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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Die Kolonisation Sibiriens

Sibirien hat also in mäßigen Erntejahren gar keinen, in guten einen kleinen
Getreideüberschuß. Für den Erfolg der sibirischen Kolonisation ist das übrigens
nicht so wichtig, wie Stolypin zu meinen scheint. Solange Sibirien seine Be¬
völkerung selbst nährt, ist die Kolonisation berechtigt; den Bargeldbedarf kann
das Land, wie heute so auch später, aus Viehzucht und Bergbau ziehen. Butter,
Fleisch, Häute, Wolle und Bergbauprodukte werden stets die wichtigsten Geld¬
quellen Sibiriens sein.

Stolypin aber will an einen großen Getreideüberschuß glauben, einmal
weil die Einwanderer, die die westsibirische Ebene, vor allem die Kirgisensteppe,
füllen sollen, aus den reinen Getreidegebieten Rußlands stammend, ihre Meinung
über die Brauchbarkeit des neuen Landes nur nach den Getreideernten bilden,
und dann, weil die Getreidefrachten den Bau der südstbirischen Magistrate recht¬
fertigen sollen, die 1000 Kilometer südlich der jetzigen Bahn beginnend und die
Kirgisensteppe und das nördliche Altaivorland durchlaufend, bei Rooo-Nikolajewsk
oder Atschinsk sich mit der jetzigen sibirischen Bahn vereinigen soll.

Die Kolonisation soll vorwärts schreiten und darum muß der Getreidebau
allenthalben möglich sein. Man bedarf, nach der Meinung der Denkschrift, nur
einer Zollschranke gegen mandschurisches Getreide und auch im fernen Osten,
im Amur- und Küstengebiet, wird der russische Getreidebau aufblühen und damit
die Massen der russischen Kolonisten anziehen, die die russische Regierung so
sehnlichst herbeiwünscht als Gegengewicht gegen die "Ackerbauameisenhaufen", mit
denen China neuerdings seine Grenzzonen besiedelt.

Ist so bei den Anschauungen Stolypins über die Kolonisation Sibiriens
der Wille oft der Vater der Gedanken, so tritt Stolypin an alle Einzelfragen
mit vorurteilslosem Blick heran: er und Kriwoschein prüfen und sichten, unbeirrt
von Schlagwarten, die auch in der sibirischen Kolonisation eine so große Rolle
spielen, sie wissen das Allgemeine von dem Einzelnen, das Unvermeidliche
von dem Vermeidlichen, das Vorübergehende von dem Dauernden zu scheiden
und so Wege zu finden, zu bessern und zu helfen. Fast alle Grundfragen einer
Massenkolonisation werden in der Denkschrift eingehend besprochen, natürlich vom
russisch-sibirischen Standpunkt aus, aber immer anregend für das Verständnis
aller Kolonisation überhaupt.

Das wichtigste Ergebnis der Untersuchungen ist, daß auch für Sibirien
mit der alten russischen Agrarverfassung gebrochen werden muß. Volles, unein¬
geschränktes Privateigentum ist das Mittel zu dichterer Besiedelung, zu ver¬
besserter Technik des Landbaus. Derselbe Alteingesessene, der sich gegen die
Übersiedelung stemmt, wenn ihm ein Stück seines bisherigen Landüberflusses
genommen werden soll, er wird sich selber bemühen, neue Zuwanderer heran
zuziehen, und er wird sich auf seinem alten Sitz mit größerem Fleiß und
intensiverem Betrieb einrichten, sobald er seinen Landüberfluß verkaufen kann.
Das Privateigentum an Land gestattet auch die jetzt in Sibirien so gut wie
unmögliche Bildung von Großgutswirtschaften, unentbehrlich als Vorbilder land-


Die Kolonisation Sibiriens

Sibirien hat also in mäßigen Erntejahren gar keinen, in guten einen kleinen
Getreideüberschuß. Für den Erfolg der sibirischen Kolonisation ist das übrigens
nicht so wichtig, wie Stolypin zu meinen scheint. Solange Sibirien seine Be¬
völkerung selbst nährt, ist die Kolonisation berechtigt; den Bargeldbedarf kann
das Land, wie heute so auch später, aus Viehzucht und Bergbau ziehen. Butter,
Fleisch, Häute, Wolle und Bergbauprodukte werden stets die wichtigsten Geld¬
quellen Sibiriens sein.

Stolypin aber will an einen großen Getreideüberschuß glauben, einmal
weil die Einwanderer, die die westsibirische Ebene, vor allem die Kirgisensteppe,
füllen sollen, aus den reinen Getreidegebieten Rußlands stammend, ihre Meinung
über die Brauchbarkeit des neuen Landes nur nach den Getreideernten bilden,
und dann, weil die Getreidefrachten den Bau der südstbirischen Magistrate recht¬
fertigen sollen, die 1000 Kilometer südlich der jetzigen Bahn beginnend und die
Kirgisensteppe und das nördliche Altaivorland durchlaufend, bei Rooo-Nikolajewsk
oder Atschinsk sich mit der jetzigen sibirischen Bahn vereinigen soll.

Die Kolonisation soll vorwärts schreiten und darum muß der Getreidebau
allenthalben möglich sein. Man bedarf, nach der Meinung der Denkschrift, nur
einer Zollschranke gegen mandschurisches Getreide und auch im fernen Osten,
im Amur- und Küstengebiet, wird der russische Getreidebau aufblühen und damit
die Massen der russischen Kolonisten anziehen, die die russische Regierung so
sehnlichst herbeiwünscht als Gegengewicht gegen die „Ackerbauameisenhaufen", mit
denen China neuerdings seine Grenzzonen besiedelt.

Ist so bei den Anschauungen Stolypins über die Kolonisation Sibiriens
der Wille oft der Vater der Gedanken, so tritt Stolypin an alle Einzelfragen
mit vorurteilslosem Blick heran: er und Kriwoschein prüfen und sichten, unbeirrt
von Schlagwarten, die auch in der sibirischen Kolonisation eine so große Rolle
spielen, sie wissen das Allgemeine von dem Einzelnen, das Unvermeidliche
von dem Vermeidlichen, das Vorübergehende von dem Dauernden zu scheiden
und so Wege zu finden, zu bessern und zu helfen. Fast alle Grundfragen einer
Massenkolonisation werden in der Denkschrift eingehend besprochen, natürlich vom
russisch-sibirischen Standpunkt aus, aber immer anregend für das Verständnis
aller Kolonisation überhaupt.

Das wichtigste Ergebnis der Untersuchungen ist, daß auch für Sibirien
mit der alten russischen Agrarverfassung gebrochen werden muß. Volles, unein¬
geschränktes Privateigentum ist das Mittel zu dichterer Besiedelung, zu ver¬
besserter Technik des Landbaus. Derselbe Alteingesessene, der sich gegen die
Übersiedelung stemmt, wenn ihm ein Stück seines bisherigen Landüberflusses
genommen werden soll, er wird sich selber bemühen, neue Zuwanderer heran
zuziehen, und er wird sich auf seinem alten Sitz mit größerem Fleiß und
intensiverem Betrieb einrichten, sobald er seinen Landüberfluß verkaufen kann.
Das Privateigentum an Land gestattet auch die jetzt in Sibirien so gut wie
unmögliche Bildung von Großgutswirtschaften, unentbehrlich als Vorbilder land-


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[0035] Die Kolonisation Sibiriens Sibirien hat also in mäßigen Erntejahren gar keinen, in guten einen kleinen Getreideüberschuß. Für den Erfolg der sibirischen Kolonisation ist das übrigens nicht so wichtig, wie Stolypin zu meinen scheint. Solange Sibirien seine Be¬ völkerung selbst nährt, ist die Kolonisation berechtigt; den Bargeldbedarf kann das Land, wie heute so auch später, aus Viehzucht und Bergbau ziehen. Butter, Fleisch, Häute, Wolle und Bergbauprodukte werden stets die wichtigsten Geld¬ quellen Sibiriens sein. Stolypin aber will an einen großen Getreideüberschuß glauben, einmal weil die Einwanderer, die die westsibirische Ebene, vor allem die Kirgisensteppe, füllen sollen, aus den reinen Getreidegebieten Rußlands stammend, ihre Meinung über die Brauchbarkeit des neuen Landes nur nach den Getreideernten bilden, und dann, weil die Getreidefrachten den Bau der südstbirischen Magistrate recht¬ fertigen sollen, die 1000 Kilometer südlich der jetzigen Bahn beginnend und die Kirgisensteppe und das nördliche Altaivorland durchlaufend, bei Rooo-Nikolajewsk oder Atschinsk sich mit der jetzigen sibirischen Bahn vereinigen soll. Die Kolonisation soll vorwärts schreiten und darum muß der Getreidebau allenthalben möglich sein. Man bedarf, nach der Meinung der Denkschrift, nur einer Zollschranke gegen mandschurisches Getreide und auch im fernen Osten, im Amur- und Küstengebiet, wird der russische Getreidebau aufblühen und damit die Massen der russischen Kolonisten anziehen, die die russische Regierung so sehnlichst herbeiwünscht als Gegengewicht gegen die „Ackerbauameisenhaufen", mit denen China neuerdings seine Grenzzonen besiedelt. Ist so bei den Anschauungen Stolypins über die Kolonisation Sibiriens der Wille oft der Vater der Gedanken, so tritt Stolypin an alle Einzelfragen mit vorurteilslosem Blick heran: er und Kriwoschein prüfen und sichten, unbeirrt von Schlagwarten, die auch in der sibirischen Kolonisation eine so große Rolle spielen, sie wissen das Allgemeine von dem Einzelnen, das Unvermeidliche von dem Vermeidlichen, das Vorübergehende von dem Dauernden zu scheiden und so Wege zu finden, zu bessern und zu helfen. Fast alle Grundfragen einer Massenkolonisation werden in der Denkschrift eingehend besprochen, natürlich vom russisch-sibirischen Standpunkt aus, aber immer anregend für das Verständnis aller Kolonisation überhaupt. Das wichtigste Ergebnis der Untersuchungen ist, daß auch für Sibirien mit der alten russischen Agrarverfassung gebrochen werden muß. Volles, unein¬ geschränktes Privateigentum ist das Mittel zu dichterer Besiedelung, zu ver¬ besserter Technik des Landbaus. Derselbe Alteingesessene, der sich gegen die Übersiedelung stemmt, wenn ihm ein Stück seines bisherigen Landüberflusses genommen werden soll, er wird sich selber bemühen, neue Zuwanderer heran zuziehen, und er wird sich auf seinem alten Sitz mit größerem Fleiß und intensiverem Betrieb einrichten, sobald er seinen Landüberfluß verkaufen kann. Das Privateigentum an Land gestattet auch die jetzt in Sibirien so gut wie unmögliche Bildung von Großgutswirtschaften, unentbehrlich als Vorbilder land-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/35>, abgerufen am 01.07.2024.