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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Die Kolonisation Sibiriens

diese Tatsachen mögen heute als eine Kritik des Kunstwerkes des Romans
überhaupt angesehen werden, aber nicht auf Kritik kommt es uns hier an,
sondern nur auf die Feststellung des innigen Zusammenhanges, der zwischen
Weltanschauung und jeder anderen geistigen Betätigung, hier also dem
künstlerischen Schaffen besteht, und der sich nicht etwa rein äußerlich in der
Stoffwahl zeigt, sondern die Grundauffassung vom Wesen, von Zweck und
Mittel der Kunst in ihren innersten Tiefen bestimmt. Sogar auf das künstlerische
Empfinden der Genießenden erstreckte sich der Einfluß der positivistischen Welt¬
anschauung, wie die gewaltigen, alles andere verdrängenden Erfolge der
besprochenen Schriftsteller beweisen. (Schluß folgt in Ur. 29)




Die Kolonisation Sibiriens
Dr. Otto Goebel von

le ein Denkmal Stolyvinscher Denkungsart mit ihren Vorzügen
und ihren Fehlern erscheint die Denkschrift"), die dieser Staats¬
mann, der Retter Rußlands in chaotischer Zeit, kurz vor seiner
Ermordung dem Zaren als Ergebnis einer Besichtigungsreise nach
Sibirien vorgelegt hat.

"Die wichtigste Staatsangelegenheit ist in Sibirien das Übersiedlungswesen", so
beginnt Stolypin seine Darlegungen, aus deren weiteren Ausführungen sich ergibt, daß
er es auch für eine der wichtigsten Angelegenheiten des ganzen russischen Reiches hält.

Die Denkschrift atmet die Größe eines wirklichen Staatsmannes, der, erfüllt
von einer ihn beherrschenden Idee, als ihr Diener und ihr Meister zugleich mit
unnüchternem Herzen und nüchternem Kopf seinen Weg geht -- bis in den Tod.

Wir Deutschen haben keine Ursache, Stolypin zu lieben. Die ihn beherrschende
Idee war die Größe Rußlands auf Kosten Deutschlands, und die ihn für sein
Vaterland erfüllende Furcht war eine hohe Einschätzung -- vielleicht eine Über¬
schätzung unserer Macht und Zukunft.

Wie im Innern die Grenzvölker: die Deutschen, die Polen, die Letten,
Ehlen, Finnen, Kirgisen, und wie sie alle heißen, allenthalben vor den Interessen
des Nussentums zurücktreten sollten, so war ihm nach außen das scheinbare
Bündnis mit England recht als eine Schwächung des Germanentums. Die
Engländer selbst hat er wohl nie gefürchtet: er wußte, daß England in seinem
Mißtrauen und seiner Feindschaft gegen Deutschland, in seiner Anlehnung an



*) "Die Kolonisation Sibiriens", eine Denkschrift von P. A. Stolypin und A, W.
Kriwoschem, übersetzt von Dr. C. Gleye. Berlin 1912, Hermann Paetel Verlag G, ni. b. H.
Die Kolonisation Sibiriens

diese Tatsachen mögen heute als eine Kritik des Kunstwerkes des Romans
überhaupt angesehen werden, aber nicht auf Kritik kommt es uns hier an,
sondern nur auf die Feststellung des innigen Zusammenhanges, der zwischen
Weltanschauung und jeder anderen geistigen Betätigung, hier also dem
künstlerischen Schaffen besteht, und der sich nicht etwa rein äußerlich in der
Stoffwahl zeigt, sondern die Grundauffassung vom Wesen, von Zweck und
Mittel der Kunst in ihren innersten Tiefen bestimmt. Sogar auf das künstlerische
Empfinden der Genießenden erstreckte sich der Einfluß der positivistischen Welt¬
anschauung, wie die gewaltigen, alles andere verdrängenden Erfolge der
besprochenen Schriftsteller beweisen. (Schluß folgt in Ur. 29)




Die Kolonisation Sibiriens
Dr. Otto Goebel von

le ein Denkmal Stolyvinscher Denkungsart mit ihren Vorzügen
und ihren Fehlern erscheint die Denkschrift"), die dieser Staats¬
mann, der Retter Rußlands in chaotischer Zeit, kurz vor seiner
Ermordung dem Zaren als Ergebnis einer Besichtigungsreise nach
Sibirien vorgelegt hat.

„Die wichtigste Staatsangelegenheit ist in Sibirien das Übersiedlungswesen", so
beginnt Stolypin seine Darlegungen, aus deren weiteren Ausführungen sich ergibt, daß
er es auch für eine der wichtigsten Angelegenheiten des ganzen russischen Reiches hält.

Die Denkschrift atmet die Größe eines wirklichen Staatsmannes, der, erfüllt
von einer ihn beherrschenden Idee, als ihr Diener und ihr Meister zugleich mit
unnüchternem Herzen und nüchternem Kopf seinen Weg geht — bis in den Tod.

Wir Deutschen haben keine Ursache, Stolypin zu lieben. Die ihn beherrschende
Idee war die Größe Rußlands auf Kosten Deutschlands, und die ihn für sein
Vaterland erfüllende Furcht war eine hohe Einschätzung — vielleicht eine Über¬
schätzung unserer Macht und Zukunft.

Wie im Innern die Grenzvölker: die Deutschen, die Polen, die Letten,
Ehlen, Finnen, Kirgisen, und wie sie alle heißen, allenthalben vor den Interessen
des Nussentums zurücktreten sollten, so war ihm nach außen das scheinbare
Bündnis mit England recht als eine Schwächung des Germanentums. Die
Engländer selbst hat er wohl nie gefürchtet: er wußte, daß England in seinem
Mißtrauen und seiner Feindschaft gegen Deutschland, in seiner Anlehnung an



*) „Die Kolonisation Sibiriens", eine Denkschrift von P. A. Stolypin und A, W.
Kriwoschem, übersetzt von Dr. C. Gleye. Berlin 1912, Hermann Paetel Verlag G, ni. b. H.
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[0033] Die Kolonisation Sibiriens diese Tatsachen mögen heute als eine Kritik des Kunstwerkes des Romans überhaupt angesehen werden, aber nicht auf Kritik kommt es uns hier an, sondern nur auf die Feststellung des innigen Zusammenhanges, der zwischen Weltanschauung und jeder anderen geistigen Betätigung, hier also dem künstlerischen Schaffen besteht, und der sich nicht etwa rein äußerlich in der Stoffwahl zeigt, sondern die Grundauffassung vom Wesen, von Zweck und Mittel der Kunst in ihren innersten Tiefen bestimmt. Sogar auf das künstlerische Empfinden der Genießenden erstreckte sich der Einfluß der positivistischen Welt¬ anschauung, wie die gewaltigen, alles andere verdrängenden Erfolge der besprochenen Schriftsteller beweisen. (Schluß folgt in Ur. 29) Die Kolonisation Sibiriens Dr. Otto Goebel von le ein Denkmal Stolyvinscher Denkungsart mit ihren Vorzügen und ihren Fehlern erscheint die Denkschrift"), die dieser Staats¬ mann, der Retter Rußlands in chaotischer Zeit, kurz vor seiner Ermordung dem Zaren als Ergebnis einer Besichtigungsreise nach Sibirien vorgelegt hat. „Die wichtigste Staatsangelegenheit ist in Sibirien das Übersiedlungswesen", so beginnt Stolypin seine Darlegungen, aus deren weiteren Ausführungen sich ergibt, daß er es auch für eine der wichtigsten Angelegenheiten des ganzen russischen Reiches hält. Die Denkschrift atmet die Größe eines wirklichen Staatsmannes, der, erfüllt von einer ihn beherrschenden Idee, als ihr Diener und ihr Meister zugleich mit unnüchternem Herzen und nüchternem Kopf seinen Weg geht — bis in den Tod. Wir Deutschen haben keine Ursache, Stolypin zu lieben. Die ihn beherrschende Idee war die Größe Rußlands auf Kosten Deutschlands, und die ihn für sein Vaterland erfüllende Furcht war eine hohe Einschätzung — vielleicht eine Über¬ schätzung unserer Macht und Zukunft. Wie im Innern die Grenzvölker: die Deutschen, die Polen, die Letten, Ehlen, Finnen, Kirgisen, und wie sie alle heißen, allenthalben vor den Interessen des Nussentums zurücktreten sollten, so war ihm nach außen das scheinbare Bündnis mit England recht als eine Schwächung des Germanentums. Die Engländer selbst hat er wohl nie gefürchtet: er wußte, daß England in seinem Mißtrauen und seiner Feindschaft gegen Deutschland, in seiner Anlehnung an *) „Die Kolonisation Sibiriens", eine Denkschrift von P. A. Stolypin und A, W. Kriwoschem, übersetzt von Dr. C. Gleye. Berlin 1912, Hermann Paetel Verlag G, ni. b. H.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/33>, abgerufen am 01.07.2024.