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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Die naturwissenschaftliche Weltanschauung

erblicher Belastung, also die ganze Grundlage des Charakters, soweit sie durch
die Biologie des Individuums oder des sozialen Ganzen bedingt ist. Doch
diese Rasse lebt sich nicht im leeren Raum, sondern in einer bestimmten Um¬
gebung aus. Diese Umgebung beeinflußt das Handeln und gibt ihm eine
bestimmte Richtung, die mit zum Charakter der geschichtlichen Person gehört.
Diese zweite wirkende Ursache ist das Milieu. Zu ihm ist natürlich auch die
ganze physische Umgebung des Individuums oder Volkes zu rechnen, der Boden,
den es bebaut, das Klima ebensogut wie die durchschnittliche Regenmenge und
Jahrestemperatur. So entsteht aus vielen Umständen die allgemeine Geistes¬
richtung eines Volkes oder eines Zeitalters, welche in jedem einzelnen Geiste
wiederscheint und wirksam ist, und der Mensch glaubt der Stimme seines Innern
zu folgen, während aus seinem Innern, als dem entsprechenden Organ, doch
nur der Geist feiner Zeit zu ihm spricht. Sein Denken ist notwendig wie der
Lauf der Planeten. Die äußere Lage dann ist die besondere Veranlassung, die
besondere Gelegenheit, die einzelne Ereignisse hervorruft, indem sie den Grund¬
charakter zum Wirken veranlaßt. Durch diese drei Formeln: Rasse, Milieu und
Moment, wird die Seele eines Volkes oder eines Individuums genau definiert, und
aus diesen Definitionen kann man, wie aus Euklids Definitionen, mors seometrico
(der Ausdruck findet sich bei Taine selbst) die ganze Reihe der geschichtlichen Ereignisse
entwickeln. Der Geschichtsschreiber muß also diese Grunddefinitionen zu gewinnen
suchen; erst wenn ihm das gelungen ist. hat er die wissenschaftliche Sicherheit,
daß er die Menschen und die Ereignisse erfaßt hat. wie sie wirklich sind.

Diese Kenntnis der treibenden Grundkräfte in der Entwicklung der Menschheit
kommt natürlich auch dem Dichter zugute. Sollen seine Schöpfungen überhaupt
Menschen sein, so muß ihre Wirkungsweise sich auf dieselben Formeln gründen
wie die Handlungen der historischen Personen. Ist das Wesen der geistigen
Entwicklung erkannt, so muß auch der Dichter dieses Wesen anerkennen und zur
Grundlage seiner Schöpfungen machen und. wenn er auf dem Boden steht aus
dem jene Erkenntnisse entspringen, so wird er das um so lieber tun. als seine
Arbeit ihm. da sie nun bestimmte Regeln hat. wesentlich erleichtert mürb Dre
Schöpfung wirklicher Gestalten ist nicht mehr Tat eines mystischen Genres,
sondern der Erfolg streng methodischer, wissenschaftlicher Arwt. Auch aus der
Kunstübung verschwindet jedes Dunkel. Die Geschichte ist nach Taues ergenen
Worten ein wahrer Roman, also der Roman mögliche Gesuchte; seine GesMchts-
philosophie ist also zugleich Kunstphilosophie.

Doch kann sie nur einen Teil derselben ausmachen. Die Fragen der
eigentlichen Ästhetik haben wir bis jetzt noch gar nicht berührt: die Fragen nach
dem Zweck der Kunst und nach dem Wert der einzelnen Gegenstande für dre
Kunst. Nicht jeder Gegenstand kann für die künstlensche Behandlung gleuh
qeei net sein und um eine Auswahl zu treffen muß der Künstler einen Maßstab
haben, nach dem er ihren Wert bemißt. Ebenso werden d:e °°rha" ^
Kunstwerke verschieden beurteilt, die einen anerkannt. d:e anderen gelehnt.


Grenzboten III 1S12
Die naturwissenschaftliche Weltanschauung

erblicher Belastung, also die ganze Grundlage des Charakters, soweit sie durch
die Biologie des Individuums oder des sozialen Ganzen bedingt ist. Doch
diese Rasse lebt sich nicht im leeren Raum, sondern in einer bestimmten Um¬
gebung aus. Diese Umgebung beeinflußt das Handeln und gibt ihm eine
bestimmte Richtung, die mit zum Charakter der geschichtlichen Person gehört.
Diese zweite wirkende Ursache ist das Milieu. Zu ihm ist natürlich auch die
ganze physische Umgebung des Individuums oder Volkes zu rechnen, der Boden,
den es bebaut, das Klima ebensogut wie die durchschnittliche Regenmenge und
Jahrestemperatur. So entsteht aus vielen Umständen die allgemeine Geistes¬
richtung eines Volkes oder eines Zeitalters, welche in jedem einzelnen Geiste
wiederscheint und wirksam ist, und der Mensch glaubt der Stimme seines Innern
zu folgen, während aus seinem Innern, als dem entsprechenden Organ, doch
nur der Geist feiner Zeit zu ihm spricht. Sein Denken ist notwendig wie der
Lauf der Planeten. Die äußere Lage dann ist die besondere Veranlassung, die
besondere Gelegenheit, die einzelne Ereignisse hervorruft, indem sie den Grund¬
charakter zum Wirken veranlaßt. Durch diese drei Formeln: Rasse, Milieu und
Moment, wird die Seele eines Volkes oder eines Individuums genau definiert, und
aus diesen Definitionen kann man, wie aus Euklids Definitionen, mors seometrico
(der Ausdruck findet sich bei Taine selbst) die ganze Reihe der geschichtlichen Ereignisse
entwickeln. Der Geschichtsschreiber muß also diese Grunddefinitionen zu gewinnen
suchen; erst wenn ihm das gelungen ist. hat er die wissenschaftliche Sicherheit,
daß er die Menschen und die Ereignisse erfaßt hat. wie sie wirklich sind.

Diese Kenntnis der treibenden Grundkräfte in der Entwicklung der Menschheit
kommt natürlich auch dem Dichter zugute. Sollen seine Schöpfungen überhaupt
Menschen sein, so muß ihre Wirkungsweise sich auf dieselben Formeln gründen
wie die Handlungen der historischen Personen. Ist das Wesen der geistigen
Entwicklung erkannt, so muß auch der Dichter dieses Wesen anerkennen und zur
Grundlage seiner Schöpfungen machen und. wenn er auf dem Boden steht aus
dem jene Erkenntnisse entspringen, so wird er das um so lieber tun. als seine
Arbeit ihm. da sie nun bestimmte Regeln hat. wesentlich erleichtert mürb Dre
Schöpfung wirklicher Gestalten ist nicht mehr Tat eines mystischen Genres,
sondern der Erfolg streng methodischer, wissenschaftlicher Arwt. Auch aus der
Kunstübung verschwindet jedes Dunkel. Die Geschichte ist nach Taues ergenen
Worten ein wahrer Roman, also der Roman mögliche Gesuchte; seine GesMchts-
philosophie ist also zugleich Kunstphilosophie.

Doch kann sie nur einen Teil derselben ausmachen. Die Fragen der
eigentlichen Ästhetik haben wir bis jetzt noch gar nicht berührt: die Fragen nach
dem Zweck der Kunst und nach dem Wert der einzelnen Gegenstande für dre
Kunst. Nicht jeder Gegenstand kann für die künstlensche Behandlung gleuh
qeei net sein und um eine Auswahl zu treffen muß der Künstler einen Maßstab
haben, nach dem er ihren Wert bemißt. Ebenso werden d:e °°rha" ^
Kunstwerke verschieden beurteilt, die einen anerkannt. d:e anderen gelehnt.


Grenzboten III 1S12
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[0029] Die naturwissenschaftliche Weltanschauung erblicher Belastung, also die ganze Grundlage des Charakters, soweit sie durch die Biologie des Individuums oder des sozialen Ganzen bedingt ist. Doch diese Rasse lebt sich nicht im leeren Raum, sondern in einer bestimmten Um¬ gebung aus. Diese Umgebung beeinflußt das Handeln und gibt ihm eine bestimmte Richtung, die mit zum Charakter der geschichtlichen Person gehört. Diese zweite wirkende Ursache ist das Milieu. Zu ihm ist natürlich auch die ganze physische Umgebung des Individuums oder Volkes zu rechnen, der Boden, den es bebaut, das Klima ebensogut wie die durchschnittliche Regenmenge und Jahrestemperatur. So entsteht aus vielen Umständen die allgemeine Geistes¬ richtung eines Volkes oder eines Zeitalters, welche in jedem einzelnen Geiste wiederscheint und wirksam ist, und der Mensch glaubt der Stimme seines Innern zu folgen, während aus seinem Innern, als dem entsprechenden Organ, doch nur der Geist feiner Zeit zu ihm spricht. Sein Denken ist notwendig wie der Lauf der Planeten. Die äußere Lage dann ist die besondere Veranlassung, die besondere Gelegenheit, die einzelne Ereignisse hervorruft, indem sie den Grund¬ charakter zum Wirken veranlaßt. Durch diese drei Formeln: Rasse, Milieu und Moment, wird die Seele eines Volkes oder eines Individuums genau definiert, und aus diesen Definitionen kann man, wie aus Euklids Definitionen, mors seometrico (der Ausdruck findet sich bei Taine selbst) die ganze Reihe der geschichtlichen Ereignisse entwickeln. Der Geschichtsschreiber muß also diese Grunddefinitionen zu gewinnen suchen; erst wenn ihm das gelungen ist. hat er die wissenschaftliche Sicherheit, daß er die Menschen und die Ereignisse erfaßt hat. wie sie wirklich sind. Diese Kenntnis der treibenden Grundkräfte in der Entwicklung der Menschheit kommt natürlich auch dem Dichter zugute. Sollen seine Schöpfungen überhaupt Menschen sein, so muß ihre Wirkungsweise sich auf dieselben Formeln gründen wie die Handlungen der historischen Personen. Ist das Wesen der geistigen Entwicklung erkannt, so muß auch der Dichter dieses Wesen anerkennen und zur Grundlage seiner Schöpfungen machen und. wenn er auf dem Boden steht aus dem jene Erkenntnisse entspringen, so wird er das um so lieber tun. als seine Arbeit ihm. da sie nun bestimmte Regeln hat. wesentlich erleichtert mürb Dre Schöpfung wirklicher Gestalten ist nicht mehr Tat eines mystischen Genres, sondern der Erfolg streng methodischer, wissenschaftlicher Arwt. Auch aus der Kunstübung verschwindet jedes Dunkel. Die Geschichte ist nach Taues ergenen Worten ein wahrer Roman, also der Roman mögliche Gesuchte; seine GesMchts- philosophie ist also zugleich Kunstphilosophie. Doch kann sie nur einen Teil derselben ausmachen. Die Fragen der eigentlichen Ästhetik haben wir bis jetzt noch gar nicht berührt: die Fragen nach dem Zweck der Kunst und nach dem Wert der einzelnen Gegenstande für dre Kunst. Nicht jeder Gegenstand kann für die künstlensche Behandlung gleuh qeei net sein und um eine Auswahl zu treffen muß der Künstler einen Maßstab haben, nach dem er ihren Wert bemißt. Ebenso werden d:e °°rha" ^ Kunstwerke verschieden beurteilt, die einen anerkannt. d:e anderen gelehnt. Grenzboten III 1S12

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/29>, abgerufen am 01.07.2024.