Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.Der gegenwärtige Stand der Alkoholforschung Die von den Interessenten der Alkoholindustrie verbreitete Anschauung, der In der Tagespresse findet man in den letzten Monaten häufig Hinweise "Die erwähnten englischen Ergebnisse waren so erzielt worden, daß eine Die statistische Wissenschaft ist längst im Klaren darüber, daß das Sterbe¬ *) Forel und Wlassak: Der Alkohol ist ein giftiges Nahrungsmittel. Internationale Monatsschrift zur Erforschung d. Alkoholismus. 1912, Ur. 3, S. 111 ff. "Die Kenntlichkeit und Sterblichkeit der Bierbrauer in Berlin und Leipzig und die
Kampfesweise der Deutschen Brauer-Union." Alkoholfrage Heft 4, S. 329--330. Der gegenwärtige Stand der Alkoholforschung Die von den Interessenten der Alkoholindustrie verbreitete Anschauung, der In der Tagespresse findet man in den letzten Monaten häufig Hinweise „Die erwähnten englischen Ergebnisse waren so erzielt worden, daß eine Die statistische Wissenschaft ist längst im Klaren darüber, daß das Sterbe¬ *) Forel und Wlassak: Der Alkohol ist ein giftiges Nahrungsmittel. Internationale Monatsschrift zur Erforschung d. Alkoholismus. 1912, Ur. 3, S. 111 ff. „Die Kenntlichkeit und Sterblichkeit der Bierbrauer in Berlin und Leipzig und die
Kampfesweise der Deutschen Brauer-Union." Alkoholfrage Heft 4, S. 329—330. <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0278" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/322025"/> <fw type="header" place="top"> Der gegenwärtige Stand der Alkoholforschung</fw><lb/> <p xml:id="ID_1127"> Die von den Interessenten der Alkoholindustrie verbreitete Anschauung, der<lb/> Alkohol sei ein Nahrungsmittel — Bier sei flüssiges Brot, Wein nähre Kranke<lb/> und Gesunde — entspricht demgemäß nicht den Tatsachen. Alkoholische Ge¬<lb/> tränke können ernährungsphysiologisch und volkswirtschaftlich nur als giftige*),<lb/> unwirtschaftliche Nahrungsmittel angesprochen werden.</p><lb/> <p xml:id="ID_1128"> In der Tagespresse findet man in den letzten Monaten häufig Hinweise<lb/> auf die seltsam anmutende Behauptung, der Alkoholgenuß, ja der Mißbrauch<lb/> des Alkohols verlängere das Leben. Es wird als Unterlage auf eine „kürzlich"<lb/> publizierte Statistik der „British Medical Association" verwiesen, durch welche<lb/> angeblich bewiesen wird, daß die Trinker die längste Lebensdauer haben, hinter<lb/> welcher die Totalabstinenten um elf Jahre zurückbleiben, fo daß die Abstinenten<lb/> sogar um ein Jahr kürzer leben, als die ausgesprochenen Trunkenbolde. Zu<lb/> dieser bereits im Jahre 1888 (!) veröffentlichten Statistik bemerkt Professor<lb/> von Gruber</p><lb/> <p xml:id="ID_1129"> „Die erwähnten englischen Ergebnisse waren so erzielt worden, daß eine<lb/> Anzahl von Ärzten bei jedem verstorbenen Patienten das Sterbealter und sein<lb/> Verhältnis zu den geistigen Getränken notierte und der Berichterstatter<lb/> Dr. Jsambard Owen danach die Verstorbenen in Gruppen von Abstinenten,<lb/> Mäßigen, Trinkern usw. einordnete und für jede Gruppe das durchschnittliche<lb/> Sterbealter berechnete.</p><lb/> <p xml:id="ID_1130" next="#ID_1131"> Die statistische Wissenschaft ist längst im Klaren darüber, daß das Sterbe¬<lb/> alter für sich allein ein völlig unbrauchbarer Maßstab für die Beurteilung der<lb/> Lebensdauer oder der Lebenserwartung einer Bevölkerungsgruppe ist. Im vor¬<lb/> liegenden Falle läßt sich dies mit wenigen Worten klarlegen. Die Abstinenz¬<lb/> bewegung ist verhältnismäßig jung. sie zählt daher verhältnismäßig viele junge<lb/> Leute zu ihren Anhängern, das Durchschnittsalter der lebenden Abstinenten ist<lb/> daher erheblich niedriger als das der lebenden Mäßigen, und daher wird auch<lb/> das Durchschnittsalter der verstorbenen Abstinenten niedriger sein müssen als<lb/> das der verstorbenen Mäßigen; geradeso wie das Durchschnittsalter der ver¬<lb/> storbenen Studenten niedriger sein muß als das der verstorbenen Ministerialräte.<lb/> Niemand wird sich darüber wundern und daraus den Schluß ziehen, daß das<lb/> Studieren gesundheitsschädlich sei. Schon Owen selbst hat in seinem Berichte<lb/> den Schluß aus seinen Zahlen auf die Schädlichkeit der Enthaltsamkeit aus¬<lb/> führlich zurückgewiesen, und seitdem ist fast kein Jahr vergangen, in welchem<lb/> nicht der so einfache Sachverhalt den Freunden des Alkoholkonsums klargelegt<lb/> worden wäre. Es geschieht daher im Bewußtsein und mit der Absicht der<lb/> Täuschung, wenn diese Zahlen aufs neue aufgetischt werden. Diese Vor¬<lb/> spiegelung ist um fo unverantwortlicher, als durch die Veröffentlichungen der</p><lb/> <note xml:id="FID_15" place="foot"> *) Forel und Wlassak: Der Alkohol ist ein giftiges Nahrungsmittel. Internationale<lb/> Monatsschrift zur Erforschung d. Alkoholismus. 1912, Ur. 3, S. 111 ff.</note><lb/> <note xml:id="FID_16" place="foot"> „Die Kenntlichkeit und Sterblichkeit der Bierbrauer in Berlin und Leipzig und die<lb/> Kampfesweise der Deutschen Brauer-Union." Alkoholfrage Heft 4, S. 329—330.</note><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0278]
Der gegenwärtige Stand der Alkoholforschung
Die von den Interessenten der Alkoholindustrie verbreitete Anschauung, der
Alkohol sei ein Nahrungsmittel — Bier sei flüssiges Brot, Wein nähre Kranke
und Gesunde — entspricht demgemäß nicht den Tatsachen. Alkoholische Ge¬
tränke können ernährungsphysiologisch und volkswirtschaftlich nur als giftige*),
unwirtschaftliche Nahrungsmittel angesprochen werden.
In der Tagespresse findet man in den letzten Monaten häufig Hinweise
auf die seltsam anmutende Behauptung, der Alkoholgenuß, ja der Mißbrauch
des Alkohols verlängere das Leben. Es wird als Unterlage auf eine „kürzlich"
publizierte Statistik der „British Medical Association" verwiesen, durch welche
angeblich bewiesen wird, daß die Trinker die längste Lebensdauer haben, hinter
welcher die Totalabstinenten um elf Jahre zurückbleiben, fo daß die Abstinenten
sogar um ein Jahr kürzer leben, als die ausgesprochenen Trunkenbolde. Zu
dieser bereits im Jahre 1888 (!) veröffentlichten Statistik bemerkt Professor
von Gruber
„Die erwähnten englischen Ergebnisse waren so erzielt worden, daß eine
Anzahl von Ärzten bei jedem verstorbenen Patienten das Sterbealter und sein
Verhältnis zu den geistigen Getränken notierte und der Berichterstatter
Dr. Jsambard Owen danach die Verstorbenen in Gruppen von Abstinenten,
Mäßigen, Trinkern usw. einordnete und für jede Gruppe das durchschnittliche
Sterbealter berechnete.
Die statistische Wissenschaft ist längst im Klaren darüber, daß das Sterbe¬
alter für sich allein ein völlig unbrauchbarer Maßstab für die Beurteilung der
Lebensdauer oder der Lebenserwartung einer Bevölkerungsgruppe ist. Im vor¬
liegenden Falle läßt sich dies mit wenigen Worten klarlegen. Die Abstinenz¬
bewegung ist verhältnismäßig jung. sie zählt daher verhältnismäßig viele junge
Leute zu ihren Anhängern, das Durchschnittsalter der lebenden Abstinenten ist
daher erheblich niedriger als das der lebenden Mäßigen, und daher wird auch
das Durchschnittsalter der verstorbenen Abstinenten niedriger sein müssen als
das der verstorbenen Mäßigen; geradeso wie das Durchschnittsalter der ver¬
storbenen Studenten niedriger sein muß als das der verstorbenen Ministerialräte.
Niemand wird sich darüber wundern und daraus den Schluß ziehen, daß das
Studieren gesundheitsschädlich sei. Schon Owen selbst hat in seinem Berichte
den Schluß aus seinen Zahlen auf die Schädlichkeit der Enthaltsamkeit aus¬
führlich zurückgewiesen, und seitdem ist fast kein Jahr vergangen, in welchem
nicht der so einfache Sachverhalt den Freunden des Alkoholkonsums klargelegt
worden wäre. Es geschieht daher im Bewußtsein und mit der Absicht der
Täuschung, wenn diese Zahlen aufs neue aufgetischt werden. Diese Vor¬
spiegelung ist um fo unverantwortlicher, als durch die Veröffentlichungen der
*) Forel und Wlassak: Der Alkohol ist ein giftiges Nahrungsmittel. Internationale
Monatsschrift zur Erforschung d. Alkoholismus. 1912, Ur. 3, S. 111 ff.
„Die Kenntlichkeit und Sterblichkeit der Bierbrauer in Berlin und Leipzig und die
Kampfesweise der Deutschen Brauer-Union." Alkoholfrage Heft 4, S. 329—330.
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