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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Die naturwissenschaftliche Weltanschauung

Auch dabei muß nach den Gründen und Kriterien der Beurteilung gefragt
werden. Mit anderen Worten: es muß auch ästhetische "Normen" geben.
Tanne sah das völlig ein und hat selbst solche Normen aufzustellen versucht.
Auch für ihn stellen Beobachtung und Wirklichkeit nur den Stoff dar, mit dem
der Dichter arbeiten soll. Seine eigene Schöpferaufgabe ist dagegen, in diesen
Stoff eine Einheit zu bringen, einen beherrschenden Charakter oder Gedanken
herauszuarbeiten, nach dem alle Einzelheiten konvergieren, der allein Einzelheiten
Zweck und Sinn verleiht. Auf dieser Einheit eines Kunstwerkes beruht sein
"LaraLtörs bisiMisant", sein mehr oder weniger günstiger Eindruck auf das
Publikum. Also eine bestimmte Grundidee, eine bestimmte künstlerische Absicht
muß das Werk beherrschen, wenn es aus einem Chaos einzelner Wirklichkeits¬
momente zu einem Kosmos im Reiche der Kunst werden soll. Doch nicht alle
Charaktere, welche die Einheit eines Werkes bilden, nicht alle Ideen, welche
die Wirklichkeit forment durchdringen können, sind gleichwertig. Es gibt eben
Kunstwerke verschiedenen Wertes. Taine fand das Kennzeichen zur Klassifizierung
der Werke in dem Prinzip der Rangordnung der Charaktere. Der Wert eines
Kunstwerkes richtet sich nach dem Grade der Bedeutung des beherrschenden
Charakters und die Bedeutung des Charakters nach seiner Tiefe und Eigenart.
Auf der untersten Stufe der Bedeutung stehen die gewöhnlichen Charaktere, die
Alltagsmenschen, die sich durch nichts voneinander unterscheiden, denen Indivi¬
dualität und Eigenart völlig mangeln. Darüber stehen die Kämpfer, die
das innere Gleichgewicht verloren haben und aus der trägen Masse heraus¬
ragen, die großen problematischen Naturen. Bei ihnen tritt uns die Größe der
menschlichen Leidenschaften in ihrer Erhabenheit entgegen. Aber diese riesen¬
haften Gestalten sind noch nicht die vollkommenen Charaktere. Über ihnen stehen
die Helden, welche die Phantasie der Völker in den ewigen Werken der Vorzeit
geschaffen hat, die gewaltigen Gestalten der Volksepen, einer Ilias, eines
Nibelungenliedes, eines Rolandsliedes. Das sind die höchsten Typen, welche
die Menschheit erreicht und die Dichtkunst dargestellt hat. Die Bedeutung einer
historischen Person, einer sozialen Gruppe oder geschichtlichen Periode für den
Künstler richtet sich ihrerseits nach der Kraft, mit der sie ihr Wesen im Laufe
der Zeiten erhalten und zur Geltung bringen konnten. Was durch Jahrhunderte
nachwirkt, ist um so viel auch bedeutsamer, als die spurlos verschwindenden
Erscheinungen des Alltags. Fragen, welche die Menschheit seit Urbeginn der
Zeiten bewegen, sind auch sür die künstlerische Behandlung wertvoller als die
Modezänkereien, die ihren Gegenstand mit jedem Jahre oder doch Jahrzehnt
wechseln. Das höchste, was ein Dichter unserer Tage noch leisten kann, ist, daß
er eine gewaltige Zeit in ihren großen Repräsentanten uns wirksam vor Angen
stellt, und so ist Goethes "Faust" auch für Taine einer der glänzendsten Ver¬
treter einer der bedeutsamsten Zeiten, der Renaissance.

Taines Kunstphilosophie zerfällt also in zwei ganz deutlich getrennte Teile,
einen rein psychologisch-soziologischen und einen ästhetisch-normativen. Es bedarf


Die naturwissenschaftliche Weltanschauung

Auch dabei muß nach den Gründen und Kriterien der Beurteilung gefragt
werden. Mit anderen Worten: es muß auch ästhetische „Normen" geben.
Tanne sah das völlig ein und hat selbst solche Normen aufzustellen versucht.
Auch für ihn stellen Beobachtung und Wirklichkeit nur den Stoff dar, mit dem
der Dichter arbeiten soll. Seine eigene Schöpferaufgabe ist dagegen, in diesen
Stoff eine Einheit zu bringen, einen beherrschenden Charakter oder Gedanken
herauszuarbeiten, nach dem alle Einzelheiten konvergieren, der allein Einzelheiten
Zweck und Sinn verleiht. Auf dieser Einheit eines Kunstwerkes beruht sein
„LaraLtörs bisiMisant", sein mehr oder weniger günstiger Eindruck auf das
Publikum. Also eine bestimmte Grundidee, eine bestimmte künstlerische Absicht
muß das Werk beherrschen, wenn es aus einem Chaos einzelner Wirklichkeits¬
momente zu einem Kosmos im Reiche der Kunst werden soll. Doch nicht alle
Charaktere, welche die Einheit eines Werkes bilden, nicht alle Ideen, welche
die Wirklichkeit forment durchdringen können, sind gleichwertig. Es gibt eben
Kunstwerke verschiedenen Wertes. Taine fand das Kennzeichen zur Klassifizierung
der Werke in dem Prinzip der Rangordnung der Charaktere. Der Wert eines
Kunstwerkes richtet sich nach dem Grade der Bedeutung des beherrschenden
Charakters und die Bedeutung des Charakters nach seiner Tiefe und Eigenart.
Auf der untersten Stufe der Bedeutung stehen die gewöhnlichen Charaktere, die
Alltagsmenschen, die sich durch nichts voneinander unterscheiden, denen Indivi¬
dualität und Eigenart völlig mangeln. Darüber stehen die Kämpfer, die
das innere Gleichgewicht verloren haben und aus der trägen Masse heraus¬
ragen, die großen problematischen Naturen. Bei ihnen tritt uns die Größe der
menschlichen Leidenschaften in ihrer Erhabenheit entgegen. Aber diese riesen¬
haften Gestalten sind noch nicht die vollkommenen Charaktere. Über ihnen stehen
die Helden, welche die Phantasie der Völker in den ewigen Werken der Vorzeit
geschaffen hat, die gewaltigen Gestalten der Volksepen, einer Ilias, eines
Nibelungenliedes, eines Rolandsliedes. Das sind die höchsten Typen, welche
die Menschheit erreicht und die Dichtkunst dargestellt hat. Die Bedeutung einer
historischen Person, einer sozialen Gruppe oder geschichtlichen Periode für den
Künstler richtet sich ihrerseits nach der Kraft, mit der sie ihr Wesen im Laufe
der Zeiten erhalten und zur Geltung bringen konnten. Was durch Jahrhunderte
nachwirkt, ist um so viel auch bedeutsamer, als die spurlos verschwindenden
Erscheinungen des Alltags. Fragen, welche die Menschheit seit Urbeginn der
Zeiten bewegen, sind auch sür die künstlerische Behandlung wertvoller als die
Modezänkereien, die ihren Gegenstand mit jedem Jahre oder doch Jahrzehnt
wechseln. Das höchste, was ein Dichter unserer Tage noch leisten kann, ist, daß
er eine gewaltige Zeit in ihren großen Repräsentanten uns wirksam vor Angen
stellt, und so ist Goethes „Faust" auch für Taine einer der glänzendsten Ver¬
treter einer der bedeutsamsten Zeiten, der Renaissance.

Taines Kunstphilosophie zerfällt also in zwei ganz deutlich getrennte Teile,
einen rein psychologisch-soziologischen und einen ästhetisch-normativen. Es bedarf


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[0030] Die naturwissenschaftliche Weltanschauung Auch dabei muß nach den Gründen und Kriterien der Beurteilung gefragt werden. Mit anderen Worten: es muß auch ästhetische „Normen" geben. Tanne sah das völlig ein und hat selbst solche Normen aufzustellen versucht. Auch für ihn stellen Beobachtung und Wirklichkeit nur den Stoff dar, mit dem der Dichter arbeiten soll. Seine eigene Schöpferaufgabe ist dagegen, in diesen Stoff eine Einheit zu bringen, einen beherrschenden Charakter oder Gedanken herauszuarbeiten, nach dem alle Einzelheiten konvergieren, der allein Einzelheiten Zweck und Sinn verleiht. Auf dieser Einheit eines Kunstwerkes beruht sein „LaraLtörs bisiMisant", sein mehr oder weniger günstiger Eindruck auf das Publikum. Also eine bestimmte Grundidee, eine bestimmte künstlerische Absicht muß das Werk beherrschen, wenn es aus einem Chaos einzelner Wirklichkeits¬ momente zu einem Kosmos im Reiche der Kunst werden soll. Doch nicht alle Charaktere, welche die Einheit eines Werkes bilden, nicht alle Ideen, welche die Wirklichkeit forment durchdringen können, sind gleichwertig. Es gibt eben Kunstwerke verschiedenen Wertes. Taine fand das Kennzeichen zur Klassifizierung der Werke in dem Prinzip der Rangordnung der Charaktere. Der Wert eines Kunstwerkes richtet sich nach dem Grade der Bedeutung des beherrschenden Charakters und die Bedeutung des Charakters nach seiner Tiefe und Eigenart. Auf der untersten Stufe der Bedeutung stehen die gewöhnlichen Charaktere, die Alltagsmenschen, die sich durch nichts voneinander unterscheiden, denen Indivi¬ dualität und Eigenart völlig mangeln. Darüber stehen die Kämpfer, die das innere Gleichgewicht verloren haben und aus der trägen Masse heraus¬ ragen, die großen problematischen Naturen. Bei ihnen tritt uns die Größe der menschlichen Leidenschaften in ihrer Erhabenheit entgegen. Aber diese riesen¬ haften Gestalten sind noch nicht die vollkommenen Charaktere. Über ihnen stehen die Helden, welche die Phantasie der Völker in den ewigen Werken der Vorzeit geschaffen hat, die gewaltigen Gestalten der Volksepen, einer Ilias, eines Nibelungenliedes, eines Rolandsliedes. Das sind die höchsten Typen, welche die Menschheit erreicht und die Dichtkunst dargestellt hat. Die Bedeutung einer historischen Person, einer sozialen Gruppe oder geschichtlichen Periode für den Künstler richtet sich ihrerseits nach der Kraft, mit der sie ihr Wesen im Laufe der Zeiten erhalten und zur Geltung bringen konnten. Was durch Jahrhunderte nachwirkt, ist um so viel auch bedeutsamer, als die spurlos verschwindenden Erscheinungen des Alltags. Fragen, welche die Menschheit seit Urbeginn der Zeiten bewegen, sind auch sür die künstlerische Behandlung wertvoller als die Modezänkereien, die ihren Gegenstand mit jedem Jahre oder doch Jahrzehnt wechseln. Das höchste, was ein Dichter unserer Tage noch leisten kann, ist, daß er eine gewaltige Zeit in ihren großen Repräsentanten uns wirksam vor Angen stellt, und so ist Goethes „Faust" auch für Taine einer der glänzendsten Ver¬ treter einer der bedeutsamsten Zeiten, der Renaissance. Taines Kunstphilosophie zerfällt also in zwei ganz deutlich getrennte Teile, einen rein psychologisch-soziologischen und einen ästhetisch-normativen. Es bedarf

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/30>, abgerufen am 01.07.2024.