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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Die naturwissenschaftliche Weltanschauung

war der Geist Condillacs. Lamettries, Holbachs, der Geist von 1789. Die
Fortschritte der Naturwissenschaften hatten ihn aus seinem Schlummer auferweckt.
Das Zeitalter der Empirie war angebrochen. Unter Louis Philipp entstanden
die ersten Eisenbahnen und die ersten elektrischen Telegraphen. An die Stelle
der ideologischen Begriffsanalyse, die bleibende Erfolge natürlich nicht erringen
konnte, trat die Induktion und das Experiment; auch in der Philosophie hatte
die positivistische Methode gesiegt. David Hume behauptete wie in England
so auch in Frankreich das Schlachtfeld. Die schottische Philosophie hatte in
Frankreich ganz wie im Mutterlande damit geendet, daß sie zu dem siegreichen
Gegner, dem Positivismus, übergegangen war. Sie hatte ihm seine Voraussetzungen
zugegeben und wunderte sich dann, daß sie schließlich zu denselben Folgerungen
gelangte. Ihr Lohn bestand dann darin, daß die späteren Positivisten die
Schotten durchaus mit zu ihren Lehrern zählten, wenn sie auch Einzelheiten
zu tadeln fanden. Man denke nur an das Verhältnis von I. Stuart Mill zu
Hamilton. So wies denn in Frankreich die neue Zeit gebieterisch auf das
achtzehnte Jahrhundert zurück. Die Ausdehnung der naturwissenschaftlichen
Methode, als allein wissenschaftlicher Forschungsweise, auf alles wissenschaftliche
Denken, die rein kausale Erklärung auch geistiger Vorgänge und jeglichen Welt¬
geschehens, vor allem die absolute Gesetzmäßigkeit und Notwendigkeit auch auf
dem Gebiete des menschlichen Handelns, also auch in der Geschichte, hatte das
Svstöme as ^ naturf mit großer Schärfe gefordert; und Lamettrie nannte
nicht nur. wie Descartes. die Tiere mechanische Automaten, sondern auch d:e
Menschen. Diese Forderungen, wir haben es gesehen, erfüllte Beyle mit eiserner
Konsequenz. Der Geist der Naturwissenschaften, des Positivismus, ist es also,
aus dem sein Werk entstand. Es fehlten nur noch die großen Vertreter M
eigenen Volke, die diese Gedanken von neuem zusammenfassen und dem fran-
Zösischen Geiste entsprechend vortragen würden. Auch sie ließen nicht auf sich warten,
als ihre Zeit sich erfüllt hatte. Schon vor 1830 hatte Auguste Comte seine
wissenschaftliche Tätigkeit begonnen, und in den dreißiger Jahren reifte sem
Hauptwerk heran das 1840 bis 1842 als..Lours ac, pnilosoptue po8leeve"
erschien. In dieser Zeit wuchs auch H. Taine heran und nahm den neuen
Geist in sich auf Wenn wir daher das Wesen seiner Schriften erläutern, so
lernen wir eben das Neue verstehen, das auch die Schriftsteller vor ihm gelertet
hatte. Daß wir hauptsächlich aus ihm die theoretischen Anschauungen der Zeit
entnehmen müssen, kommt daher, daß er zuerst Ästhetik und Geschichte in
systematischer Weise nach der neuen Methode betrachtete. Die Methode selbst
war seit 1830 in der Literatur wirksam. Comte hatte das allgemeine System
der positiven Wissenschaften begründet und keinen Zweifel gelassen, daß überall
die Methode dieser Wissenschaften die einzig berechtigte sein sollte. Auch
Geschichte rend Kunst sollten nur nach dieser Methode Gegenstand wissenschaft¬
licher Betrachtung sein. So führt denn Taine nur die Absichten Comtes aus.
wenn er auch von der Geschichte fordert, daß sie alle mystischen und meta-


Die naturwissenschaftliche Weltanschauung

war der Geist Condillacs. Lamettries, Holbachs, der Geist von 1789. Die
Fortschritte der Naturwissenschaften hatten ihn aus seinem Schlummer auferweckt.
Das Zeitalter der Empirie war angebrochen. Unter Louis Philipp entstanden
die ersten Eisenbahnen und die ersten elektrischen Telegraphen. An die Stelle
der ideologischen Begriffsanalyse, die bleibende Erfolge natürlich nicht erringen
konnte, trat die Induktion und das Experiment; auch in der Philosophie hatte
die positivistische Methode gesiegt. David Hume behauptete wie in England
so auch in Frankreich das Schlachtfeld. Die schottische Philosophie hatte in
Frankreich ganz wie im Mutterlande damit geendet, daß sie zu dem siegreichen
Gegner, dem Positivismus, übergegangen war. Sie hatte ihm seine Voraussetzungen
zugegeben und wunderte sich dann, daß sie schließlich zu denselben Folgerungen
gelangte. Ihr Lohn bestand dann darin, daß die späteren Positivisten die
Schotten durchaus mit zu ihren Lehrern zählten, wenn sie auch Einzelheiten
zu tadeln fanden. Man denke nur an das Verhältnis von I. Stuart Mill zu
Hamilton. So wies denn in Frankreich die neue Zeit gebieterisch auf das
achtzehnte Jahrhundert zurück. Die Ausdehnung der naturwissenschaftlichen
Methode, als allein wissenschaftlicher Forschungsweise, auf alles wissenschaftliche
Denken, die rein kausale Erklärung auch geistiger Vorgänge und jeglichen Welt¬
geschehens, vor allem die absolute Gesetzmäßigkeit und Notwendigkeit auch auf
dem Gebiete des menschlichen Handelns, also auch in der Geschichte, hatte das
Svstöme as ^ naturf mit großer Schärfe gefordert; und Lamettrie nannte
nicht nur. wie Descartes. die Tiere mechanische Automaten, sondern auch d:e
Menschen. Diese Forderungen, wir haben es gesehen, erfüllte Beyle mit eiserner
Konsequenz. Der Geist der Naturwissenschaften, des Positivismus, ist es also,
aus dem sein Werk entstand. Es fehlten nur noch die großen Vertreter M
eigenen Volke, die diese Gedanken von neuem zusammenfassen und dem fran-
Zösischen Geiste entsprechend vortragen würden. Auch sie ließen nicht auf sich warten,
als ihre Zeit sich erfüllt hatte. Schon vor 1830 hatte Auguste Comte seine
wissenschaftliche Tätigkeit begonnen, und in den dreißiger Jahren reifte sem
Hauptwerk heran das 1840 bis 1842 als..Lours ac, pnilosoptue po8leeve"
erschien. In dieser Zeit wuchs auch H. Taine heran und nahm den neuen
Geist in sich auf Wenn wir daher das Wesen seiner Schriften erläutern, so
lernen wir eben das Neue verstehen, das auch die Schriftsteller vor ihm gelertet
hatte. Daß wir hauptsächlich aus ihm die theoretischen Anschauungen der Zeit
entnehmen müssen, kommt daher, daß er zuerst Ästhetik und Geschichte in
systematischer Weise nach der neuen Methode betrachtete. Die Methode selbst
war seit 1830 in der Literatur wirksam. Comte hatte das allgemeine System
der positiven Wissenschaften begründet und keinen Zweifel gelassen, daß überall
die Methode dieser Wissenschaften die einzig berechtigte sein sollte. Auch
Geschichte rend Kunst sollten nur nach dieser Methode Gegenstand wissenschaft¬
licher Betrachtung sein. So führt denn Taine nur die Absichten Comtes aus.
wenn er auch von der Geschichte fordert, daß sie alle mystischen und meta-


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[0027] Die naturwissenschaftliche Weltanschauung war der Geist Condillacs. Lamettries, Holbachs, der Geist von 1789. Die Fortschritte der Naturwissenschaften hatten ihn aus seinem Schlummer auferweckt. Das Zeitalter der Empirie war angebrochen. Unter Louis Philipp entstanden die ersten Eisenbahnen und die ersten elektrischen Telegraphen. An die Stelle der ideologischen Begriffsanalyse, die bleibende Erfolge natürlich nicht erringen konnte, trat die Induktion und das Experiment; auch in der Philosophie hatte die positivistische Methode gesiegt. David Hume behauptete wie in England so auch in Frankreich das Schlachtfeld. Die schottische Philosophie hatte in Frankreich ganz wie im Mutterlande damit geendet, daß sie zu dem siegreichen Gegner, dem Positivismus, übergegangen war. Sie hatte ihm seine Voraussetzungen zugegeben und wunderte sich dann, daß sie schließlich zu denselben Folgerungen gelangte. Ihr Lohn bestand dann darin, daß die späteren Positivisten die Schotten durchaus mit zu ihren Lehrern zählten, wenn sie auch Einzelheiten zu tadeln fanden. Man denke nur an das Verhältnis von I. Stuart Mill zu Hamilton. So wies denn in Frankreich die neue Zeit gebieterisch auf das achtzehnte Jahrhundert zurück. Die Ausdehnung der naturwissenschaftlichen Methode, als allein wissenschaftlicher Forschungsweise, auf alles wissenschaftliche Denken, die rein kausale Erklärung auch geistiger Vorgänge und jeglichen Welt¬ geschehens, vor allem die absolute Gesetzmäßigkeit und Notwendigkeit auch auf dem Gebiete des menschlichen Handelns, also auch in der Geschichte, hatte das Svstöme as ^ naturf mit großer Schärfe gefordert; und Lamettrie nannte nicht nur. wie Descartes. die Tiere mechanische Automaten, sondern auch d:e Menschen. Diese Forderungen, wir haben es gesehen, erfüllte Beyle mit eiserner Konsequenz. Der Geist der Naturwissenschaften, des Positivismus, ist es also, aus dem sein Werk entstand. Es fehlten nur noch die großen Vertreter M eigenen Volke, die diese Gedanken von neuem zusammenfassen und dem fran- Zösischen Geiste entsprechend vortragen würden. Auch sie ließen nicht auf sich warten, als ihre Zeit sich erfüllt hatte. Schon vor 1830 hatte Auguste Comte seine wissenschaftliche Tätigkeit begonnen, und in den dreißiger Jahren reifte sem Hauptwerk heran das 1840 bis 1842 als..Lours ac, pnilosoptue po8leeve" erschien. In dieser Zeit wuchs auch H. Taine heran und nahm den neuen Geist in sich auf Wenn wir daher das Wesen seiner Schriften erläutern, so lernen wir eben das Neue verstehen, das auch die Schriftsteller vor ihm gelertet hatte. Daß wir hauptsächlich aus ihm die theoretischen Anschauungen der Zeit entnehmen müssen, kommt daher, daß er zuerst Ästhetik und Geschichte in systematischer Weise nach der neuen Methode betrachtete. Die Methode selbst war seit 1830 in der Literatur wirksam. Comte hatte das allgemeine System der positiven Wissenschaften begründet und keinen Zweifel gelassen, daß überall die Methode dieser Wissenschaften die einzig berechtigte sein sollte. Auch Geschichte rend Kunst sollten nur nach dieser Methode Gegenstand wissenschaft¬ licher Betrachtung sein. So führt denn Taine nur die Absichten Comtes aus. wenn er auch von der Geschichte fordert, daß sie alle mystischen und meta-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/27>, abgerufen am 01.07.2024.