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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Das Epos in der Gegenwart

aus dem Halbdunkel eines kleinen schweizerischen Verlages ans Licht gebracht
und erleben bei Dieterich stets neue Auslagen. Zwar finden sich noch alljährlich
strebsame Literarhistoriker, die nach bewährten Weingartnerschen Muster Spitteler
immer wieder neu entdecken. Die Zeit der Entdeckung aber ist für den Dichter
des "Olympischen Frühlings" wahrlich vorbei, vielmehr steht seine genetische
Erklärung, wie er scheinbar in eine unepische Zeit vom Himmel regnet, und
die ästhetische Durchdringung seiner gewaltigen Leistung noch aus. Neben
Spitteler dürften auch Richard Dehmels "Zwei Menschen", Liliencrons "Pogg-
fred" der Ablehnungstheorie ernste Sorgen machen. Noch ein Menetekel: ein
neuer Eifer ergreift formale Talente, die Sprachgewaltigen unserer Tage, Stefan
George, Poschaminer, Rudolf A. Schröder, die "vivina Lvmoeäia" und die
"Ilias" -- ein kühnes Unternehmen neben dem lieben alten Voß -- im neuen,
teils treuerem, teils frischerem Sprachgewand erscheinen zu lassen. Mag daran
immer buchhändlerische Regsamkeit einen gewissen Anteil haben, der künstlerische wie
der geschäftliche Erfolg bleibt ein Symptom dafür, daß Wandlungen im Anzug sind.
So haben vorerst die Schaffenden selbst die Theorie vom toten Epos unterwühlt.

Ohne im geringsten das Wohl und Wehe irgendeiner poetischen Gattung
im Auge zu haben, hat die neuere Altertumsforschung die gesamte Grundlage
der geschilderten Auffassung des Epos gelockert, jener Auffassung, die auf Bischer.
Hegel und wesentlich auf F. A. Wolf zurückgeht und der das Epos nur als
Produkt der naiven, unbewußten Volksphantasie erklärlich schien.

Schliermanns und Dörpfelds Ausgrabungen. Erwin Rhodes Untersuchungen
und neuerdings die fruchtbaren Zusammenfassungen der gewonnenen Gesichtspunkte
durch Eduard Meyer und Robert Pöhlmann haben uns das homerische Epos
als das Erzeugnis einer hochentwickelten, ständisch gegliederten Kultur enthüllt,
das vielmehr den Geist der kleinasiatischen Dekadenz als den der jugendlichen
Jonier verkörpert. Ferner haben die völkerpsychologischen Entdeckungen von
Lazarus und Steinthal und die Wundtsche Systematik den Glauben erschüttert,
das Epos gehöre ausschließlich der völkischen Jugendzeit. Bei dem heutigen
Stand der Frage kann die Wolf-Lachmannsche Auffassung kaum mehr vollgültig
verteidigt werden. In Niese ("Die Entwicklung der homerischen Poesie") hat
sich auch bereits der Amel-Lachmann, der Verteidiger des einheitlichen Homer
gefunden. Er bestreitet (S. 235) die Existenz einer historischen, epischen Volks¬
poesie bei den Griechen vor Homer und schreibt die gesamte Stoffentfaltung der
individuell schaffenden Dichterphantasie zu, beschränkt die Rolle der Volks¬
tradition auf die Veränderung von Einzelheiten und meint, "es habe bei den
Griechen überhaupt keinen allgemein bekannten Sagenstoff, den der Dichter
voraussetzen konnte und daher auch vor unserer heutigen Ilias und Odyssee
keine volkstümliche Sage vom trojanischen Kriege gegeben!"

Sowohl Wolf wie Niese haben einen bloß abgrenzenden Wert: die Wahrheit
kann sich nur innerhalb dieser Pole befinden und ihnen verdanken wir die
Klarheit der Problemstellung im einzelnen.


Grenzboten III 1912 39
Das Epos in der Gegenwart

aus dem Halbdunkel eines kleinen schweizerischen Verlages ans Licht gebracht
und erleben bei Dieterich stets neue Auslagen. Zwar finden sich noch alljährlich
strebsame Literarhistoriker, die nach bewährten Weingartnerschen Muster Spitteler
immer wieder neu entdecken. Die Zeit der Entdeckung aber ist für den Dichter
des „Olympischen Frühlings" wahrlich vorbei, vielmehr steht seine genetische
Erklärung, wie er scheinbar in eine unepische Zeit vom Himmel regnet, und
die ästhetische Durchdringung seiner gewaltigen Leistung noch aus. Neben
Spitteler dürften auch Richard Dehmels „Zwei Menschen", Liliencrons „Pogg-
fred" der Ablehnungstheorie ernste Sorgen machen. Noch ein Menetekel: ein
neuer Eifer ergreift formale Talente, die Sprachgewaltigen unserer Tage, Stefan
George, Poschaminer, Rudolf A. Schröder, die „vivina Lvmoeäia" und die
„Ilias" — ein kühnes Unternehmen neben dem lieben alten Voß — im neuen,
teils treuerem, teils frischerem Sprachgewand erscheinen zu lassen. Mag daran
immer buchhändlerische Regsamkeit einen gewissen Anteil haben, der künstlerische wie
der geschäftliche Erfolg bleibt ein Symptom dafür, daß Wandlungen im Anzug sind.
So haben vorerst die Schaffenden selbst die Theorie vom toten Epos unterwühlt.

Ohne im geringsten das Wohl und Wehe irgendeiner poetischen Gattung
im Auge zu haben, hat die neuere Altertumsforschung die gesamte Grundlage
der geschilderten Auffassung des Epos gelockert, jener Auffassung, die auf Bischer.
Hegel und wesentlich auf F. A. Wolf zurückgeht und der das Epos nur als
Produkt der naiven, unbewußten Volksphantasie erklärlich schien.

Schliermanns und Dörpfelds Ausgrabungen. Erwin Rhodes Untersuchungen
und neuerdings die fruchtbaren Zusammenfassungen der gewonnenen Gesichtspunkte
durch Eduard Meyer und Robert Pöhlmann haben uns das homerische Epos
als das Erzeugnis einer hochentwickelten, ständisch gegliederten Kultur enthüllt,
das vielmehr den Geist der kleinasiatischen Dekadenz als den der jugendlichen
Jonier verkörpert. Ferner haben die völkerpsychologischen Entdeckungen von
Lazarus und Steinthal und die Wundtsche Systematik den Glauben erschüttert,
das Epos gehöre ausschließlich der völkischen Jugendzeit. Bei dem heutigen
Stand der Frage kann die Wolf-Lachmannsche Auffassung kaum mehr vollgültig
verteidigt werden. In Niese („Die Entwicklung der homerischen Poesie") hat
sich auch bereits der Amel-Lachmann, der Verteidiger des einheitlichen Homer
gefunden. Er bestreitet (S. 235) die Existenz einer historischen, epischen Volks¬
poesie bei den Griechen vor Homer und schreibt die gesamte Stoffentfaltung der
individuell schaffenden Dichterphantasie zu, beschränkt die Rolle der Volks¬
tradition auf die Veränderung von Einzelheiten und meint, „es habe bei den
Griechen überhaupt keinen allgemein bekannten Sagenstoff, den der Dichter
voraussetzen konnte und daher auch vor unserer heutigen Ilias und Odyssee
keine volkstümliche Sage vom trojanischen Kriege gegeben!"

Sowohl Wolf wie Niese haben einen bloß abgrenzenden Wert: die Wahrheit
kann sich nur innerhalb dieser Pole befinden und ihnen verdanken wir die
Klarheit der Problemstellung im einzelnen.


Grenzboten III 1912 39
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[0313] Das Epos in der Gegenwart aus dem Halbdunkel eines kleinen schweizerischen Verlages ans Licht gebracht und erleben bei Dieterich stets neue Auslagen. Zwar finden sich noch alljährlich strebsame Literarhistoriker, die nach bewährten Weingartnerschen Muster Spitteler immer wieder neu entdecken. Die Zeit der Entdeckung aber ist für den Dichter des „Olympischen Frühlings" wahrlich vorbei, vielmehr steht seine genetische Erklärung, wie er scheinbar in eine unepische Zeit vom Himmel regnet, und die ästhetische Durchdringung seiner gewaltigen Leistung noch aus. Neben Spitteler dürften auch Richard Dehmels „Zwei Menschen", Liliencrons „Pogg- fred" der Ablehnungstheorie ernste Sorgen machen. Noch ein Menetekel: ein neuer Eifer ergreift formale Talente, die Sprachgewaltigen unserer Tage, Stefan George, Poschaminer, Rudolf A. Schröder, die „vivina Lvmoeäia" und die „Ilias" — ein kühnes Unternehmen neben dem lieben alten Voß — im neuen, teils treuerem, teils frischerem Sprachgewand erscheinen zu lassen. Mag daran immer buchhändlerische Regsamkeit einen gewissen Anteil haben, der künstlerische wie der geschäftliche Erfolg bleibt ein Symptom dafür, daß Wandlungen im Anzug sind. So haben vorerst die Schaffenden selbst die Theorie vom toten Epos unterwühlt. Ohne im geringsten das Wohl und Wehe irgendeiner poetischen Gattung im Auge zu haben, hat die neuere Altertumsforschung die gesamte Grundlage der geschilderten Auffassung des Epos gelockert, jener Auffassung, die auf Bischer. Hegel und wesentlich auf F. A. Wolf zurückgeht und der das Epos nur als Produkt der naiven, unbewußten Volksphantasie erklärlich schien. Schliermanns und Dörpfelds Ausgrabungen. Erwin Rhodes Untersuchungen und neuerdings die fruchtbaren Zusammenfassungen der gewonnenen Gesichtspunkte durch Eduard Meyer und Robert Pöhlmann haben uns das homerische Epos als das Erzeugnis einer hochentwickelten, ständisch gegliederten Kultur enthüllt, das vielmehr den Geist der kleinasiatischen Dekadenz als den der jugendlichen Jonier verkörpert. Ferner haben die völkerpsychologischen Entdeckungen von Lazarus und Steinthal und die Wundtsche Systematik den Glauben erschüttert, das Epos gehöre ausschließlich der völkischen Jugendzeit. Bei dem heutigen Stand der Frage kann die Wolf-Lachmannsche Auffassung kaum mehr vollgültig verteidigt werden. In Niese („Die Entwicklung der homerischen Poesie") hat sich auch bereits der Amel-Lachmann, der Verteidiger des einheitlichen Homer gefunden. Er bestreitet (S. 235) die Existenz einer historischen, epischen Volks¬ poesie bei den Griechen vor Homer und schreibt die gesamte Stoffentfaltung der individuell schaffenden Dichterphantasie zu, beschränkt die Rolle der Volks¬ tradition auf die Veränderung von Einzelheiten und meint, „es habe bei den Griechen überhaupt keinen allgemein bekannten Sagenstoff, den der Dichter voraussetzen konnte und daher auch vor unserer heutigen Ilias und Odyssee keine volkstümliche Sage vom trojanischen Kriege gegeben!" Sowohl Wolf wie Niese haben einen bloß abgrenzenden Wert: die Wahrheit kann sich nur innerhalb dieser Pole befinden und ihnen verdanken wir die Klarheit der Problemstellung im einzelnen. Grenzboten III 1912 39

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/313>, abgerufen am 03.07.2024.