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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Die naturwissenschaftliche Weltanschauung

Balzac den Forderungen der naturwissenschaftlichen Methode. Für jeden Charakter
suchen beide einen Mittelpunkt, aus dem sein ganzes Wesen verstanden wird,
ein kalt Zönöral, welches in allen Handlungen erscheint und alle bestimmt, eine
Gleichung, in welche man nur die gegebenen Zahlen jeder bestimmten Lebens¬
lage einzusetzen hat, um sofort das Ergebnis zu erkennen. Diese Grundformel
heißt bei Julien Sorel Ehrgeiz, beim Vater Grandet Geiz, beim Vater Goriot
unvernünftige Kindesliebe (King Lear), bei Balthasar Claeß Iclöo fixe. Mit
Bewußtsein haben beide Schriftsteller alles vermieden, was diese Grund¬
bestimmung verwischen könnte, was Unklarheit in ihr Handeln bringen und
daher auch die Notwendigkeit des schließlichen Erfolges zweifelhaft erscheinen
lassen könnte. Nach den Taineschen Normen haben dann auch beide Schrift¬
steller besonders die Darstellung der großen Kämpfer, der problematischen
Naturen, gepflegt, was ohne weiteres nach unseren Ausführungen einleuchten
dürfte.

So gehen denn von Anfang an Theorie und Praxis so augenscheinlich
parallel, daß ihr gemeinsamer Ursprung aus dem Geist des ausgehenden acht¬
zehnten Jahrhunderts völlig einleuchtet. Ehe ich dazu übergehe, die Entwicklung
und den Wandel der positivistischen Kunstlehre und Kunstpraxis in ihrer gegen¬
seitigen Abhängigkeit darzustellen, möchte ich noch auf eine allgemeine Eigen¬
tümlichkeit der französischen Literatur des neunzehnten Jahrhunderts hinweisen,
nämlich darauf, daß die wirklich bedeutende literarische Produktion sich fast ganz
aus den Roman beschränkt, daß jedenfalls der Roman in weit höherem Maße
als je zuvor die beliebteste Literaturgattung wurde. Das französische Drama
hat es im neunzehnten Jahrhundert zu großen, charakteristischen Leistungen nicht
gebracht, es bewegte sich völlig in der Gefolgschaft des Romans. Daß auch
hieran der "wissenschaftliche" Geist des Positivismus schuld ist, kann nicht
bezweifelt werden. Keine Literaturgattung kann leichter und vollkommener den
Forderungen der positivistischen Kunstauffassung entsprechen als der Roman.
Wo wäre es leichter, die Charaktere, unbekümmert um allerlei technische
Anforderungen, bis in die kleinsten Einzelheiten zu schildern und zu begründen,
wo ließe sich ungezwungener das Werden der Gestalten aus Rasse und Milieu,
das Entspringen der Handlungen aus den Grundanlagen und den gegebenen
Umständen darlegen als im Roman? In welcher anderen Literaturgattung
wäre es möglich, ohne vollständige Zertrümmerung aller ihrer Gesetze, in rein
wissenschaftlicher Absicht einen psychologischen oder gar biologischen Aufbau der
Seele des Helden mit allen Einzelheiten zu geben? Nur der Roman kann in
wissenschaftlicher Genauigkeit mit der Geschichte sich messen und sie übertreffen,
da ihm die Quellen für seine Kausalkette nie fehlen. Keine andere
Dichtungsart kann aber auch das Schöpferische so leicht missen, das der
Positivismus auch im Kunstwerke verpönt, verpönen muß, wenn er folge¬
richtig sein will. Mit rein wissenschaftlicher Beobachtungsgabe läßt sich viel¬
leicht ein Roman, aber kein Drama oder Epos zustande bringen. Alle


Die naturwissenschaftliche Weltanschauung

Balzac den Forderungen der naturwissenschaftlichen Methode. Für jeden Charakter
suchen beide einen Mittelpunkt, aus dem sein ganzes Wesen verstanden wird,
ein kalt Zönöral, welches in allen Handlungen erscheint und alle bestimmt, eine
Gleichung, in welche man nur die gegebenen Zahlen jeder bestimmten Lebens¬
lage einzusetzen hat, um sofort das Ergebnis zu erkennen. Diese Grundformel
heißt bei Julien Sorel Ehrgeiz, beim Vater Grandet Geiz, beim Vater Goriot
unvernünftige Kindesliebe (King Lear), bei Balthasar Claeß Iclöo fixe. Mit
Bewußtsein haben beide Schriftsteller alles vermieden, was diese Grund¬
bestimmung verwischen könnte, was Unklarheit in ihr Handeln bringen und
daher auch die Notwendigkeit des schließlichen Erfolges zweifelhaft erscheinen
lassen könnte. Nach den Taineschen Normen haben dann auch beide Schrift¬
steller besonders die Darstellung der großen Kämpfer, der problematischen
Naturen, gepflegt, was ohne weiteres nach unseren Ausführungen einleuchten
dürfte.

So gehen denn von Anfang an Theorie und Praxis so augenscheinlich
parallel, daß ihr gemeinsamer Ursprung aus dem Geist des ausgehenden acht¬
zehnten Jahrhunderts völlig einleuchtet. Ehe ich dazu übergehe, die Entwicklung
und den Wandel der positivistischen Kunstlehre und Kunstpraxis in ihrer gegen¬
seitigen Abhängigkeit darzustellen, möchte ich noch auf eine allgemeine Eigen¬
tümlichkeit der französischen Literatur des neunzehnten Jahrhunderts hinweisen,
nämlich darauf, daß die wirklich bedeutende literarische Produktion sich fast ganz
aus den Roman beschränkt, daß jedenfalls der Roman in weit höherem Maße
als je zuvor die beliebteste Literaturgattung wurde. Das französische Drama
hat es im neunzehnten Jahrhundert zu großen, charakteristischen Leistungen nicht
gebracht, es bewegte sich völlig in der Gefolgschaft des Romans. Daß auch
hieran der „wissenschaftliche" Geist des Positivismus schuld ist, kann nicht
bezweifelt werden. Keine Literaturgattung kann leichter und vollkommener den
Forderungen der positivistischen Kunstauffassung entsprechen als der Roman.
Wo wäre es leichter, die Charaktere, unbekümmert um allerlei technische
Anforderungen, bis in die kleinsten Einzelheiten zu schildern und zu begründen,
wo ließe sich ungezwungener das Werden der Gestalten aus Rasse und Milieu,
das Entspringen der Handlungen aus den Grundanlagen und den gegebenen
Umständen darlegen als im Roman? In welcher anderen Literaturgattung
wäre es möglich, ohne vollständige Zertrümmerung aller ihrer Gesetze, in rein
wissenschaftlicher Absicht einen psychologischen oder gar biologischen Aufbau der
Seele des Helden mit allen Einzelheiten zu geben? Nur der Roman kann in
wissenschaftlicher Genauigkeit mit der Geschichte sich messen und sie übertreffen,
da ihm die Quellen für seine Kausalkette nie fehlen. Keine andere
Dichtungsart kann aber auch das Schöpferische so leicht missen, das der
Positivismus auch im Kunstwerke verpönt, verpönen muß, wenn er folge¬
richtig sein will. Mit rein wissenschaftlicher Beobachtungsgabe läßt sich viel¬
leicht ein Roman, aber kein Drama oder Epos zustande bringen. Alle


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[0032] Die naturwissenschaftliche Weltanschauung Balzac den Forderungen der naturwissenschaftlichen Methode. Für jeden Charakter suchen beide einen Mittelpunkt, aus dem sein ganzes Wesen verstanden wird, ein kalt Zönöral, welches in allen Handlungen erscheint und alle bestimmt, eine Gleichung, in welche man nur die gegebenen Zahlen jeder bestimmten Lebens¬ lage einzusetzen hat, um sofort das Ergebnis zu erkennen. Diese Grundformel heißt bei Julien Sorel Ehrgeiz, beim Vater Grandet Geiz, beim Vater Goriot unvernünftige Kindesliebe (King Lear), bei Balthasar Claeß Iclöo fixe. Mit Bewußtsein haben beide Schriftsteller alles vermieden, was diese Grund¬ bestimmung verwischen könnte, was Unklarheit in ihr Handeln bringen und daher auch die Notwendigkeit des schließlichen Erfolges zweifelhaft erscheinen lassen könnte. Nach den Taineschen Normen haben dann auch beide Schrift¬ steller besonders die Darstellung der großen Kämpfer, der problematischen Naturen, gepflegt, was ohne weiteres nach unseren Ausführungen einleuchten dürfte. So gehen denn von Anfang an Theorie und Praxis so augenscheinlich parallel, daß ihr gemeinsamer Ursprung aus dem Geist des ausgehenden acht¬ zehnten Jahrhunderts völlig einleuchtet. Ehe ich dazu übergehe, die Entwicklung und den Wandel der positivistischen Kunstlehre und Kunstpraxis in ihrer gegen¬ seitigen Abhängigkeit darzustellen, möchte ich noch auf eine allgemeine Eigen¬ tümlichkeit der französischen Literatur des neunzehnten Jahrhunderts hinweisen, nämlich darauf, daß die wirklich bedeutende literarische Produktion sich fast ganz aus den Roman beschränkt, daß jedenfalls der Roman in weit höherem Maße als je zuvor die beliebteste Literaturgattung wurde. Das französische Drama hat es im neunzehnten Jahrhundert zu großen, charakteristischen Leistungen nicht gebracht, es bewegte sich völlig in der Gefolgschaft des Romans. Daß auch hieran der „wissenschaftliche" Geist des Positivismus schuld ist, kann nicht bezweifelt werden. Keine Literaturgattung kann leichter und vollkommener den Forderungen der positivistischen Kunstauffassung entsprechen als der Roman. Wo wäre es leichter, die Charaktere, unbekümmert um allerlei technische Anforderungen, bis in die kleinsten Einzelheiten zu schildern und zu begründen, wo ließe sich ungezwungener das Werden der Gestalten aus Rasse und Milieu, das Entspringen der Handlungen aus den Grundanlagen und den gegebenen Umständen darlegen als im Roman? In welcher anderen Literaturgattung wäre es möglich, ohne vollständige Zertrümmerung aller ihrer Gesetze, in rein wissenschaftlicher Absicht einen psychologischen oder gar biologischen Aufbau der Seele des Helden mit allen Einzelheiten zu geben? Nur der Roman kann in wissenschaftlicher Genauigkeit mit der Geschichte sich messen und sie übertreffen, da ihm die Quellen für seine Kausalkette nie fehlen. Keine andere Dichtungsart kann aber auch das Schöpferische so leicht missen, das der Positivismus auch im Kunstwerke verpönt, verpönen muß, wenn er folge¬ richtig sein will. Mit rein wissenschaftlicher Beobachtungsgabe läßt sich viel¬ leicht ein Roman, aber kein Drama oder Epos zustande bringen. Alle

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/32>, abgerufen am 01.07.2024.