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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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schließlich mit Wirtschaftsfragen oder solchen der Sozialpolitik plagen müssen,
während für kulturelle immer weniger Zeit und Kraft übrig bleibt, hat die
Zentrumspartei dank ihrer Stärke und glücklichen Zusammensetzung unter June-
Haltung eines gesunden Mittelweges bei wirtschaftlichen Maßnahmen -- was
übrigens ihr häufiges Zusammenarbeiten mit den Nationalliberalen in solchen
Fragen erklärt -- doch immer die kulturellen Weltanschauungsfragen, wenn
auch von einem katholischen ultramontanen Standpunkt aus, in den Vorder¬
grund rücken können und damit dem Vordringen des nackten materiellen In¬
dividualismus oftmals Halt geboten. Die Entwicklung lehrt, daß, während
die liberalen Parteien durch ihre Presse und in privaten Organisationen als
Hüter der deutschen Kultur kämpfen, praktische Kulturpolitik in den Parlamenten
erfolgreich nur von der Zentrumspartei getrieben werden kann, da diese, von
den evangelischen Konservativen unterstützt, wenigstens in den beiden größten
Bundesstaaten die Macht in den Händen hat und sie auch rücksichtslos zu
gebrauchen versteht. Zieht man als erklärendes Moment noch die Tatsache in
Betracht, daß sich die Zentrumspartei in großen Gebieten auf die bäuerliche
Bevölkerung stützen kann, so wird man sie als das beharrliche Moment in der
Entwicklung der neudeutschen Geschichte auffassen dürfen, das einen gewissen
ruhigen Fortschritt im Staat ermöglicht, freilich auf Kosten aller liberalen
Errungenschaften.

Es scheint mir notwendig, die hadernden Gegner des Ultramontanismus
auf die Gefahr hinzuweisen, die allen unseren Kulturidealen infolge der entsetz¬
lichen Zersplitterung drohen, die vom Wirtschaftsleben ausgehend, sich unserer
bemächtigt hat, und die die Regierung zwingt, in erster Linie mit dieser bürger¬
lichen Partei zu rechnen, die sich als die größte und am besten organisierte
auch befähigt zu erweisen scheint, Staat erschütternde Tendenzen zurück¬
zudrängen.

In Erkenntnis seiner Unentbehrlichkeit für die Politik des fünften Reichs¬
kanzlers hat denn das Zentrum auch nicht gezögert, seine Gegenrechnungen
vorzulegen: die jüngsten Jesuitendebatten in Bauern, die Propaganda für die
Zulassung der Jesuiten in Deutschland auf dem am Sonntag eröffneten Katholiken¬
tage zu Aachen, die Angriffe auf den preußischen Kriegsminister, die Versuche
im preußischen Abgeordnetenhause, die Ostmarkenpolitik im ultramontanen Sinne
zu beeinflussen, mögen meine Behauptung bekräftigen.

Wie aber findet der fünfte Kanzler sich mit dieser verzwickten Sachlage ab?
"Eine Politik ohne das Zentrum treibe ich nicht!" hat er einmal im Reichstage
erklärt und dennoch im preußischen Abgeordnetenhause durch den Mund des
Landwirtschaftsministers, der selbst Katholik, sagen lassen, Katholiken könnten in
der Ostmark nur mit äußerster Vorsicht angesiedelt werden, da sie gegen die
Gefahr der Polonisierung nicht genügend gefeit seien. Seine Haltung in der
Jesuitenfrage kennen wir nicht; ein Festhalten am Jesuitengesetz würde zweifellos
zum Konflikt mit Bayern führen. Herr von Bethmann scheut sich davor, Kor-


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schließlich mit Wirtschaftsfragen oder solchen der Sozialpolitik plagen müssen,
während für kulturelle immer weniger Zeit und Kraft übrig bleibt, hat die
Zentrumspartei dank ihrer Stärke und glücklichen Zusammensetzung unter June-
Haltung eines gesunden Mittelweges bei wirtschaftlichen Maßnahmen — was
übrigens ihr häufiges Zusammenarbeiten mit den Nationalliberalen in solchen
Fragen erklärt — doch immer die kulturellen Weltanschauungsfragen, wenn
auch von einem katholischen ultramontanen Standpunkt aus, in den Vorder¬
grund rücken können und damit dem Vordringen des nackten materiellen In¬
dividualismus oftmals Halt geboten. Die Entwicklung lehrt, daß, während
die liberalen Parteien durch ihre Presse und in privaten Organisationen als
Hüter der deutschen Kultur kämpfen, praktische Kulturpolitik in den Parlamenten
erfolgreich nur von der Zentrumspartei getrieben werden kann, da diese, von
den evangelischen Konservativen unterstützt, wenigstens in den beiden größten
Bundesstaaten die Macht in den Händen hat und sie auch rücksichtslos zu
gebrauchen versteht. Zieht man als erklärendes Moment noch die Tatsache in
Betracht, daß sich die Zentrumspartei in großen Gebieten auf die bäuerliche
Bevölkerung stützen kann, so wird man sie als das beharrliche Moment in der
Entwicklung der neudeutschen Geschichte auffassen dürfen, das einen gewissen
ruhigen Fortschritt im Staat ermöglicht, freilich auf Kosten aller liberalen
Errungenschaften.

Es scheint mir notwendig, die hadernden Gegner des Ultramontanismus
auf die Gefahr hinzuweisen, die allen unseren Kulturidealen infolge der entsetz¬
lichen Zersplitterung drohen, die vom Wirtschaftsleben ausgehend, sich unserer
bemächtigt hat, und die die Regierung zwingt, in erster Linie mit dieser bürger¬
lichen Partei zu rechnen, die sich als die größte und am besten organisierte
auch befähigt zu erweisen scheint, Staat erschütternde Tendenzen zurück¬
zudrängen.

In Erkenntnis seiner Unentbehrlichkeit für die Politik des fünften Reichs¬
kanzlers hat denn das Zentrum auch nicht gezögert, seine Gegenrechnungen
vorzulegen: die jüngsten Jesuitendebatten in Bauern, die Propaganda für die
Zulassung der Jesuiten in Deutschland auf dem am Sonntag eröffneten Katholiken¬
tage zu Aachen, die Angriffe auf den preußischen Kriegsminister, die Versuche
im preußischen Abgeordnetenhause, die Ostmarkenpolitik im ultramontanen Sinne
zu beeinflussen, mögen meine Behauptung bekräftigen.

Wie aber findet der fünfte Kanzler sich mit dieser verzwickten Sachlage ab?
„Eine Politik ohne das Zentrum treibe ich nicht!" hat er einmal im Reichstage
erklärt und dennoch im preußischen Abgeordnetenhause durch den Mund des
Landwirtschaftsministers, der selbst Katholik, sagen lassen, Katholiken könnten in
der Ostmark nur mit äußerster Vorsicht angesiedelt werden, da sie gegen die
Gefahr der Polonisierung nicht genügend gefeit seien. Seine Haltung in der
Jesuitenfrage kennen wir nicht; ein Festhalten am Jesuitengesetz würde zweifellos
zum Konflikt mit Bayern führen. Herr von Bethmann scheut sich davor, Kor-


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[0350] Reichsspiegel schließlich mit Wirtschaftsfragen oder solchen der Sozialpolitik plagen müssen, während für kulturelle immer weniger Zeit und Kraft übrig bleibt, hat die Zentrumspartei dank ihrer Stärke und glücklichen Zusammensetzung unter June- Haltung eines gesunden Mittelweges bei wirtschaftlichen Maßnahmen — was übrigens ihr häufiges Zusammenarbeiten mit den Nationalliberalen in solchen Fragen erklärt — doch immer die kulturellen Weltanschauungsfragen, wenn auch von einem katholischen ultramontanen Standpunkt aus, in den Vorder¬ grund rücken können und damit dem Vordringen des nackten materiellen In¬ dividualismus oftmals Halt geboten. Die Entwicklung lehrt, daß, während die liberalen Parteien durch ihre Presse und in privaten Organisationen als Hüter der deutschen Kultur kämpfen, praktische Kulturpolitik in den Parlamenten erfolgreich nur von der Zentrumspartei getrieben werden kann, da diese, von den evangelischen Konservativen unterstützt, wenigstens in den beiden größten Bundesstaaten die Macht in den Händen hat und sie auch rücksichtslos zu gebrauchen versteht. Zieht man als erklärendes Moment noch die Tatsache in Betracht, daß sich die Zentrumspartei in großen Gebieten auf die bäuerliche Bevölkerung stützen kann, so wird man sie als das beharrliche Moment in der Entwicklung der neudeutschen Geschichte auffassen dürfen, das einen gewissen ruhigen Fortschritt im Staat ermöglicht, freilich auf Kosten aller liberalen Errungenschaften. Es scheint mir notwendig, die hadernden Gegner des Ultramontanismus auf die Gefahr hinzuweisen, die allen unseren Kulturidealen infolge der entsetz¬ lichen Zersplitterung drohen, die vom Wirtschaftsleben ausgehend, sich unserer bemächtigt hat, und die die Regierung zwingt, in erster Linie mit dieser bürger¬ lichen Partei zu rechnen, die sich als die größte und am besten organisierte auch befähigt zu erweisen scheint, Staat erschütternde Tendenzen zurück¬ zudrängen. In Erkenntnis seiner Unentbehrlichkeit für die Politik des fünften Reichs¬ kanzlers hat denn das Zentrum auch nicht gezögert, seine Gegenrechnungen vorzulegen: die jüngsten Jesuitendebatten in Bauern, die Propaganda für die Zulassung der Jesuiten in Deutschland auf dem am Sonntag eröffneten Katholiken¬ tage zu Aachen, die Angriffe auf den preußischen Kriegsminister, die Versuche im preußischen Abgeordnetenhause, die Ostmarkenpolitik im ultramontanen Sinne zu beeinflussen, mögen meine Behauptung bekräftigen. Wie aber findet der fünfte Kanzler sich mit dieser verzwickten Sachlage ab? „Eine Politik ohne das Zentrum treibe ich nicht!" hat er einmal im Reichstage erklärt und dennoch im preußischen Abgeordnetenhause durch den Mund des Landwirtschaftsministers, der selbst Katholik, sagen lassen, Katholiken könnten in der Ostmark nur mit äußerster Vorsicht angesiedelt werden, da sie gegen die Gefahr der Polonisierung nicht genügend gefeit seien. Seine Haltung in der Jesuitenfrage kennen wir nicht; ein Festhalten am Jesuitengesetz würde zweifellos zum Konflikt mit Bayern führen. Herr von Bethmann scheut sich davor, Kor-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/350>, abgerufen am 03.07.2024.