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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Die naturwissenschaftliche Weltanschauung

physischen Begriffe beiseite lasse und sich nur an das halte, was wirklich
beobachtet werden kann. Ganz in der Weise der Ideologie des achtzehnten
Jahrhunderts erläutert er diese Forderung. "Die Bestimmung Roms war
es, die Welt zu erobern," sagt der Mystiker. Der Positivist findet diesen
Ausdruck poetisch schön und würdig eines Vergil, doch unverständlich
für klares Denken. Es ist eben nur ein bildlicher Ausdruck, der etwa
besagt, "daß das römische Volk das Land um das Mittelmeerbecken
und einige Gebiete im Nordwesten davon eroberte, und daß diese Eroberung
notwendig war." Warum aber war sie notwendig? "Weil Rom während
mehrerer Jahrhunderte tüchtige Heere und große Politiker besaß, und seine
Gegner weniger tapfer oder weniger geschult oder weniger schlau waren." Von
dem "Geschick" Roms ist also nichts übrig geblieben als eine Reihe wirksamer
Umstände. Allgemein ausgedrückt sind also die geschichtlichen Ereignisse nur die
Wirkungen dieser besonderen Umstände, der Fähigkeiten und Neigungen der
Völker, und diese Wirkungen sind, wie alle Folgen vorhandener Ursachen notwendig.
Also gilt es auch in der Geschichte die Tatsachen festzustellen, so genau und
vollständig als möglich. Diese tatsächlichen Ursachen sind dann natürlich auch
wieder Wirkungen früherer Tatsachen, die ebenfalls aufgesucht werden müssen.
Diese wirksamen Tatsachen sind auch die einzigen Gesetze, die der positive
Historiker auffinden kann, wie auch die Naturgesetze keine mystischen Kräfte
sind, sondern nur allgemeiner wirkende Tatsachen. Diese wir Mnöraux sind
also genau wie die physikalischen Gesetze nichts als bestimmte Formeln und
Definitionen, nichts als kurz gefaßte Ausdrücke, die den Gang der Ereignisse
auf die knappste Weise in sich enthalten, es sind die Maxwellschen Gleichungen
der Geschichte. Kennen wir also in diesen kent3 prcxluLteui-8 die Gesetze der
Geschehnisse, so haben wir auch den Schlüssel zu dem, was wir "das Geschick"
eines Wesens oder eines sozialen Körpers nennen. Das ist genau die Methode
der Physik, dasselbe savoir pour provoir in der Geschichte wie in der Natur.
Ich brauche nicht erst auszuführen, daß die Geschichtsmethodik Taines völlig
mit dem Geiste der Comteschen Soziologie übereinstimmt. Ihre Aufgabe ist die
Beobachtung der sozialen Funktionen der Völker, deren Fähigkeiten und Neigungen,
deren empirischer Charakter als die letzten erreichbaren Tatsachen festgestellt werden
müssen. Die Aufgabe der Geschichte fällt mit den Zielen der Völkerpsychologie,
welche die letzten Grundlagen aller geschichtlichen Entwicklung der Völker, also
die positiven historischen Gesetze aufzustellen strebt, zusammen.

Welcher Art sind nun diese allgemeinen und letzten Tatsachen? Welches,
sind die dauernden Ursachen der wechselnden Ereignisse? Taine selbst bestimmt
sie also: "Die Zustände und Handlungen des inneren Menschen haben als
Ursachen gewisse allgemeine Denk- und Emvfindungsweisen. Aus drei ver¬
schiedenen Quellen bildet sich dieser ursprüngliche geistige Zustand: aus der Rasse,
dem Milieu und der äußeren Lage." Rasse bedeutet hierbei nicht bloß die
physische Abstammung, sondern den ganzen Komplex physischer und psychischer


Die naturwissenschaftliche Weltanschauung

physischen Begriffe beiseite lasse und sich nur an das halte, was wirklich
beobachtet werden kann. Ganz in der Weise der Ideologie des achtzehnten
Jahrhunderts erläutert er diese Forderung. „Die Bestimmung Roms war
es, die Welt zu erobern," sagt der Mystiker. Der Positivist findet diesen
Ausdruck poetisch schön und würdig eines Vergil, doch unverständlich
für klares Denken. Es ist eben nur ein bildlicher Ausdruck, der etwa
besagt, „daß das römische Volk das Land um das Mittelmeerbecken
und einige Gebiete im Nordwesten davon eroberte, und daß diese Eroberung
notwendig war." Warum aber war sie notwendig? „Weil Rom während
mehrerer Jahrhunderte tüchtige Heere und große Politiker besaß, und seine
Gegner weniger tapfer oder weniger geschult oder weniger schlau waren." Von
dem „Geschick" Roms ist also nichts übrig geblieben als eine Reihe wirksamer
Umstände. Allgemein ausgedrückt sind also die geschichtlichen Ereignisse nur die
Wirkungen dieser besonderen Umstände, der Fähigkeiten und Neigungen der
Völker, und diese Wirkungen sind, wie alle Folgen vorhandener Ursachen notwendig.
Also gilt es auch in der Geschichte die Tatsachen festzustellen, so genau und
vollständig als möglich. Diese tatsächlichen Ursachen sind dann natürlich auch
wieder Wirkungen früherer Tatsachen, die ebenfalls aufgesucht werden müssen.
Diese wirksamen Tatsachen sind auch die einzigen Gesetze, die der positive
Historiker auffinden kann, wie auch die Naturgesetze keine mystischen Kräfte
sind, sondern nur allgemeiner wirkende Tatsachen. Diese wir Mnöraux sind
also genau wie die physikalischen Gesetze nichts als bestimmte Formeln und
Definitionen, nichts als kurz gefaßte Ausdrücke, die den Gang der Ereignisse
auf die knappste Weise in sich enthalten, es sind die Maxwellschen Gleichungen
der Geschichte. Kennen wir also in diesen kent3 prcxluLteui-8 die Gesetze der
Geschehnisse, so haben wir auch den Schlüssel zu dem, was wir „das Geschick"
eines Wesens oder eines sozialen Körpers nennen. Das ist genau die Methode
der Physik, dasselbe savoir pour provoir in der Geschichte wie in der Natur.
Ich brauche nicht erst auszuführen, daß die Geschichtsmethodik Taines völlig
mit dem Geiste der Comteschen Soziologie übereinstimmt. Ihre Aufgabe ist die
Beobachtung der sozialen Funktionen der Völker, deren Fähigkeiten und Neigungen,
deren empirischer Charakter als die letzten erreichbaren Tatsachen festgestellt werden
müssen. Die Aufgabe der Geschichte fällt mit den Zielen der Völkerpsychologie,
welche die letzten Grundlagen aller geschichtlichen Entwicklung der Völker, also
die positiven historischen Gesetze aufzustellen strebt, zusammen.

Welcher Art sind nun diese allgemeinen und letzten Tatsachen? Welches,
sind die dauernden Ursachen der wechselnden Ereignisse? Taine selbst bestimmt
sie also: „Die Zustände und Handlungen des inneren Menschen haben als
Ursachen gewisse allgemeine Denk- und Emvfindungsweisen. Aus drei ver¬
schiedenen Quellen bildet sich dieser ursprüngliche geistige Zustand: aus der Rasse,
dem Milieu und der äußeren Lage." Rasse bedeutet hierbei nicht bloß die
physische Abstammung, sondern den ganzen Komplex physischer und psychischer


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[0028] Die naturwissenschaftliche Weltanschauung physischen Begriffe beiseite lasse und sich nur an das halte, was wirklich beobachtet werden kann. Ganz in der Weise der Ideologie des achtzehnten Jahrhunderts erläutert er diese Forderung. „Die Bestimmung Roms war es, die Welt zu erobern," sagt der Mystiker. Der Positivist findet diesen Ausdruck poetisch schön und würdig eines Vergil, doch unverständlich für klares Denken. Es ist eben nur ein bildlicher Ausdruck, der etwa besagt, „daß das römische Volk das Land um das Mittelmeerbecken und einige Gebiete im Nordwesten davon eroberte, und daß diese Eroberung notwendig war." Warum aber war sie notwendig? „Weil Rom während mehrerer Jahrhunderte tüchtige Heere und große Politiker besaß, und seine Gegner weniger tapfer oder weniger geschult oder weniger schlau waren." Von dem „Geschick" Roms ist also nichts übrig geblieben als eine Reihe wirksamer Umstände. Allgemein ausgedrückt sind also die geschichtlichen Ereignisse nur die Wirkungen dieser besonderen Umstände, der Fähigkeiten und Neigungen der Völker, und diese Wirkungen sind, wie alle Folgen vorhandener Ursachen notwendig. Also gilt es auch in der Geschichte die Tatsachen festzustellen, so genau und vollständig als möglich. Diese tatsächlichen Ursachen sind dann natürlich auch wieder Wirkungen früherer Tatsachen, die ebenfalls aufgesucht werden müssen. Diese wirksamen Tatsachen sind auch die einzigen Gesetze, die der positive Historiker auffinden kann, wie auch die Naturgesetze keine mystischen Kräfte sind, sondern nur allgemeiner wirkende Tatsachen. Diese wir Mnöraux sind also genau wie die physikalischen Gesetze nichts als bestimmte Formeln und Definitionen, nichts als kurz gefaßte Ausdrücke, die den Gang der Ereignisse auf die knappste Weise in sich enthalten, es sind die Maxwellschen Gleichungen der Geschichte. Kennen wir also in diesen kent3 prcxluLteui-8 die Gesetze der Geschehnisse, so haben wir auch den Schlüssel zu dem, was wir „das Geschick" eines Wesens oder eines sozialen Körpers nennen. Das ist genau die Methode der Physik, dasselbe savoir pour provoir in der Geschichte wie in der Natur. Ich brauche nicht erst auszuführen, daß die Geschichtsmethodik Taines völlig mit dem Geiste der Comteschen Soziologie übereinstimmt. Ihre Aufgabe ist die Beobachtung der sozialen Funktionen der Völker, deren Fähigkeiten und Neigungen, deren empirischer Charakter als die letzten erreichbaren Tatsachen festgestellt werden müssen. Die Aufgabe der Geschichte fällt mit den Zielen der Völkerpsychologie, welche die letzten Grundlagen aller geschichtlichen Entwicklung der Völker, also die positiven historischen Gesetze aufzustellen strebt, zusammen. Welcher Art sind nun diese allgemeinen und letzten Tatsachen? Welches, sind die dauernden Ursachen der wechselnden Ereignisse? Taine selbst bestimmt sie also: „Die Zustände und Handlungen des inneren Menschen haben als Ursachen gewisse allgemeine Denk- und Emvfindungsweisen. Aus drei ver¬ schiedenen Quellen bildet sich dieser ursprüngliche geistige Zustand: aus der Rasse, dem Milieu und der äußeren Lage." Rasse bedeutet hierbei nicht bloß die physische Abstammung, sondern den ganzen Komplex physischer und psychischer

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/28>, abgerufen am 01.07.2024.