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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Das Lpos in der Gegenwart

und ohne jegliche Lebensberechtigung, zumindest ohne jegliche Bedeutung für die
Gegenwart, reiner Philologenschmaus. In unserer modernen Zeit gar wäre
das Epos ein Ding der Unmöglichkeit. Es ward ein Dogma, daß das Epos
einem unwiederbringlich verschwundenen Zeitalter angehöre und nur von
historischem Interesse sein könne. "Es gibt kaum einen zweiten Satz -- so
klagt Wilhelm Jordan 1876 in seinen Epischen Briefen --, über den sämtliche
neuere Ästhetiker und Geschichtschreiber der Literatur so zweifellos einstimmig
gewesen wären." Mit ganz unberechtigter Selbstzuversicht fügt er hinzu:
"-- bis zu meiner tatsächlichen Widerlegung durch meine Nibelungen und ihren
Erfolg bei den Deutschen zweier Hemisphären." Ach, der wackere Rhapsode hat
sich und seine Erfolge überschätzt: der Bann wurde vom Epos noch nicht gelöst,
es blieb noch eine ziemliche Weile als "Oberlehrerpoeste" gebrandmarkt und alle
Welt schauderte bei dem Gedanken eines modernen Epos. Noch 1895 konnte
Friedrich Spielhagen seine Anschauung der Dinge mit Fug und Recht für die
allgemeine, für die herrschende halten; er durfte in feiner Festrede der Goethe¬
gesellschaft mit Jordan und Hamerling die Gattung selber verwerfen. "Denn
heute gibt es keine wahrhaftige und ernsthaft zu nehmende epische Poesie außer
der Form des Romans." Eine Reihe von Argumenten nahm er aus aller
Leute Mund. Mythos und Sage sind versiegt, das Volk dichte nicht mehr mit
seinein Sänger, die Kultur hat uns längst aller epischen Primitivität beraubt;
die vielfach gegliederte Gesellschaft, die Arbeitsteilung, der Weltverkehr, die
Kompliziertheit des Lebens bietet keinem einzelnen Dichter die Möglichkeit mehr,
die Gesamtheit des nationalen Daseins mit einheitlichem Blick zu erfassen und
in symbolischer Größe zu gestalten. Glücklich, wer als Romancier, befreit von
der unnatürlichen Fessel des Verses, die Einzelerscheinung erschöpft. Der Roman
wurde zum Erben des Epos aufgeschrien, ja er gilt heute noch als die moderne
Form des Epos.

Kaum haben wir's aber mit der Theorie so herrlich weit gebracht, da
stürmte es von drei Seiten ein auf das Gebäude. Die ausübende Dichtkunst,
die historische Forschung und die bildende Kunst warfen der Reihe nach Erscheinungen
auf die Oberfläche, die sich in den schönen Rahmen gar nicht fügen wollten.

Seitens der Dichtkunst war's mit dem komischen Epos immer ein Hacken.
Diese ward ihrer Volkstümlichkeit eigentlich nie verlustig wie ihre ältere, würdigere
Schwester. Plötzlich wurde sie sogar Mode: der "Renommist" von Zachariä,
noch mehr die "Jobsiade" von Kortüm erlebten Neuauflagen, Neubearbeitungen
die Unzahl, Busch und sein Gefolge wurden mit komischen Epen die Lieblinge
des ganzen Volkes. Doch dies nur beiläufig, da man ja das komische Epos
mit einer leichten Handbewegung in den Bereich der Groteske verweisen konnte,
außerhalb der Grenzen "großer" Literatur. Da blieb der Roman tatsächlich
Alleinherrscher. Immerhin tauchten auch Epen großen Stils auf, die sich trotz
allen Mißtrauens, trotz aller Abneigung gegen die Gattung durchgesetzt haben.
Spittelers "Prometheus und Epimetheus", sein "Olympischer Frühling" werden


Das Lpos in der Gegenwart

und ohne jegliche Lebensberechtigung, zumindest ohne jegliche Bedeutung für die
Gegenwart, reiner Philologenschmaus. In unserer modernen Zeit gar wäre
das Epos ein Ding der Unmöglichkeit. Es ward ein Dogma, daß das Epos
einem unwiederbringlich verschwundenen Zeitalter angehöre und nur von
historischem Interesse sein könne. „Es gibt kaum einen zweiten Satz — so
klagt Wilhelm Jordan 1876 in seinen Epischen Briefen —, über den sämtliche
neuere Ästhetiker und Geschichtschreiber der Literatur so zweifellos einstimmig
gewesen wären." Mit ganz unberechtigter Selbstzuversicht fügt er hinzu:
„— bis zu meiner tatsächlichen Widerlegung durch meine Nibelungen und ihren
Erfolg bei den Deutschen zweier Hemisphären." Ach, der wackere Rhapsode hat
sich und seine Erfolge überschätzt: der Bann wurde vom Epos noch nicht gelöst,
es blieb noch eine ziemliche Weile als „Oberlehrerpoeste" gebrandmarkt und alle
Welt schauderte bei dem Gedanken eines modernen Epos. Noch 1895 konnte
Friedrich Spielhagen seine Anschauung der Dinge mit Fug und Recht für die
allgemeine, für die herrschende halten; er durfte in feiner Festrede der Goethe¬
gesellschaft mit Jordan und Hamerling die Gattung selber verwerfen. „Denn
heute gibt es keine wahrhaftige und ernsthaft zu nehmende epische Poesie außer
der Form des Romans." Eine Reihe von Argumenten nahm er aus aller
Leute Mund. Mythos und Sage sind versiegt, das Volk dichte nicht mehr mit
seinein Sänger, die Kultur hat uns längst aller epischen Primitivität beraubt;
die vielfach gegliederte Gesellschaft, die Arbeitsteilung, der Weltverkehr, die
Kompliziertheit des Lebens bietet keinem einzelnen Dichter die Möglichkeit mehr,
die Gesamtheit des nationalen Daseins mit einheitlichem Blick zu erfassen und
in symbolischer Größe zu gestalten. Glücklich, wer als Romancier, befreit von
der unnatürlichen Fessel des Verses, die Einzelerscheinung erschöpft. Der Roman
wurde zum Erben des Epos aufgeschrien, ja er gilt heute noch als die moderne
Form des Epos.

Kaum haben wir's aber mit der Theorie so herrlich weit gebracht, da
stürmte es von drei Seiten ein auf das Gebäude. Die ausübende Dichtkunst,
die historische Forschung und die bildende Kunst warfen der Reihe nach Erscheinungen
auf die Oberfläche, die sich in den schönen Rahmen gar nicht fügen wollten.

Seitens der Dichtkunst war's mit dem komischen Epos immer ein Hacken.
Diese ward ihrer Volkstümlichkeit eigentlich nie verlustig wie ihre ältere, würdigere
Schwester. Plötzlich wurde sie sogar Mode: der „Renommist" von Zachariä,
noch mehr die „Jobsiade" von Kortüm erlebten Neuauflagen, Neubearbeitungen
die Unzahl, Busch und sein Gefolge wurden mit komischen Epen die Lieblinge
des ganzen Volkes. Doch dies nur beiläufig, da man ja das komische Epos
mit einer leichten Handbewegung in den Bereich der Groteske verweisen konnte,
außerhalb der Grenzen „großer" Literatur. Da blieb der Roman tatsächlich
Alleinherrscher. Immerhin tauchten auch Epen großen Stils auf, die sich trotz
allen Mißtrauens, trotz aller Abneigung gegen die Gattung durchgesetzt haben.
Spittelers „Prometheus und Epimetheus", sein „Olympischer Frühling" werden


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[0312] Das Lpos in der Gegenwart und ohne jegliche Lebensberechtigung, zumindest ohne jegliche Bedeutung für die Gegenwart, reiner Philologenschmaus. In unserer modernen Zeit gar wäre das Epos ein Ding der Unmöglichkeit. Es ward ein Dogma, daß das Epos einem unwiederbringlich verschwundenen Zeitalter angehöre und nur von historischem Interesse sein könne. „Es gibt kaum einen zweiten Satz — so klagt Wilhelm Jordan 1876 in seinen Epischen Briefen —, über den sämtliche neuere Ästhetiker und Geschichtschreiber der Literatur so zweifellos einstimmig gewesen wären." Mit ganz unberechtigter Selbstzuversicht fügt er hinzu: „— bis zu meiner tatsächlichen Widerlegung durch meine Nibelungen und ihren Erfolg bei den Deutschen zweier Hemisphären." Ach, der wackere Rhapsode hat sich und seine Erfolge überschätzt: der Bann wurde vom Epos noch nicht gelöst, es blieb noch eine ziemliche Weile als „Oberlehrerpoeste" gebrandmarkt und alle Welt schauderte bei dem Gedanken eines modernen Epos. Noch 1895 konnte Friedrich Spielhagen seine Anschauung der Dinge mit Fug und Recht für die allgemeine, für die herrschende halten; er durfte in feiner Festrede der Goethe¬ gesellschaft mit Jordan und Hamerling die Gattung selber verwerfen. „Denn heute gibt es keine wahrhaftige und ernsthaft zu nehmende epische Poesie außer der Form des Romans." Eine Reihe von Argumenten nahm er aus aller Leute Mund. Mythos und Sage sind versiegt, das Volk dichte nicht mehr mit seinein Sänger, die Kultur hat uns längst aller epischen Primitivität beraubt; die vielfach gegliederte Gesellschaft, die Arbeitsteilung, der Weltverkehr, die Kompliziertheit des Lebens bietet keinem einzelnen Dichter die Möglichkeit mehr, die Gesamtheit des nationalen Daseins mit einheitlichem Blick zu erfassen und in symbolischer Größe zu gestalten. Glücklich, wer als Romancier, befreit von der unnatürlichen Fessel des Verses, die Einzelerscheinung erschöpft. Der Roman wurde zum Erben des Epos aufgeschrien, ja er gilt heute noch als die moderne Form des Epos. Kaum haben wir's aber mit der Theorie so herrlich weit gebracht, da stürmte es von drei Seiten ein auf das Gebäude. Die ausübende Dichtkunst, die historische Forschung und die bildende Kunst warfen der Reihe nach Erscheinungen auf die Oberfläche, die sich in den schönen Rahmen gar nicht fügen wollten. Seitens der Dichtkunst war's mit dem komischen Epos immer ein Hacken. Diese ward ihrer Volkstümlichkeit eigentlich nie verlustig wie ihre ältere, würdigere Schwester. Plötzlich wurde sie sogar Mode: der „Renommist" von Zachariä, noch mehr die „Jobsiade" von Kortüm erlebten Neuauflagen, Neubearbeitungen die Unzahl, Busch und sein Gefolge wurden mit komischen Epen die Lieblinge des ganzen Volkes. Doch dies nur beiläufig, da man ja das komische Epos mit einer leichten Handbewegung in den Bereich der Groteske verweisen konnte, außerhalb der Grenzen „großer" Literatur. Da blieb der Roman tatsächlich Alleinherrscher. Immerhin tauchten auch Epen großen Stils auf, die sich trotz allen Mißtrauens, trotz aller Abneigung gegen die Gattung durchgesetzt haben. Spittelers „Prometheus und Epimetheus", sein „Olympischer Frühling" werden

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/312>, abgerufen am 22.07.2024.