Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.Die Kolonisation Sibiriens fremde Rassen, an Japaner, Franzosen und Russen, sein eigenes Grab gräbt, Die Überschätzung Deutschlands trübt selbst in der Denkschrift über Sibirien Bezweifeln möchte ich ferner nach allem, was ich im Verlauf zweier Jahre in *) Bei 300 Millionen Pud kann nur die gesamte Getreideernte einschließlich Futter¬
getreide und Saatgut gemeint sein, wie sie auch meinen Berechnungen für das europäische Nußland zu Grunde liegt. Die Kolonisation Sibiriens fremde Rassen, an Japaner, Franzosen und Russen, sein eigenes Grab gräbt, Die Überschätzung Deutschlands trübt selbst in der Denkschrift über Sibirien Bezweifeln möchte ich ferner nach allem, was ich im Verlauf zweier Jahre in *) Bei 300 Millionen Pud kann nur die gesamte Getreideernte einschließlich Futter¬
getreide und Saatgut gemeint sein, wie sie auch meinen Berechnungen für das europäische Nußland zu Grunde liegt. <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0034" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/321781"/> <fw type="header" place="top"> Die Kolonisation Sibiriens</fw><lb/> <p xml:id="ID_57" prev="#ID_56"> fremde Rassen, an Japaner, Franzosen und Russen, sein eigenes Grab gräbt,<lb/> und hoffte im Stillen, es werde mit seinem eigenen auch das der germanischen<lb/> Weltherrschaft überhaupt graben.</p><lb/> <p xml:id="ID_58"> Die Überschätzung Deutschlands trübt selbst in der Denkschrift über Sibirien<lb/> hier und da Stolypins klares Urteil. Er warnt z. B. vor einer künstlichen<lb/> Steigerung der Übersiedlung nach Sibirien, damit sie nicht Lücken in der<lb/> Bevölkerung Westrußlands schaffe, in die — deutsche Ackerbauer eindringen<lb/> würden. Stolnpin beruft sich dabei auf Ausführungen Professor Ansagens,<lb/> des früheren landwirtschaftlichen Sachverständigen, der im Auftrage des Deutschen<lb/> Reichs die Kolonisation Sibiriens an Ort und Stelle studiert hat. Ansagens<lb/> Bemerkung, für Deutschland sei der Einfluß der Übersiedlungsbewegung auf die<lb/> Agrarverhältnisse und die Abnahme der Bevölkerung im europäischen Rußland<lb/> weit wichtiger als die zukünftige Rolle Sibiriens auf dem Weltmarkt, will<lb/> natürlich nur an den Einfluß erinnern, den die Umwälzung der Agrarverhältnisse<lb/> in Rußland, von der die Auswanderung nach Sibirien eine Teilerschcinung ist,<lb/> auf russische Getreidepreise und Ausfuhrmengen haben muß, an denen wir als<lb/> Getreideeinfuhrland stark interessiert sind. In Wirklichkeit besteht nicht nur kein<lb/> Gedanke an eine Auswanderung deutscher Bauern nach Rußland, sondern es<lb/> findet umgekehrt nicht nur eine Rückwanderung aus den deutschen Kolonien an<lb/> der Wolga und aus Süd- und Westrußland nach Deutschland statt, sondern<lb/> obendrein eine leider recht starke slawische Einwanderung in unser Vaterland.</p><lb/> <p xml:id="ID_59"> Bezweifeln möchte ich ferner nach allem, was ich im Verlauf zweier Jahre in<lb/> Sibirien gesehen und gehört habe, auch die Berechnungen der Denkschrift über<lb/> die zukünftige Getreideausfuhr Sibiriens. Die Ernte Sibiriens soll danach schon<lb/> heute 300 Millionen Pud (5 Millionen Tonnen), der Ausfuhrüberschuß 100<lb/> bis 150 Millionen Pud betragen.*) Die Denkschrift rechnet dabei mit einem<lb/> Getreideverbrauch von 15Pud (rd. 250Kilogr.) jährlich auf den Kopf der sibirischen<lb/> Bevölkerung. Diese Angabe ist im Vergleich zum europäischen Rußland zu niedrig<lb/> gegriffen. Berechnungen ergaben für dieses, nach Zu- und Abrechnung von<lb/> Einfuhr und Ausfuhr im guten Erntejahr 1909. einen Verbrauch von 445 Kilogr.<lb/> (rd. 27 Pud), im schlechten Jahr 1908 von 365 Kilogr. (rd. 22 Pud) auf<lb/> den Kopf. Es ist ferner die angegebene sibirische Ernte von 300 Millionen<lb/> Pud keine normale, sondern die in der Gegenwart mögliche Höchsternte. 1905<lb/> brachte z. B. eine schlechte Ernte, nur 100 Millionen Pud, 1908 dagegen eine<lb/> gute Ernte im Gegensatz zum europäischen Rußland, nämlich 200 Millionen Pud,<lb/> und wenn auch die Saatflächen infolge der Einwanderung stark steigen, so wird<lb/> es doch noch gute Weile haben, bis eine Durchschnittsrate von 300 Millionen<lb/> Pud erreicht ist, ganz abgesehen davon, daß dann auch der Eigenverbrauch<lb/> Sibiriens bedeutend größer geworden sein wird.</p><lb/> <note xml:id="FID_3" place="foot"> *) Bei 300 Millionen Pud kann nur die gesamte Getreideernte einschließlich Futter¬<lb/> getreide und Saatgut gemeint sein, wie sie auch meinen Berechnungen für das europäische<lb/> Nußland zu Grunde liegt.</note><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0034]
Die Kolonisation Sibiriens
fremde Rassen, an Japaner, Franzosen und Russen, sein eigenes Grab gräbt,
und hoffte im Stillen, es werde mit seinem eigenen auch das der germanischen
Weltherrschaft überhaupt graben.
Die Überschätzung Deutschlands trübt selbst in der Denkschrift über Sibirien
hier und da Stolypins klares Urteil. Er warnt z. B. vor einer künstlichen
Steigerung der Übersiedlung nach Sibirien, damit sie nicht Lücken in der
Bevölkerung Westrußlands schaffe, in die — deutsche Ackerbauer eindringen
würden. Stolnpin beruft sich dabei auf Ausführungen Professor Ansagens,
des früheren landwirtschaftlichen Sachverständigen, der im Auftrage des Deutschen
Reichs die Kolonisation Sibiriens an Ort und Stelle studiert hat. Ansagens
Bemerkung, für Deutschland sei der Einfluß der Übersiedlungsbewegung auf die
Agrarverhältnisse und die Abnahme der Bevölkerung im europäischen Rußland
weit wichtiger als die zukünftige Rolle Sibiriens auf dem Weltmarkt, will
natürlich nur an den Einfluß erinnern, den die Umwälzung der Agrarverhältnisse
in Rußland, von der die Auswanderung nach Sibirien eine Teilerschcinung ist,
auf russische Getreidepreise und Ausfuhrmengen haben muß, an denen wir als
Getreideeinfuhrland stark interessiert sind. In Wirklichkeit besteht nicht nur kein
Gedanke an eine Auswanderung deutscher Bauern nach Rußland, sondern es
findet umgekehrt nicht nur eine Rückwanderung aus den deutschen Kolonien an
der Wolga und aus Süd- und Westrußland nach Deutschland statt, sondern
obendrein eine leider recht starke slawische Einwanderung in unser Vaterland.
Bezweifeln möchte ich ferner nach allem, was ich im Verlauf zweier Jahre in
Sibirien gesehen und gehört habe, auch die Berechnungen der Denkschrift über
die zukünftige Getreideausfuhr Sibiriens. Die Ernte Sibiriens soll danach schon
heute 300 Millionen Pud (5 Millionen Tonnen), der Ausfuhrüberschuß 100
bis 150 Millionen Pud betragen.*) Die Denkschrift rechnet dabei mit einem
Getreideverbrauch von 15Pud (rd. 250Kilogr.) jährlich auf den Kopf der sibirischen
Bevölkerung. Diese Angabe ist im Vergleich zum europäischen Rußland zu niedrig
gegriffen. Berechnungen ergaben für dieses, nach Zu- und Abrechnung von
Einfuhr und Ausfuhr im guten Erntejahr 1909. einen Verbrauch von 445 Kilogr.
(rd. 27 Pud), im schlechten Jahr 1908 von 365 Kilogr. (rd. 22 Pud) auf
den Kopf. Es ist ferner die angegebene sibirische Ernte von 300 Millionen
Pud keine normale, sondern die in der Gegenwart mögliche Höchsternte. 1905
brachte z. B. eine schlechte Ernte, nur 100 Millionen Pud, 1908 dagegen eine
gute Ernte im Gegensatz zum europäischen Rußland, nämlich 200 Millionen Pud,
und wenn auch die Saatflächen infolge der Einwanderung stark steigen, so wird
es doch noch gute Weile haben, bis eine Durchschnittsrate von 300 Millionen
Pud erreicht ist, ganz abgesehen davon, daß dann auch der Eigenverbrauch
Sibiriens bedeutend größer geworden sein wird.
*) Bei 300 Millionen Pud kann nur die gesamte Getreideernte einschließlich Futter¬
getreide und Saatgut gemeint sein, wie sie auch meinen Berechnungen für das europäische
Nußland zu Grunde liegt.
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |