damit den modernen Kunstgenuß bereits gestreift. Die Seg¬
nungen, die eine national abgeschlossene Kultur enthält, sind uns auch auf
diesem Gebiete verloren gegangen. Der Stoff drängt sich unabsehbar aus allen
Zeiten und Ländern heran: er erdrückt jeden, der sich nicht dagegen zu wehren
vermag. Heute schwelgen wir in der japanischen Kunst, morgen in Rembrandt,
ohne uns durch die Tatsache beschwert zu fühlen, daß beide sich in ihren:
innersten Wesen widersprechen. Wir sind längst über jene Einfachheit der Kultur
hinaus, in der die Menschen einander alle so gleich sind, daß der Gehalt des
Kunstwerks sich ohne weiteres der Seele des Genießenden mitteilt. Selbst wenn
wir uns auf unsere eigene Zeit beschränken, bedarf es überall erst besonderer
Bemühungen, um den vollen Gehalt des Kunstwerks in sich erfassen und ver¬
arbeiten zu können. Es bedarf dazu einer allgemeinen Übung im künstlerischen
Hören oder Sehen und einer Vertiefung in die besondere Welt des einzelnen
Künstlers. Damit vergleiche man das Verhalten des Durchschnittspublikums in
einer Galerie: vor jedem Bilde wird an der Hand des Kataloges der Urheber
und die Benennung festgestellt, daran reiht sich vielleicht eine Bemerkung oder


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[0366] Schaffen und Genießen Die Gemeinsamkeit der Interessen geht nicht über die Oberfläche hinaus; man betritt den Salon mit dem Gedanken, mit Menschen einige Stunden zusammen¬ gekoppelt zu sein, die man vorher niemals gesehen hat und hinterher niemals wieder sehen wird. Wozu sich also anstrengen? Man beschränkt sich demgemäß nach Möglichkeit auf die bloße Konsumtion im wörtlichsten Sinne, was auf deren Qualität eine Rückwirkung auszuüben nicht umhinkann. Ähnlich ist es um das moderne Reisen bestellt. Wie herrlich einfach ist es damit heute. Der Bädecker, der treue und unentbehrliche Ratgeber, sorgt für alles und erspart uns selbst die kleinste Mühe der Selbständigkeit: Ziel und Route, Hotels, Tagespläne und Gegenstand des Interesses — alles liefert er uns. Wer Zeit hat. besieht sich alles in den Museen und Kirchen; wer eilig ist, beschränkt sich auf das, was durch Sterne ausgezeichnet ist. Man kehrt dann von dem Genusse heim mit dem erhebenden Bewußtsein, dem der fran¬ zösische Sergeant, von dem Plötz unserer Jugend erzählt, einen klassischen Aus¬ druck verliehen hat: ist das Bild in dem Museum gewesen, so habe ich es auch gesehen. Immerhin hat dieses Verfahren noch den Übelstand, daß man sich im Bädecker orientieren und selbständig in die Droschke und Straßenbahn steigen muß. Auch diesem wird abgeholfen durch die Gesellschaftsreisen, die die Methoden der geistigen Massenspeisung auf ihren Gipfel erhoben haben. Wie altväterisch erscheint demgegenüber das Verlangen, man solle Land und Leute auf Reisen kennen lernen. Man verbringt seine Zeit unterwegs im Schlaf¬ oder Speisewagen und begnügt sich mit dem Gedanken, einige bekannte Knotenpunkte passiert zu haben; und hinsichtlich der Menschen kehrt man mit dem befriedigenden Bewußtsein heim, aufs neue erfahren zu haben, daß es überall auf der Welt Oberkellner, reisende Engländer und deutsche Regierungsräte gibt. Wir haben damit den modernen Kunstgenuß bereits gestreift. Die Seg¬ nungen, die eine national abgeschlossene Kultur enthält, sind uns auch auf diesem Gebiete verloren gegangen. Der Stoff drängt sich unabsehbar aus allen Zeiten und Ländern heran: er erdrückt jeden, der sich nicht dagegen zu wehren vermag. Heute schwelgen wir in der japanischen Kunst, morgen in Rembrandt, ohne uns durch die Tatsache beschwert zu fühlen, daß beide sich in ihren: innersten Wesen widersprechen. Wir sind längst über jene Einfachheit der Kultur hinaus, in der die Menschen einander alle so gleich sind, daß der Gehalt des Kunstwerks sich ohne weiteres der Seele des Genießenden mitteilt. Selbst wenn wir uns auf unsere eigene Zeit beschränken, bedarf es überall erst besonderer Bemühungen, um den vollen Gehalt des Kunstwerks in sich erfassen und ver¬ arbeiten zu können. Es bedarf dazu einer allgemeinen Übung im künstlerischen Hören oder Sehen und einer Vertiefung in die besondere Welt des einzelnen Künstlers. Damit vergleiche man das Verhalten des Durchschnittspublikums in einer Galerie: vor jedem Bilde wird an der Hand des Kataloges der Urheber und die Benennung festgestellt, daran reiht sich vielleicht eine Bemerkung oder

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/366>, abgerufen am 24.08.2024.