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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Reichsspiegel

konnte. Eine weitere Probe bildet der italienisch-türkische Krieg. Auch sie wird
allem Anschein nach günstig verlaufen, da bei den drei Hauptmächten Einigkeit
darüber besteht, die beiden Gegner zu isolieren und sich selbst zu überlassen.
Unter solchen Voraussetzungen dürfte es auch der türkischen Regierung gelingen,
das Osmanenreich durch die Klippen der jüngsten inneren Krise zu geleiten.




Wir kommen zu den Eignern und zur Besatzung des Reichsschiffs, zu den
Fragen der inneren Politik. Was der Kanzler hier in drei Jahren schaffen
konnte, war nicht viel und ob sich zu einem näheren Zeitpunkt überhaupt etwas
erreichen läßt, ist nicht erkennbar. Die deutsche Nation befindet sich im Zu¬
stande einer Zersplitterung, die an die bösesten Zeiten vor der Reichsgründung
gemahnt. Diese liegt begründet in dem wachsenden Reichtum und in den
unzähligen, seit der Reichsgründung geschaffenen Möglichkeiten zu Reichtum zu
gelangen. Man braucht sich nur der Namen der zahlreichen gewerblichen
Verbände und Vereine und ihres Einflusses auf die letzten Reichstagswahlen
zu erinnern, um die Berechtigung obigen Satzes zu begreifen. Der Staat mit
allen seinen Einrichtungen gilt bei einer Mehrzahl als das Werkzeug, den
Erwerb von Reichtümern zu vermitteln oder wenigstens zu erleichtern. Solche
einseitige Auffassung von den Rechten des Staatsbürgers und den Pflichten
des Staates beziehungsweise der Regierung kann naturgemäß nicht ohne ein¬
schneidende Wirkung auf die Organisationen bleiben, die von der Nation selbst
geschaffen werden, um ihre Forderungen bei der Exekutive durchzusetzen, auf
die politischen Parteien.

Nun wird eine Regierung, die von allen geäußerten Wünschen nur
wenige ganz erfüllen kann, alle übrigen aber unter Hinweis auf allgemeine
Staatsnotwendigkeiten, Nationalbewußtsein und Patriotismus beschneiden oder
ganz zurückweisen muß, unter den obwaltenden Verhältnissen sich nur unter
ganz bestimmten Voraussetzungen so starke Gefolgschaften sichern können, wie
sie deren für den glatten Fortgang der innerpolitischen Entwicklung bedarf.
Von der glatten Annahme aller Armee- und Marineforderungen wollen wir
nicht Schlüsse auf die Einmütigkeit der Nation ziehen, von der wenigstens auf
den Gebieten der inneren Politik nicht die Rede sein kann. In weiteren
Kreisen, auch in solchen, die jeder Armeevermehrung zustimmen, gilt die Armee
selbst als ein notwendiges Übel, nicht als Kulturfaktor, der sie tatsächlich ist.

Unter diesen Umständen ist es möglich geworden, daß jene "ganz bestimmten
Voraussetzungen", die es der Regierung trotz allem ermöglichen, einen Ausweg
aus dem allgemeinen Dilemma zu finden, in Umständen liegen, deren Vor¬
handensein wir nur aufs tiefste beklagen können, da sie zu allen übrigen Gegen¬
sätzen auch noch konfessionelle in die Nation tragen: das Vorhandensein
einer starken, einflußreichen Zentrumspartei. Während nämlich alle
anderen politischen Parteien, ohne Ausnahme, von den Wirtschastsverbänden usw.
soweit aufgesogen sind, daß ihre Vertreter sich in den Parlamenten fast aus-


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konnte. Eine weitere Probe bildet der italienisch-türkische Krieg. Auch sie wird
allem Anschein nach günstig verlaufen, da bei den drei Hauptmächten Einigkeit
darüber besteht, die beiden Gegner zu isolieren und sich selbst zu überlassen.
Unter solchen Voraussetzungen dürfte es auch der türkischen Regierung gelingen,
das Osmanenreich durch die Klippen der jüngsten inneren Krise zu geleiten.




Wir kommen zu den Eignern und zur Besatzung des Reichsschiffs, zu den
Fragen der inneren Politik. Was der Kanzler hier in drei Jahren schaffen
konnte, war nicht viel und ob sich zu einem näheren Zeitpunkt überhaupt etwas
erreichen läßt, ist nicht erkennbar. Die deutsche Nation befindet sich im Zu¬
stande einer Zersplitterung, die an die bösesten Zeiten vor der Reichsgründung
gemahnt. Diese liegt begründet in dem wachsenden Reichtum und in den
unzähligen, seit der Reichsgründung geschaffenen Möglichkeiten zu Reichtum zu
gelangen. Man braucht sich nur der Namen der zahlreichen gewerblichen
Verbände und Vereine und ihres Einflusses auf die letzten Reichstagswahlen
zu erinnern, um die Berechtigung obigen Satzes zu begreifen. Der Staat mit
allen seinen Einrichtungen gilt bei einer Mehrzahl als das Werkzeug, den
Erwerb von Reichtümern zu vermitteln oder wenigstens zu erleichtern. Solche
einseitige Auffassung von den Rechten des Staatsbürgers und den Pflichten
des Staates beziehungsweise der Regierung kann naturgemäß nicht ohne ein¬
schneidende Wirkung auf die Organisationen bleiben, die von der Nation selbst
geschaffen werden, um ihre Forderungen bei der Exekutive durchzusetzen, auf
die politischen Parteien.

Nun wird eine Regierung, die von allen geäußerten Wünschen nur
wenige ganz erfüllen kann, alle übrigen aber unter Hinweis auf allgemeine
Staatsnotwendigkeiten, Nationalbewußtsein und Patriotismus beschneiden oder
ganz zurückweisen muß, unter den obwaltenden Verhältnissen sich nur unter
ganz bestimmten Voraussetzungen so starke Gefolgschaften sichern können, wie
sie deren für den glatten Fortgang der innerpolitischen Entwicklung bedarf.
Von der glatten Annahme aller Armee- und Marineforderungen wollen wir
nicht Schlüsse auf die Einmütigkeit der Nation ziehen, von der wenigstens auf
den Gebieten der inneren Politik nicht die Rede sein kann. In weiteren
Kreisen, auch in solchen, die jeder Armeevermehrung zustimmen, gilt die Armee
selbst als ein notwendiges Übel, nicht als Kulturfaktor, der sie tatsächlich ist.

Unter diesen Umständen ist es möglich geworden, daß jene „ganz bestimmten
Voraussetzungen", die es der Regierung trotz allem ermöglichen, einen Ausweg
aus dem allgemeinen Dilemma zu finden, in Umständen liegen, deren Vor¬
handensein wir nur aufs tiefste beklagen können, da sie zu allen übrigen Gegen¬
sätzen auch noch konfessionelle in die Nation tragen: das Vorhandensein
einer starken, einflußreichen Zentrumspartei. Während nämlich alle
anderen politischen Parteien, ohne Ausnahme, von den Wirtschastsverbänden usw.
soweit aufgesogen sind, daß ihre Vertreter sich in den Parlamenten fast aus-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/349>, abgerufen am 03.07.2024.