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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Die Welt als Asien und Europa

liebe. Europäisch ist erst das rechte Verhältnis zwischen Verstand und Gefühl,
zwischen Wissenschaft und Religion, europäisch ist der Ausgleich zwischen den
widerstreitenden Tendenzen, deren oberste Richterin die Philosophie ist. Nur
in Europa, scheint es, hat sich Philosophie entwickeln können. Wenigstens ist
reine Philosophie eine ausschließlich europäische Angelegenheit, seit über zwei¬
tausend Jahren in ununterbrochener Tradition fortentwickelt. Und so könnte
man die Philosophie in ihrer wechselnden Beziehung zum Leben, in ihren
Erfolgen und Mißerfolgen, in ihrer Schätzung und Unterschätzung als einen
Gradmesser des geistigen Europäismus ansehen.

Europäische Kultur ist der Kampf zwischen den sozialen und den indivi¬
duellen Tendenzen des Menschen. In den Anfängen jeder Gesellschaft beherrscht
das soziale Empfinden den ganzen Organismus. Die Gesellschaft oder der
Staat bestimmen Recht, Sitte und Sittlichkeit; der einzelne wird ihnen unbedenklich
geopfert. Fortschritt stellt sich immer dar als das Herauswachsen des Indivi¬
duums aus der Masse. Aber nach der Tyrannei der sozialen Instinkte sind
es zunächst nur die Rechte der Persönlichkeit, für die der Kampf unternommen wird.
Eine höhere Stufe erst gedenkt auch der Pflichten gegen den einzelnen. Erst
sind es nur die Starken, die sich als volle Menschen fühlen und durchsetzen,
später wird das Recht des vollen Menschen auch den Schwachen freiwillig
zugestanden. Diese typische Entwicklung können wir in der europäischen Geschichte
verfolgen: Im Mittelalter scheint der einzelne gebunden von der Gesamtheit,
es bietet sich unseren Blicken dar fast als Ebene. In der Renaissance hat sich
das Individuum trotzig seiner Rechte bemächtigt; wir sehen Alpengipfel kolossal
aufragen. Das achtzehnte Jahrhundert entdeckt auch die Pflichten der Gesamtheit
gegenüber dem Individuum. Die Anerkennung der Menschenrechte ist, wie die
Aufklärung, ein hocheuropäisches Ereignis. Seitdem ist das untere Niveau der
Menschheit fixiert. Unter eine gewisse Grenze darf ein Mensch nicht mehr
sinken; zum Sklaven, zur Sache kann er nicht mehr werden. Allein oberhalb
dieser Linie hat sich nun im neunzehnten Jahrhundert der Individualismus
um so stärker entwickelt. Die Menschenwürde einmal vorausgesetzt, werden die
Unterschiede um so schärfer betont. Wieder erblicken wir das Europäische in
dem Gleichgewicht beider Tendenzen. Uneuropäisch also ist Kastenwesen, Gottes-
gnadentum und Feudalismus; uneuropäisch ist es, eine Klasse von Menschen
zum Schaden aller anderen mit Vorrechten auszustatten. Uneuropäisch aber ist
auch die Gleichmacherei der Sozialisten und alle Konsequenzen dieser Theorien.
Echt europäisch wäre eine Gesellschaftsordnung, welche ganz auf der freien Unter¬
nehmung beruhte, auf dem Wettkampf aller gegen alle, wenn jeder nur hoffen dürfte,
nach dem Maße seiner Kräfte aufwärts und vorwärts zu kommen, von keiner Zunft
gestützt, von keiner Kaste gehoben, jeder der Schmied seines Glückes, jeder ein
Soldat auf Vorposten, jeder auf nichts als auf die eigene Verantwortung gestellt.

Dieses Gleichgewicht zwischen den Ansprüchen des Individuums und denen
der Gesamtheit muß endlich auch die politische Zukunft Europas bestimmen.


Die Welt als Asien und Europa

liebe. Europäisch ist erst das rechte Verhältnis zwischen Verstand und Gefühl,
zwischen Wissenschaft und Religion, europäisch ist der Ausgleich zwischen den
widerstreitenden Tendenzen, deren oberste Richterin die Philosophie ist. Nur
in Europa, scheint es, hat sich Philosophie entwickeln können. Wenigstens ist
reine Philosophie eine ausschließlich europäische Angelegenheit, seit über zwei¬
tausend Jahren in ununterbrochener Tradition fortentwickelt. Und so könnte
man die Philosophie in ihrer wechselnden Beziehung zum Leben, in ihren
Erfolgen und Mißerfolgen, in ihrer Schätzung und Unterschätzung als einen
Gradmesser des geistigen Europäismus ansehen.

Europäische Kultur ist der Kampf zwischen den sozialen und den indivi¬
duellen Tendenzen des Menschen. In den Anfängen jeder Gesellschaft beherrscht
das soziale Empfinden den ganzen Organismus. Die Gesellschaft oder der
Staat bestimmen Recht, Sitte und Sittlichkeit; der einzelne wird ihnen unbedenklich
geopfert. Fortschritt stellt sich immer dar als das Herauswachsen des Indivi¬
duums aus der Masse. Aber nach der Tyrannei der sozialen Instinkte sind
es zunächst nur die Rechte der Persönlichkeit, für die der Kampf unternommen wird.
Eine höhere Stufe erst gedenkt auch der Pflichten gegen den einzelnen. Erst
sind es nur die Starken, die sich als volle Menschen fühlen und durchsetzen,
später wird das Recht des vollen Menschen auch den Schwachen freiwillig
zugestanden. Diese typische Entwicklung können wir in der europäischen Geschichte
verfolgen: Im Mittelalter scheint der einzelne gebunden von der Gesamtheit,
es bietet sich unseren Blicken dar fast als Ebene. In der Renaissance hat sich
das Individuum trotzig seiner Rechte bemächtigt; wir sehen Alpengipfel kolossal
aufragen. Das achtzehnte Jahrhundert entdeckt auch die Pflichten der Gesamtheit
gegenüber dem Individuum. Die Anerkennung der Menschenrechte ist, wie die
Aufklärung, ein hocheuropäisches Ereignis. Seitdem ist das untere Niveau der
Menschheit fixiert. Unter eine gewisse Grenze darf ein Mensch nicht mehr
sinken; zum Sklaven, zur Sache kann er nicht mehr werden. Allein oberhalb
dieser Linie hat sich nun im neunzehnten Jahrhundert der Individualismus
um so stärker entwickelt. Die Menschenwürde einmal vorausgesetzt, werden die
Unterschiede um so schärfer betont. Wieder erblicken wir das Europäische in
dem Gleichgewicht beider Tendenzen. Uneuropäisch also ist Kastenwesen, Gottes-
gnadentum und Feudalismus; uneuropäisch ist es, eine Klasse von Menschen
zum Schaden aller anderen mit Vorrechten auszustatten. Uneuropäisch aber ist
auch die Gleichmacherei der Sozialisten und alle Konsequenzen dieser Theorien.
Echt europäisch wäre eine Gesellschaftsordnung, welche ganz auf der freien Unter¬
nehmung beruhte, auf dem Wettkampf aller gegen alle, wenn jeder nur hoffen dürfte,
nach dem Maße seiner Kräfte aufwärts und vorwärts zu kommen, von keiner Zunft
gestützt, von keiner Kaste gehoben, jeder der Schmied seines Glückes, jeder ein
Soldat auf Vorposten, jeder auf nichts als auf die eigene Verantwortung gestellt.

Dieses Gleichgewicht zwischen den Ansprüchen des Individuums und denen
der Gesamtheit muß endlich auch die politische Zukunft Europas bestimmen.


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[0274] Die Welt als Asien und Europa liebe. Europäisch ist erst das rechte Verhältnis zwischen Verstand und Gefühl, zwischen Wissenschaft und Religion, europäisch ist der Ausgleich zwischen den widerstreitenden Tendenzen, deren oberste Richterin die Philosophie ist. Nur in Europa, scheint es, hat sich Philosophie entwickeln können. Wenigstens ist reine Philosophie eine ausschließlich europäische Angelegenheit, seit über zwei¬ tausend Jahren in ununterbrochener Tradition fortentwickelt. Und so könnte man die Philosophie in ihrer wechselnden Beziehung zum Leben, in ihren Erfolgen und Mißerfolgen, in ihrer Schätzung und Unterschätzung als einen Gradmesser des geistigen Europäismus ansehen. Europäische Kultur ist der Kampf zwischen den sozialen und den indivi¬ duellen Tendenzen des Menschen. In den Anfängen jeder Gesellschaft beherrscht das soziale Empfinden den ganzen Organismus. Die Gesellschaft oder der Staat bestimmen Recht, Sitte und Sittlichkeit; der einzelne wird ihnen unbedenklich geopfert. Fortschritt stellt sich immer dar als das Herauswachsen des Indivi¬ duums aus der Masse. Aber nach der Tyrannei der sozialen Instinkte sind es zunächst nur die Rechte der Persönlichkeit, für die der Kampf unternommen wird. Eine höhere Stufe erst gedenkt auch der Pflichten gegen den einzelnen. Erst sind es nur die Starken, die sich als volle Menschen fühlen und durchsetzen, später wird das Recht des vollen Menschen auch den Schwachen freiwillig zugestanden. Diese typische Entwicklung können wir in der europäischen Geschichte verfolgen: Im Mittelalter scheint der einzelne gebunden von der Gesamtheit, es bietet sich unseren Blicken dar fast als Ebene. In der Renaissance hat sich das Individuum trotzig seiner Rechte bemächtigt; wir sehen Alpengipfel kolossal aufragen. Das achtzehnte Jahrhundert entdeckt auch die Pflichten der Gesamtheit gegenüber dem Individuum. Die Anerkennung der Menschenrechte ist, wie die Aufklärung, ein hocheuropäisches Ereignis. Seitdem ist das untere Niveau der Menschheit fixiert. Unter eine gewisse Grenze darf ein Mensch nicht mehr sinken; zum Sklaven, zur Sache kann er nicht mehr werden. Allein oberhalb dieser Linie hat sich nun im neunzehnten Jahrhundert der Individualismus um so stärker entwickelt. Die Menschenwürde einmal vorausgesetzt, werden die Unterschiede um so schärfer betont. Wieder erblicken wir das Europäische in dem Gleichgewicht beider Tendenzen. Uneuropäisch also ist Kastenwesen, Gottes- gnadentum und Feudalismus; uneuropäisch ist es, eine Klasse von Menschen zum Schaden aller anderen mit Vorrechten auszustatten. Uneuropäisch aber ist auch die Gleichmacherei der Sozialisten und alle Konsequenzen dieser Theorien. Echt europäisch wäre eine Gesellschaftsordnung, welche ganz auf der freien Unter¬ nehmung beruhte, auf dem Wettkampf aller gegen alle, wenn jeder nur hoffen dürfte, nach dem Maße seiner Kräfte aufwärts und vorwärts zu kommen, von keiner Zunft gestützt, von keiner Kaste gehoben, jeder der Schmied seines Glückes, jeder ein Soldat auf Vorposten, jeder auf nichts als auf die eigene Verantwortung gestellt. Dieses Gleichgewicht zwischen den Ansprüchen des Individuums und denen der Gesamtheit muß endlich auch die politische Zukunft Europas bestimmen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/274>, abgerufen am 22.07.2024.