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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Schaffen und Genießen

Götze der Gegenwart. Aber auch das ist wiederum kein Zufall. Eine Zeit,
die so intensiv arbeitet und sich so sehr anstrengt wie die unsrige, bedarf ihrer
in besonders hohem Maße. Wer z. B. viel auf Reisen ist und dabei fort¬
während anstrengende und verantwortliche Arbeiten zu erledigen hat, für den
ist ein gewisses Maß von Bequemlichkeit auf der Eisenbahn von größter
Wichtigkeit. Ebenso kann die Anbringung einer neuen Vorrichtung, die eine
halbe Minute Zeit zu sparen ermöglicht, für eine Fabrik, in der eben diese
Vorrichtung zu immer wiederholten Malen täglich von einer großen Menschen¬
menge benutzt werden muß, eine Lebensfrage sein. Für das Haus freilich
würde eine derartige eine minimale Zeitersparnis gewährende Neuerung, wie sie
etwa durch die Einführung eines Selbstzünders bei Gasbeleuchtung oder durch
diejenige des ebenso bequem zu bedienenden elektrischen Lichts dargestellt
wird, keine erhebliche zeitökonomische Wichtigkeit besitzen. Aber es liegt in der
Natur unserer Gefühle, sich durch derartige Analogien in die Irre führen zu
lassen und von berechtigten auf unberechtigte Fälle überzustrahlen. Und so
schätzen wir tatsächlich manche Neuerung und nehmen sie an, weil sie uns eine
gewisse Bequemlichkeit gewährt, die in Wirklichkeit für die Ökonomie unserer
Kraft und Zeit ohne jede Bedeutung ist und lediglich eine gewisse Erschlaffung
und Verweichlichung begünstigt. In demselben Sinne wirkt auch die Verwandt¬
schaft der Bequemlichkeit mit dem allgemeineren Begriff des Komforts: in:
eigentlichen Sinne verstehen wir unter diesem alle Einrichtungen, die für die
Gesundheit nützlich oder sür unsere Zeit, Kraft oder unser Geld ökonomisch wichtig
sind; tatsächlich wenden wir das Wort jedoch auch auf viele ähnliche Fälle an,
in denen von einem derartigen Nutzen nicht die Rede fein kann; und die
Bewertung, die die Vorstellung des Komforts im eigentlichen Sinne mit Recht
von uns erfährt, kommt dann auch jenen anderen Neuerungen zugute, die sich
so unter ihrem Deckmantel bei uns einschleichen. Ebenso wird der in Rede
stehende Wandel des häuslichen Lebens durch die absteigende Entwicklung unseres
Dienstbotenwesens begünstigt. Das Gesindewesen ist auf dem Boden patriarcha¬
lischer Verhältnisse entstanden und kann nur auf ihm gedeihen. Neue Formen,
wie sie von den veränderten Verhältnissen gefordert werden, hat die häusliche
Wirtschaft bis jetzt nicht zu entwickeln vermocht. Daher wohl auch der Rückgang,
den die Anzahl der dienenden Personen nach der Statistik in den letzten Jahren
trotz des Wachstums der Bevölkerung und des Wohlstandes erfahren hat. Kein
Wunder, wenn unter solchen Umständen jede Entlastung des Haushaltes sowohl
von der Hausfrau wie von den Dienstboten geschätzt wird.




Es ist etwas Wunderbares um diese Tendenzen, wie wir sie hier an einem
Beispiele kennen lernen. Einen unheimlichen Zug gewinnen sie durch die Fremd¬
artigkeit, in der sie dem Menschen gegenüberstehen: obwohl von ihm geschaffen,
gleichsam Fleisch von seinem Fleisch, scheinen sie doch ihren Ursprung völlig zu


Schaffen und Genießen

Götze der Gegenwart. Aber auch das ist wiederum kein Zufall. Eine Zeit,
die so intensiv arbeitet und sich so sehr anstrengt wie die unsrige, bedarf ihrer
in besonders hohem Maße. Wer z. B. viel auf Reisen ist und dabei fort¬
während anstrengende und verantwortliche Arbeiten zu erledigen hat, für den
ist ein gewisses Maß von Bequemlichkeit auf der Eisenbahn von größter
Wichtigkeit. Ebenso kann die Anbringung einer neuen Vorrichtung, die eine
halbe Minute Zeit zu sparen ermöglicht, für eine Fabrik, in der eben diese
Vorrichtung zu immer wiederholten Malen täglich von einer großen Menschen¬
menge benutzt werden muß, eine Lebensfrage sein. Für das Haus freilich
würde eine derartige eine minimale Zeitersparnis gewährende Neuerung, wie sie
etwa durch die Einführung eines Selbstzünders bei Gasbeleuchtung oder durch
diejenige des ebenso bequem zu bedienenden elektrischen Lichts dargestellt
wird, keine erhebliche zeitökonomische Wichtigkeit besitzen. Aber es liegt in der
Natur unserer Gefühle, sich durch derartige Analogien in die Irre führen zu
lassen und von berechtigten auf unberechtigte Fälle überzustrahlen. Und so
schätzen wir tatsächlich manche Neuerung und nehmen sie an, weil sie uns eine
gewisse Bequemlichkeit gewährt, die in Wirklichkeit für die Ökonomie unserer
Kraft und Zeit ohne jede Bedeutung ist und lediglich eine gewisse Erschlaffung
und Verweichlichung begünstigt. In demselben Sinne wirkt auch die Verwandt¬
schaft der Bequemlichkeit mit dem allgemeineren Begriff des Komforts: in:
eigentlichen Sinne verstehen wir unter diesem alle Einrichtungen, die für die
Gesundheit nützlich oder sür unsere Zeit, Kraft oder unser Geld ökonomisch wichtig
sind; tatsächlich wenden wir das Wort jedoch auch auf viele ähnliche Fälle an,
in denen von einem derartigen Nutzen nicht die Rede fein kann; und die
Bewertung, die die Vorstellung des Komforts im eigentlichen Sinne mit Recht
von uns erfährt, kommt dann auch jenen anderen Neuerungen zugute, die sich
so unter ihrem Deckmantel bei uns einschleichen. Ebenso wird der in Rede
stehende Wandel des häuslichen Lebens durch die absteigende Entwicklung unseres
Dienstbotenwesens begünstigt. Das Gesindewesen ist auf dem Boden patriarcha¬
lischer Verhältnisse entstanden und kann nur auf ihm gedeihen. Neue Formen,
wie sie von den veränderten Verhältnissen gefordert werden, hat die häusliche
Wirtschaft bis jetzt nicht zu entwickeln vermocht. Daher wohl auch der Rückgang,
den die Anzahl der dienenden Personen nach der Statistik in den letzten Jahren
trotz des Wachstums der Bevölkerung und des Wohlstandes erfahren hat. Kein
Wunder, wenn unter solchen Umständen jede Entlastung des Haushaltes sowohl
von der Hausfrau wie von den Dienstboten geschätzt wird.




Es ist etwas Wunderbares um diese Tendenzen, wie wir sie hier an einem
Beispiele kennen lernen. Einen unheimlichen Zug gewinnen sie durch die Fremd¬
artigkeit, in der sie dem Menschen gegenüberstehen: obwohl von ihm geschaffen,
gleichsam Fleisch von seinem Fleisch, scheinen sie doch ihren Ursprung völlig zu


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[0363] Schaffen und Genießen Götze der Gegenwart. Aber auch das ist wiederum kein Zufall. Eine Zeit, die so intensiv arbeitet und sich so sehr anstrengt wie die unsrige, bedarf ihrer in besonders hohem Maße. Wer z. B. viel auf Reisen ist und dabei fort¬ während anstrengende und verantwortliche Arbeiten zu erledigen hat, für den ist ein gewisses Maß von Bequemlichkeit auf der Eisenbahn von größter Wichtigkeit. Ebenso kann die Anbringung einer neuen Vorrichtung, die eine halbe Minute Zeit zu sparen ermöglicht, für eine Fabrik, in der eben diese Vorrichtung zu immer wiederholten Malen täglich von einer großen Menschen¬ menge benutzt werden muß, eine Lebensfrage sein. Für das Haus freilich würde eine derartige eine minimale Zeitersparnis gewährende Neuerung, wie sie etwa durch die Einführung eines Selbstzünders bei Gasbeleuchtung oder durch diejenige des ebenso bequem zu bedienenden elektrischen Lichts dargestellt wird, keine erhebliche zeitökonomische Wichtigkeit besitzen. Aber es liegt in der Natur unserer Gefühle, sich durch derartige Analogien in die Irre führen zu lassen und von berechtigten auf unberechtigte Fälle überzustrahlen. Und so schätzen wir tatsächlich manche Neuerung und nehmen sie an, weil sie uns eine gewisse Bequemlichkeit gewährt, die in Wirklichkeit für die Ökonomie unserer Kraft und Zeit ohne jede Bedeutung ist und lediglich eine gewisse Erschlaffung und Verweichlichung begünstigt. In demselben Sinne wirkt auch die Verwandt¬ schaft der Bequemlichkeit mit dem allgemeineren Begriff des Komforts: in: eigentlichen Sinne verstehen wir unter diesem alle Einrichtungen, die für die Gesundheit nützlich oder sür unsere Zeit, Kraft oder unser Geld ökonomisch wichtig sind; tatsächlich wenden wir das Wort jedoch auch auf viele ähnliche Fälle an, in denen von einem derartigen Nutzen nicht die Rede fein kann; und die Bewertung, die die Vorstellung des Komforts im eigentlichen Sinne mit Recht von uns erfährt, kommt dann auch jenen anderen Neuerungen zugute, die sich so unter ihrem Deckmantel bei uns einschleichen. Ebenso wird der in Rede stehende Wandel des häuslichen Lebens durch die absteigende Entwicklung unseres Dienstbotenwesens begünstigt. Das Gesindewesen ist auf dem Boden patriarcha¬ lischer Verhältnisse entstanden und kann nur auf ihm gedeihen. Neue Formen, wie sie von den veränderten Verhältnissen gefordert werden, hat die häusliche Wirtschaft bis jetzt nicht zu entwickeln vermocht. Daher wohl auch der Rückgang, den die Anzahl der dienenden Personen nach der Statistik in den letzten Jahren trotz des Wachstums der Bevölkerung und des Wohlstandes erfahren hat. Kein Wunder, wenn unter solchen Umständen jede Entlastung des Haushaltes sowohl von der Hausfrau wie von den Dienstboten geschätzt wird. Es ist etwas Wunderbares um diese Tendenzen, wie wir sie hier an einem Beispiele kennen lernen. Einen unheimlichen Zug gewinnen sie durch die Fremd¬ artigkeit, in der sie dem Menschen gegenüberstehen: obwohl von ihm geschaffen, gleichsam Fleisch von seinem Fleisch, scheinen sie doch ihren Ursprung völlig zu

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/363>, abgerufen am 03.07.2024.