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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Die Kolonisation Sibiriens

wirtschaftlicher Fortschritte, als Verdienstftellen für den Überschuß bäuerlicher
Arbeitskräfte, als Geburtsstätten landwirtschaftlicher Industrien. Das Privat¬
eigentum endlich läßt die sibirischen Städte zur Entwicklung kommen; viele aus
Dörfern emporgewachsene stadtähnliche Ansiedelungen können nur deshalb nicht
zu wirklichen Städten werden, weil die Gemeindelandverfassung des ursprüng¬
lichen Dorfes jeden Bodenerwerb ausschließt. Stolnpin weiß, daß ein Land,
auch ein rein agrarisches, ohne Städte nicht gedeihen kann; er will in Zukunft
nicht nur Bauern, sondern auch Händler, Handwerker und Fabrikarbeiter nach
Sibirien ziehen.

Die Übertragung des Landes zu vollem Eigentum soll aber zugleich ermög¬
lichen, daß der Staat Land an die Übersiedler verkauft, wo die Aussichten zum
Fortkommen sicher sind und daher der Zustrom von Menschen unerwünscht groß
ist. Kostenloses Land und Beihilfen zur Einrichtung sollen fortan nur da
gewährt werden, wo ungeklärte und schwierige Verhältnisse des Übersiedlers
harren, vor allem in: Urwald und im fernen Osten; dann wird die Masse der
Übersiedler nicht mehr, wie jetzt, allein in die westsibirischen Ebenen drängen.

Eine der wichtigsten Maßnahmen sieht die Denkschrift ferner in der syste¬
matischen Belehrung der Bevölkerung in den Fortschritten landwirtschaftlicher
Technik, in der Verwendung von Maschinen, den Methoden der "trockenen
Landwirtschaft" und der Wassergewinnung. Diese Belehrung erscheint nicht nur
dringend nötig für die Übersiedler, die sich ungewohnten Verhältnissen gegenüber-
sehen, sondern auch für die Alteingesessenen. Für diese letzteren drängt sich der
Prozeß des Übergangs vom wilden Raubbau zu ordnungsgemäßem Fruchtwechsel,
der sich sonst erst in ein bis zwei Generationen vollzogen haben würde, unter
dem Druck der Übersiedlung auf eine kurze Spanne Zeit zusammen, und die
Leute sind oft nicht imstande, sich ohne Anleitung in die neuen Betriebsweisen
hineinzufinden. Ähnlich liegt die Sache für Zehntausende von Kirgisen, die die
Beschneidung und oft fast völlige Wegnahme ihres Weidelandes zwingt, zum
seßhaften Leben und zum Ackerbau überzugehen. Bei der Bedeutung der
sibirischen Viehzucht und der Seuchengefahr, die in Asien groß ist, muß die
Verbesserung der Viehrassen mit einer starken Ausdehnung des Veterinärwesens
Hand in Hand gehen.

Endlich fordert die Denkschrift den Ausbau von Eisenbahnen und Schiffahrts¬
straßen. Mag sie sich dabei auch einem Trugschluß hingeben in ihrer
Erwartung einer großen Getreideausfuhr nach Westeuropa und damit einer
baldigen Rentabilität der neugeplanten Bahnen, so wird zweifellos die Festigung
der Kolonisation durch die südsibirische Magistrate und die geplanten Anfänge
einer Verbindung der Sibirischen Bahn nach Russisch Zentralasien hin gerade im
südlichen Sibirien große Fortschritte machen und Südsibirien wie Zentralasten
immer mehr zu einer russischen Provinz wandeln: ein von Russen besiedeltes
Zentralasien als Etappe auf dem Weg Rußlands zum Indischen Ozean.




Die Kolonisation Sibiriens

wirtschaftlicher Fortschritte, als Verdienstftellen für den Überschuß bäuerlicher
Arbeitskräfte, als Geburtsstätten landwirtschaftlicher Industrien. Das Privat¬
eigentum endlich läßt die sibirischen Städte zur Entwicklung kommen; viele aus
Dörfern emporgewachsene stadtähnliche Ansiedelungen können nur deshalb nicht
zu wirklichen Städten werden, weil die Gemeindelandverfassung des ursprüng¬
lichen Dorfes jeden Bodenerwerb ausschließt. Stolnpin weiß, daß ein Land,
auch ein rein agrarisches, ohne Städte nicht gedeihen kann; er will in Zukunft
nicht nur Bauern, sondern auch Händler, Handwerker und Fabrikarbeiter nach
Sibirien ziehen.

Die Übertragung des Landes zu vollem Eigentum soll aber zugleich ermög¬
lichen, daß der Staat Land an die Übersiedler verkauft, wo die Aussichten zum
Fortkommen sicher sind und daher der Zustrom von Menschen unerwünscht groß
ist. Kostenloses Land und Beihilfen zur Einrichtung sollen fortan nur da
gewährt werden, wo ungeklärte und schwierige Verhältnisse des Übersiedlers
harren, vor allem in: Urwald und im fernen Osten; dann wird die Masse der
Übersiedler nicht mehr, wie jetzt, allein in die westsibirischen Ebenen drängen.

Eine der wichtigsten Maßnahmen sieht die Denkschrift ferner in der syste¬
matischen Belehrung der Bevölkerung in den Fortschritten landwirtschaftlicher
Technik, in der Verwendung von Maschinen, den Methoden der „trockenen
Landwirtschaft" und der Wassergewinnung. Diese Belehrung erscheint nicht nur
dringend nötig für die Übersiedler, die sich ungewohnten Verhältnissen gegenüber-
sehen, sondern auch für die Alteingesessenen. Für diese letzteren drängt sich der
Prozeß des Übergangs vom wilden Raubbau zu ordnungsgemäßem Fruchtwechsel,
der sich sonst erst in ein bis zwei Generationen vollzogen haben würde, unter
dem Druck der Übersiedlung auf eine kurze Spanne Zeit zusammen, und die
Leute sind oft nicht imstande, sich ohne Anleitung in die neuen Betriebsweisen
hineinzufinden. Ähnlich liegt die Sache für Zehntausende von Kirgisen, die die
Beschneidung und oft fast völlige Wegnahme ihres Weidelandes zwingt, zum
seßhaften Leben und zum Ackerbau überzugehen. Bei der Bedeutung der
sibirischen Viehzucht und der Seuchengefahr, die in Asien groß ist, muß die
Verbesserung der Viehrassen mit einer starken Ausdehnung des Veterinärwesens
Hand in Hand gehen.

Endlich fordert die Denkschrift den Ausbau von Eisenbahnen und Schiffahrts¬
straßen. Mag sie sich dabei auch einem Trugschluß hingeben in ihrer
Erwartung einer großen Getreideausfuhr nach Westeuropa und damit einer
baldigen Rentabilität der neugeplanten Bahnen, so wird zweifellos die Festigung
der Kolonisation durch die südsibirische Magistrate und die geplanten Anfänge
einer Verbindung der Sibirischen Bahn nach Russisch Zentralasien hin gerade im
südlichen Sibirien große Fortschritte machen und Südsibirien wie Zentralasten
immer mehr zu einer russischen Provinz wandeln: ein von Russen besiedeltes
Zentralasien als Etappe auf dem Weg Rußlands zum Indischen Ozean.




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[0036] Die Kolonisation Sibiriens wirtschaftlicher Fortschritte, als Verdienstftellen für den Überschuß bäuerlicher Arbeitskräfte, als Geburtsstätten landwirtschaftlicher Industrien. Das Privat¬ eigentum endlich läßt die sibirischen Städte zur Entwicklung kommen; viele aus Dörfern emporgewachsene stadtähnliche Ansiedelungen können nur deshalb nicht zu wirklichen Städten werden, weil die Gemeindelandverfassung des ursprüng¬ lichen Dorfes jeden Bodenerwerb ausschließt. Stolnpin weiß, daß ein Land, auch ein rein agrarisches, ohne Städte nicht gedeihen kann; er will in Zukunft nicht nur Bauern, sondern auch Händler, Handwerker und Fabrikarbeiter nach Sibirien ziehen. Die Übertragung des Landes zu vollem Eigentum soll aber zugleich ermög¬ lichen, daß der Staat Land an die Übersiedler verkauft, wo die Aussichten zum Fortkommen sicher sind und daher der Zustrom von Menschen unerwünscht groß ist. Kostenloses Land und Beihilfen zur Einrichtung sollen fortan nur da gewährt werden, wo ungeklärte und schwierige Verhältnisse des Übersiedlers harren, vor allem in: Urwald und im fernen Osten; dann wird die Masse der Übersiedler nicht mehr, wie jetzt, allein in die westsibirischen Ebenen drängen. Eine der wichtigsten Maßnahmen sieht die Denkschrift ferner in der syste¬ matischen Belehrung der Bevölkerung in den Fortschritten landwirtschaftlicher Technik, in der Verwendung von Maschinen, den Methoden der „trockenen Landwirtschaft" und der Wassergewinnung. Diese Belehrung erscheint nicht nur dringend nötig für die Übersiedler, die sich ungewohnten Verhältnissen gegenüber- sehen, sondern auch für die Alteingesessenen. Für diese letzteren drängt sich der Prozeß des Übergangs vom wilden Raubbau zu ordnungsgemäßem Fruchtwechsel, der sich sonst erst in ein bis zwei Generationen vollzogen haben würde, unter dem Druck der Übersiedlung auf eine kurze Spanne Zeit zusammen, und die Leute sind oft nicht imstande, sich ohne Anleitung in die neuen Betriebsweisen hineinzufinden. Ähnlich liegt die Sache für Zehntausende von Kirgisen, die die Beschneidung und oft fast völlige Wegnahme ihres Weidelandes zwingt, zum seßhaften Leben und zum Ackerbau überzugehen. Bei der Bedeutung der sibirischen Viehzucht und der Seuchengefahr, die in Asien groß ist, muß die Verbesserung der Viehrassen mit einer starken Ausdehnung des Veterinärwesens Hand in Hand gehen. Endlich fordert die Denkschrift den Ausbau von Eisenbahnen und Schiffahrts¬ straßen. Mag sie sich dabei auch einem Trugschluß hingeben in ihrer Erwartung einer großen Getreideausfuhr nach Westeuropa und damit einer baldigen Rentabilität der neugeplanten Bahnen, so wird zweifellos die Festigung der Kolonisation durch die südsibirische Magistrate und die geplanten Anfänge einer Verbindung der Sibirischen Bahn nach Russisch Zentralasien hin gerade im südlichen Sibirien große Fortschritte machen und Südsibirien wie Zentralasten immer mehr zu einer russischen Provinz wandeln: ein von Russen besiedeltes Zentralasien als Etappe auf dem Weg Rußlands zum Indischen Ozean.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/36>, abgerufen am 01.07.2024.