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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Die naturwissenschaftliche Weltanschauung

auch keines langen Beweises, daß beide Teile miteinander völlig unvereinbar
sind. Die psychologisch-posttivistische Geschichte und Kunst betrachten die Gegen¬
stände nur in ihrem gesetzmäßigen, notwendigen Zusammenhang. Für die
Wissenschaft gibt es keine wertvollen und wertlosen Gegenstände. Die einzige
Rangordnung ist die nach der kausalen Wirksamkeit. Das ist aber keine Rang¬
ordnung demWerte nach. JndividuelleWerte kennt dienaturwissenschastlicheMethode
nicht, der Diamant ist ihr nicht wertvoller als die Kohle, der gute Mensch nicht
bedeutsamer als der Verbrecher, Apollo von Belvedere hat nicht mehr Bedeutung
für sie als jeder andere Marmorblock. Auch Taines Rangordnung der Charaktere
läßt sich aus seiner positiven Wissenschaftslehre nicht begründen. Vom Stand¬
punkt seiner ganzen Weltanschauung aus hat die pnilo80prie as 1'art nur den
Wert einer gänzlich individuellen Ansicht. Soweit sie Taine als wissenschaftlich
allgemeingültig betrachtet, stellt sie eine klare Folgewidrigkeit gegenüber seinem
System dar. Normen sind eben keine Naturgesetze und lassen sich aus ihnen
durch keinen Kunstgriff ableiten, wenn auch noch die neuesten Ästhetiker es immer
wieder versuchen. Jedenfalls aber ergibt sich aus dieser Betonung der Normen
bei Taine, so folgewidrig sie auch sein mag, daß sein ganzes System keines¬
wegs ein Materialismus ist, auch seine Geschichtsauffassung ist nicht materialistisch.

Wenn wir nun fragen, wodurch Taine zu seiner Inkonsequenz veranlaßt
worden sein mag, so kann die Antwort nur lauten: durch seine faktischen Ansichten
über das Wesen der Kunst und die Aufgaben der Künstler. Die posttivistische, natur¬
wissenschaftliche Weltanschauung ist bei ihm, ist zu seiner Zeit in Frankreich viel¬
leicht überhaupt noch nicht soweit fortgeschritten, daß sie auch die Anschauungen
über das Wesen der Kunst nach ihrem System umgestaltet hat. Um das jedoch
mit Sicherheit feststellen zu können, müssen wir die oben geschilderte Praxis
Beyles und Balzacs mit den Forderungen Taines und den Folgerungen des
Posttivismus vergleichen.

Zunächst zeigen beide die geforderte "wissenschaftliche Tendenz". Alle Hand¬
lungen ergeben sich aus bestimmten Voraussetzungen mit absoluter Notwendigkeit.
Den mechanischen Ablauf des Geschehens konnten wir unzweifelhaft nachweisen.
Während dann die übrigen Forderungen Taines bei Beyle noch nicht mit aller
Deutlichkeit erfüllt sind, können wir bei Balzac alle Postulate der Theorie in
der Praxis aufzeigen. Bei ihm erscheint der Charakter nicht als mystischer
Hintergrund der Persönlichkeit, sondern als völlig analysierbares, notwendiges
Produkt einer kleinen Reihe von Tatsachen. Diese findet er in der Geschichte
der Familie, der Geburt, also der Rasse, den Verhältnissen, unter denen diese
Familie und das Individuum sich entwickelten, dem Milieu, und den besonderen
Umständen der individuellen Existenz, dem Moment. Aus diesen drei Formeln
setzt sich bei ihm jede Bestimmung des Charakters zusammen. Wir haben besonders
betont, welche Mühe, welche peinliche Sorgfalt, unbekümmert um die ästhetische
Wirkung, gerade Balzac auf diese Analyse des Wesens seiner Personen und ihrer
Zustände verwendet. Auch die psychologische Technik entspricht bei Beyle und


Die naturwissenschaftliche Weltanschauung

auch keines langen Beweises, daß beide Teile miteinander völlig unvereinbar
sind. Die psychologisch-posttivistische Geschichte und Kunst betrachten die Gegen¬
stände nur in ihrem gesetzmäßigen, notwendigen Zusammenhang. Für die
Wissenschaft gibt es keine wertvollen und wertlosen Gegenstände. Die einzige
Rangordnung ist die nach der kausalen Wirksamkeit. Das ist aber keine Rang¬
ordnung demWerte nach. JndividuelleWerte kennt dienaturwissenschastlicheMethode
nicht, der Diamant ist ihr nicht wertvoller als die Kohle, der gute Mensch nicht
bedeutsamer als der Verbrecher, Apollo von Belvedere hat nicht mehr Bedeutung
für sie als jeder andere Marmorblock. Auch Taines Rangordnung der Charaktere
läßt sich aus seiner positiven Wissenschaftslehre nicht begründen. Vom Stand¬
punkt seiner ganzen Weltanschauung aus hat die pnilo80prie as 1'art nur den
Wert einer gänzlich individuellen Ansicht. Soweit sie Taine als wissenschaftlich
allgemeingültig betrachtet, stellt sie eine klare Folgewidrigkeit gegenüber seinem
System dar. Normen sind eben keine Naturgesetze und lassen sich aus ihnen
durch keinen Kunstgriff ableiten, wenn auch noch die neuesten Ästhetiker es immer
wieder versuchen. Jedenfalls aber ergibt sich aus dieser Betonung der Normen
bei Taine, so folgewidrig sie auch sein mag, daß sein ganzes System keines¬
wegs ein Materialismus ist, auch seine Geschichtsauffassung ist nicht materialistisch.

Wenn wir nun fragen, wodurch Taine zu seiner Inkonsequenz veranlaßt
worden sein mag, so kann die Antwort nur lauten: durch seine faktischen Ansichten
über das Wesen der Kunst und die Aufgaben der Künstler. Die posttivistische, natur¬
wissenschaftliche Weltanschauung ist bei ihm, ist zu seiner Zeit in Frankreich viel¬
leicht überhaupt noch nicht soweit fortgeschritten, daß sie auch die Anschauungen
über das Wesen der Kunst nach ihrem System umgestaltet hat. Um das jedoch
mit Sicherheit feststellen zu können, müssen wir die oben geschilderte Praxis
Beyles und Balzacs mit den Forderungen Taines und den Folgerungen des
Posttivismus vergleichen.

Zunächst zeigen beide die geforderte „wissenschaftliche Tendenz". Alle Hand¬
lungen ergeben sich aus bestimmten Voraussetzungen mit absoluter Notwendigkeit.
Den mechanischen Ablauf des Geschehens konnten wir unzweifelhaft nachweisen.
Während dann die übrigen Forderungen Taines bei Beyle noch nicht mit aller
Deutlichkeit erfüllt sind, können wir bei Balzac alle Postulate der Theorie in
der Praxis aufzeigen. Bei ihm erscheint der Charakter nicht als mystischer
Hintergrund der Persönlichkeit, sondern als völlig analysierbares, notwendiges
Produkt einer kleinen Reihe von Tatsachen. Diese findet er in der Geschichte
der Familie, der Geburt, also der Rasse, den Verhältnissen, unter denen diese
Familie und das Individuum sich entwickelten, dem Milieu, und den besonderen
Umständen der individuellen Existenz, dem Moment. Aus diesen drei Formeln
setzt sich bei ihm jede Bestimmung des Charakters zusammen. Wir haben besonders
betont, welche Mühe, welche peinliche Sorgfalt, unbekümmert um die ästhetische
Wirkung, gerade Balzac auf diese Analyse des Wesens seiner Personen und ihrer
Zustände verwendet. Auch die psychologische Technik entspricht bei Beyle und


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[0031] Die naturwissenschaftliche Weltanschauung auch keines langen Beweises, daß beide Teile miteinander völlig unvereinbar sind. Die psychologisch-posttivistische Geschichte und Kunst betrachten die Gegen¬ stände nur in ihrem gesetzmäßigen, notwendigen Zusammenhang. Für die Wissenschaft gibt es keine wertvollen und wertlosen Gegenstände. Die einzige Rangordnung ist die nach der kausalen Wirksamkeit. Das ist aber keine Rang¬ ordnung demWerte nach. JndividuelleWerte kennt dienaturwissenschastlicheMethode nicht, der Diamant ist ihr nicht wertvoller als die Kohle, der gute Mensch nicht bedeutsamer als der Verbrecher, Apollo von Belvedere hat nicht mehr Bedeutung für sie als jeder andere Marmorblock. Auch Taines Rangordnung der Charaktere läßt sich aus seiner positiven Wissenschaftslehre nicht begründen. Vom Stand¬ punkt seiner ganzen Weltanschauung aus hat die pnilo80prie as 1'art nur den Wert einer gänzlich individuellen Ansicht. Soweit sie Taine als wissenschaftlich allgemeingültig betrachtet, stellt sie eine klare Folgewidrigkeit gegenüber seinem System dar. Normen sind eben keine Naturgesetze und lassen sich aus ihnen durch keinen Kunstgriff ableiten, wenn auch noch die neuesten Ästhetiker es immer wieder versuchen. Jedenfalls aber ergibt sich aus dieser Betonung der Normen bei Taine, so folgewidrig sie auch sein mag, daß sein ganzes System keines¬ wegs ein Materialismus ist, auch seine Geschichtsauffassung ist nicht materialistisch. Wenn wir nun fragen, wodurch Taine zu seiner Inkonsequenz veranlaßt worden sein mag, so kann die Antwort nur lauten: durch seine faktischen Ansichten über das Wesen der Kunst und die Aufgaben der Künstler. Die posttivistische, natur¬ wissenschaftliche Weltanschauung ist bei ihm, ist zu seiner Zeit in Frankreich viel¬ leicht überhaupt noch nicht soweit fortgeschritten, daß sie auch die Anschauungen über das Wesen der Kunst nach ihrem System umgestaltet hat. Um das jedoch mit Sicherheit feststellen zu können, müssen wir die oben geschilderte Praxis Beyles und Balzacs mit den Forderungen Taines und den Folgerungen des Posttivismus vergleichen. Zunächst zeigen beide die geforderte „wissenschaftliche Tendenz". Alle Hand¬ lungen ergeben sich aus bestimmten Voraussetzungen mit absoluter Notwendigkeit. Den mechanischen Ablauf des Geschehens konnten wir unzweifelhaft nachweisen. Während dann die übrigen Forderungen Taines bei Beyle noch nicht mit aller Deutlichkeit erfüllt sind, können wir bei Balzac alle Postulate der Theorie in der Praxis aufzeigen. Bei ihm erscheint der Charakter nicht als mystischer Hintergrund der Persönlichkeit, sondern als völlig analysierbares, notwendiges Produkt einer kleinen Reihe von Tatsachen. Diese findet er in der Geschichte der Familie, der Geburt, also der Rasse, den Verhältnissen, unter denen diese Familie und das Individuum sich entwickelten, dem Milieu, und den besonderen Umständen der individuellen Existenz, dem Moment. Aus diesen drei Formeln setzt sich bei ihm jede Bestimmung des Charakters zusammen. Wir haben besonders betont, welche Mühe, welche peinliche Sorgfalt, unbekümmert um die ästhetische Wirkung, gerade Balzac auf diese Analyse des Wesens seiner Personen und ihrer Zustände verwendet. Auch die psychologische Technik entspricht bei Beyle und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/31>, abgerufen am 01.07.2024.