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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Der gegenwärtige Stand der Alkoholforschnng

englischen Lebensversicherungsgesellschaften inzwischen bewiesen worden ist, daß
die Abstinenten im Mittel länger leben als der Durchschnitt."

Aber nicht nur aus englischem Zahlenmaterial -- Dr. Höllischer hat in
einem Vortrage auf dem Osterkurse 1912 des Berliner Zentralverbandes gegen
den Alkoholismus erneut nachgewiesen, daß die Abstinenten in England eine
um etwa 25 Prozent bessere Lebenserwartung wie die Allgemeinheit aufweisen
-- läßt sich die Tatsache belegen, sondern auch aus deutschen Untersuchungen.
Auf Grund des Zahlenmaterials der Leipziger Ortskrankenkasse*) und der
Statistik der Gothaer Lebensversicherungsgesellschaft**) habe ich nachgewiesen,***)
daß der freiwillige Abstinent unbedingt als besseres Leben gewertet werden muß,
daß also der Alkoholenthaltsame größere Aussichten auf ein längeres Leben hat,
wie der regelmäßig Alkohol Genießende.

Die Behauptung, der Alkoholismus verlängere das Leben, steht somit
vollkommen in der Luft, da alle Untersuchungen zu dem entgegengesetzten Resultate
kommen.

Bedenkliche Zahlen haben Untersuchungen zutage gefördert, die versuchen,
Klarheit in die Zusammenhänge zwischen Alkoholmißbrauch der Eltern und
Schwachsinn der Kinder zu bringen. Sanitätsrat Dr. P. Meyer stellte in dem
Bericht über die Tätigkeit der Berliner Schulärzte im Jahre 1909/1910 bei
nicht weniger als 202 Knaben und 118 Mädchen, somit 320 Kindern erbliche
Belastung durch Alkoholismus des Vaters, bei acht Knaben und fünf Mädchen
solche durch die Mutter fest. Dr. mea. Rühs führte in einem Vortrage^) aus:
"Ein großer Teil der Kinder hat seine geistige Minderwertigkeit als ein trauriges
Erbteil von den Eltern mit auf den Lebensweg bekommen. Sie stammen
vielfach aus Familien, in denen Geistes- und Nervenkrankheiten aller Art,
Syphilis und Tuberkulose und nicht zum mindesten der chronische Alkoholismus
einen unheilvollen Einfluß ausgeübt haben. In 43,6 Prozent der Familien
konnte ich eine mehr oder weniger schwere erbliche Belastung elterlicher- resp,
großelterlicherseits nachweisen. Von den insgesamt in Betracht kommenden 296
Familien waren 90 (d. h. 30,4 Prozent derselben) sogenannte Trinkerfamilien."

Zahlreiche Urteile und Untersuchungen mit demselben Ergebnis liegen vor,
so daß man mit Sanitätsrat Dr. Tippelff) sagen kann, daß durchschnittlich
50 Prozent der Kinder aus Trinkerfamilien minderwertig sind.
Man wird die Zahl der minderwertigen Kinder nicht unterschätzen, wenn man
bedenkt, daß die Zahl der in Deutschland lebenden Trinker ungefähr auf 300000
geschätzt wird.







") Krankheits- und Sterblichkeitsverhältnisse in der Ortskrankenkasse für Leipzig und
Umgebung. Carl Heymanns Verlag, 1910.
**) Zeitschrift für Versicherungswesen, 6, Heft 3.
Masius' Rundschau 1911, Heft 10/11.
f) Zeitschrift des bergischen Vereins für Gemeinwohl. 1911, Ur. 9
ff) Zeitschrift des bergischen Vereins für Gemeinwohl. 1912. Ur. 2 und 3, S. S9.
Der gegenwärtige Stand der Alkoholforschnng

englischen Lebensversicherungsgesellschaften inzwischen bewiesen worden ist, daß
die Abstinenten im Mittel länger leben als der Durchschnitt."

Aber nicht nur aus englischem Zahlenmaterial — Dr. Höllischer hat in
einem Vortrage auf dem Osterkurse 1912 des Berliner Zentralverbandes gegen
den Alkoholismus erneut nachgewiesen, daß die Abstinenten in England eine
um etwa 25 Prozent bessere Lebenserwartung wie die Allgemeinheit aufweisen
— läßt sich die Tatsache belegen, sondern auch aus deutschen Untersuchungen.
Auf Grund des Zahlenmaterials der Leipziger Ortskrankenkasse*) und der
Statistik der Gothaer Lebensversicherungsgesellschaft**) habe ich nachgewiesen,***)
daß der freiwillige Abstinent unbedingt als besseres Leben gewertet werden muß,
daß also der Alkoholenthaltsame größere Aussichten auf ein längeres Leben hat,
wie der regelmäßig Alkohol Genießende.

Die Behauptung, der Alkoholismus verlängere das Leben, steht somit
vollkommen in der Luft, da alle Untersuchungen zu dem entgegengesetzten Resultate
kommen.

Bedenkliche Zahlen haben Untersuchungen zutage gefördert, die versuchen,
Klarheit in die Zusammenhänge zwischen Alkoholmißbrauch der Eltern und
Schwachsinn der Kinder zu bringen. Sanitätsrat Dr. P. Meyer stellte in dem
Bericht über die Tätigkeit der Berliner Schulärzte im Jahre 1909/1910 bei
nicht weniger als 202 Knaben und 118 Mädchen, somit 320 Kindern erbliche
Belastung durch Alkoholismus des Vaters, bei acht Knaben und fünf Mädchen
solche durch die Mutter fest. Dr. mea. Rühs führte in einem Vortrage^) aus:
„Ein großer Teil der Kinder hat seine geistige Minderwertigkeit als ein trauriges
Erbteil von den Eltern mit auf den Lebensweg bekommen. Sie stammen
vielfach aus Familien, in denen Geistes- und Nervenkrankheiten aller Art,
Syphilis und Tuberkulose und nicht zum mindesten der chronische Alkoholismus
einen unheilvollen Einfluß ausgeübt haben. In 43,6 Prozent der Familien
konnte ich eine mehr oder weniger schwere erbliche Belastung elterlicher- resp,
großelterlicherseits nachweisen. Von den insgesamt in Betracht kommenden 296
Familien waren 90 (d. h. 30,4 Prozent derselben) sogenannte Trinkerfamilien."

Zahlreiche Urteile und Untersuchungen mit demselben Ergebnis liegen vor,
so daß man mit Sanitätsrat Dr. Tippelff) sagen kann, daß durchschnittlich
50 Prozent der Kinder aus Trinkerfamilien minderwertig sind.
Man wird die Zahl der minderwertigen Kinder nicht unterschätzen, wenn man
bedenkt, daß die Zahl der in Deutschland lebenden Trinker ungefähr auf 300000
geschätzt wird.







") Krankheits- und Sterblichkeitsverhältnisse in der Ortskrankenkasse für Leipzig und
Umgebung. Carl Heymanns Verlag, 1910.
**) Zeitschrift für Versicherungswesen, 6, Heft 3.
Masius' Rundschau 1911, Heft 10/11.
f) Zeitschrift des bergischen Vereins für Gemeinwohl. 1911, Ur. 9
ff) Zeitschrift des bergischen Vereins für Gemeinwohl. 1912. Ur. 2 und 3, S. S9.
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[0279] Der gegenwärtige Stand der Alkoholforschnng englischen Lebensversicherungsgesellschaften inzwischen bewiesen worden ist, daß die Abstinenten im Mittel länger leben als der Durchschnitt." Aber nicht nur aus englischem Zahlenmaterial — Dr. Höllischer hat in einem Vortrage auf dem Osterkurse 1912 des Berliner Zentralverbandes gegen den Alkoholismus erneut nachgewiesen, daß die Abstinenten in England eine um etwa 25 Prozent bessere Lebenserwartung wie die Allgemeinheit aufweisen — läßt sich die Tatsache belegen, sondern auch aus deutschen Untersuchungen. Auf Grund des Zahlenmaterials der Leipziger Ortskrankenkasse*) und der Statistik der Gothaer Lebensversicherungsgesellschaft**) habe ich nachgewiesen,***) daß der freiwillige Abstinent unbedingt als besseres Leben gewertet werden muß, daß also der Alkoholenthaltsame größere Aussichten auf ein längeres Leben hat, wie der regelmäßig Alkohol Genießende. Die Behauptung, der Alkoholismus verlängere das Leben, steht somit vollkommen in der Luft, da alle Untersuchungen zu dem entgegengesetzten Resultate kommen. Bedenkliche Zahlen haben Untersuchungen zutage gefördert, die versuchen, Klarheit in die Zusammenhänge zwischen Alkoholmißbrauch der Eltern und Schwachsinn der Kinder zu bringen. Sanitätsrat Dr. P. Meyer stellte in dem Bericht über die Tätigkeit der Berliner Schulärzte im Jahre 1909/1910 bei nicht weniger als 202 Knaben und 118 Mädchen, somit 320 Kindern erbliche Belastung durch Alkoholismus des Vaters, bei acht Knaben und fünf Mädchen solche durch die Mutter fest. Dr. mea. Rühs führte in einem Vortrage^) aus: „Ein großer Teil der Kinder hat seine geistige Minderwertigkeit als ein trauriges Erbteil von den Eltern mit auf den Lebensweg bekommen. Sie stammen vielfach aus Familien, in denen Geistes- und Nervenkrankheiten aller Art, Syphilis und Tuberkulose und nicht zum mindesten der chronische Alkoholismus einen unheilvollen Einfluß ausgeübt haben. In 43,6 Prozent der Familien konnte ich eine mehr oder weniger schwere erbliche Belastung elterlicher- resp, großelterlicherseits nachweisen. Von den insgesamt in Betracht kommenden 296 Familien waren 90 (d. h. 30,4 Prozent derselben) sogenannte Trinkerfamilien." Zahlreiche Urteile und Untersuchungen mit demselben Ergebnis liegen vor, so daß man mit Sanitätsrat Dr. Tippelff) sagen kann, daß durchschnittlich 50 Prozent der Kinder aus Trinkerfamilien minderwertig sind. Man wird die Zahl der minderwertigen Kinder nicht unterschätzen, wenn man bedenkt, daß die Zahl der in Deutschland lebenden Trinker ungefähr auf 300000 geschätzt wird. ") Krankheits- und Sterblichkeitsverhältnisse in der Ortskrankenkasse für Leipzig und Umgebung. Carl Heymanns Verlag, 1910. **) Zeitschrift für Versicherungswesen, 6, Heft 3. Masius' Rundschau 1911, Heft 10/11. f) Zeitschrift des bergischen Vereins für Gemeinwohl. 1911, Ur. 9 ff) Zeitschrift des bergischen Vereins für Gemeinwohl. 1912. Ur. 2 und 3, S. S9.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/279>, abgerufen am 22.07.2024.