Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die ZVelt als Asien und Europa

Auch die Nationen dürfen wir als Individuen betrachten. Das Selbstbestimmungs¬
recht des Individuums würde verlangen, daß Nation und Staatsverband sich
decken. Dieser natürliche Zustand ist im geschichtlichen Europa wohl nie ver¬
wirklicht gewesen, vielmehr haben immer einzelne Nationen verschiedenen Staaten
angehört und hat mancher Staat mehrere Nationen umfaßt. Das achtzehnte
Jahrhundert ist hierin am weitesten gegangen, da es aus seiner Weltanschauung
von der "Menschheit" gegen die Schranken der Nationalitäten am gleichgültigsten
war. Heute erleben wir die entgegengesetzte Bewegung! die Nationen haben,
infolge der sich ausbreitenden individualistischen Lebensanschauung, begonnen,
sich mehr denn je als Individuen zu empfinden, und die allgemeine Bewegung
der Völker geht dahin, sich mit dem Gleichartigen auch politisch zu vereinen
und das Fremde auszuscheiden. Das widerstreitet aber dem Machtinteresse der
Staaten, es widerstreitet auch dem Gesamtinteresse Europas, welches gerade mit
Rücksicht auf Asten die Zersplitterung in lauter einzelne Nationalstaaten nicht
wagen darf. Vom kosmopolitischen Standpunkte aus wäre im Gegenteil das
Wünschenswerteste ein gesamteuropäischer Staat, den Napoleon Bonaparte
wohl gewollt hat. Aber wie soll er Zustandekommen, wenn die Völker auf
Erhaltung der Nationalität, mit Recht, eifersüchtig sind? Ich meine: was
Napoleon nicht gelang und nicht gelingen konnte, weil es die demütigende
Gewalttat eines einzelnen war, die den Rückstoß notwendig hervortrieb, das
könnte im Laufe natürlicher Entwicklung sich von selbst ergeben und zwar aus
der Aussöhnung der beiden sich widersprechenden, aber berechtigten Tendenzen,
nämlich eine allmähliche Auflösung der staatlichen Grenzen zu einem europäischen
Gesamtstaat bei strenger Wahrung völkischer Eigenart nach Sprache, Sitte,
Heimat usw. Schon heute haben wir bei allen Konflikten zwischen europäischen
Staaten die Empfindung: eigentlich ist das alles Unsinn! Eigentlich sind die wirt¬
schaftlichen und geistigen Interessen aller europäischen Staaten dieselben, und ein Krieg
zwischen ihnen ist nur schädlich, .indem es die Gesamtmacht Europas auf Erden
herabsetzt. Denken wir uns einmal einen europäischen Staatenbund, ähnlich
dem Bundesstaate des deutschen Reiches, welcher alle europäischen Interessen
gemeinsam verwaltete, im übrigen aber den durch Sprache, Sitte, Heimat genügend
bestimmten Nationen innere Selbständigkeit gewährte I Der Gewinn wäre in jeder
Hinsicht außerordentlich. Vorläufig heben sich z. B. die Seekräfte der europäischen
Staaten fast gegenseitig auf, da sie ihre Kriegsmittel immer gegeneinander bereit¬
halten müssen. Denken wir uns sämtliche Flotten vereinigt.zu gemein-euro¬
päischen Zwecken, so werden kolossale Kräfte nach außen frei und die kosmopo¬
litische Machtstellung Europas wächst plötzlich ins Ungeheure. Heute überwacht
jede Nation eifersüchtig den Kolonialbesitz der anderen. Im Grunde ist es ganz
gleichgültig, wem diese oder jene Kolonie gehört; wichtig ist, daß Europa im
ganzen möglichst viel Kolonien hat und im ganzen Nutzen daraus zieht. Heute --
um eine andere Seite zu beleuchten -- sind die Polen, an drei Staaten ver¬
teilt, unruhige Elemente und für alle drei eine Last. Denkt man sich die


Die ZVelt als Asien und Europa

Auch die Nationen dürfen wir als Individuen betrachten. Das Selbstbestimmungs¬
recht des Individuums würde verlangen, daß Nation und Staatsverband sich
decken. Dieser natürliche Zustand ist im geschichtlichen Europa wohl nie ver¬
wirklicht gewesen, vielmehr haben immer einzelne Nationen verschiedenen Staaten
angehört und hat mancher Staat mehrere Nationen umfaßt. Das achtzehnte
Jahrhundert ist hierin am weitesten gegangen, da es aus seiner Weltanschauung
von der „Menschheit" gegen die Schranken der Nationalitäten am gleichgültigsten
war. Heute erleben wir die entgegengesetzte Bewegung! die Nationen haben,
infolge der sich ausbreitenden individualistischen Lebensanschauung, begonnen,
sich mehr denn je als Individuen zu empfinden, und die allgemeine Bewegung
der Völker geht dahin, sich mit dem Gleichartigen auch politisch zu vereinen
und das Fremde auszuscheiden. Das widerstreitet aber dem Machtinteresse der
Staaten, es widerstreitet auch dem Gesamtinteresse Europas, welches gerade mit
Rücksicht auf Asten die Zersplitterung in lauter einzelne Nationalstaaten nicht
wagen darf. Vom kosmopolitischen Standpunkte aus wäre im Gegenteil das
Wünschenswerteste ein gesamteuropäischer Staat, den Napoleon Bonaparte
wohl gewollt hat. Aber wie soll er Zustandekommen, wenn die Völker auf
Erhaltung der Nationalität, mit Recht, eifersüchtig sind? Ich meine: was
Napoleon nicht gelang und nicht gelingen konnte, weil es die demütigende
Gewalttat eines einzelnen war, die den Rückstoß notwendig hervortrieb, das
könnte im Laufe natürlicher Entwicklung sich von selbst ergeben und zwar aus
der Aussöhnung der beiden sich widersprechenden, aber berechtigten Tendenzen,
nämlich eine allmähliche Auflösung der staatlichen Grenzen zu einem europäischen
Gesamtstaat bei strenger Wahrung völkischer Eigenart nach Sprache, Sitte,
Heimat usw. Schon heute haben wir bei allen Konflikten zwischen europäischen
Staaten die Empfindung: eigentlich ist das alles Unsinn! Eigentlich sind die wirt¬
schaftlichen und geistigen Interessen aller europäischen Staaten dieselben, und ein Krieg
zwischen ihnen ist nur schädlich, .indem es die Gesamtmacht Europas auf Erden
herabsetzt. Denken wir uns einmal einen europäischen Staatenbund, ähnlich
dem Bundesstaate des deutschen Reiches, welcher alle europäischen Interessen
gemeinsam verwaltete, im übrigen aber den durch Sprache, Sitte, Heimat genügend
bestimmten Nationen innere Selbständigkeit gewährte I Der Gewinn wäre in jeder
Hinsicht außerordentlich. Vorläufig heben sich z. B. die Seekräfte der europäischen
Staaten fast gegenseitig auf, da sie ihre Kriegsmittel immer gegeneinander bereit¬
halten müssen. Denken wir uns sämtliche Flotten vereinigt.zu gemein-euro¬
päischen Zwecken, so werden kolossale Kräfte nach außen frei und die kosmopo¬
litische Machtstellung Europas wächst plötzlich ins Ungeheure. Heute überwacht
jede Nation eifersüchtig den Kolonialbesitz der anderen. Im Grunde ist es ganz
gleichgültig, wem diese oder jene Kolonie gehört; wichtig ist, daß Europa im
ganzen möglichst viel Kolonien hat und im ganzen Nutzen daraus zieht. Heute —
um eine andere Seite zu beleuchten — sind die Polen, an drei Staaten ver¬
teilt, unruhige Elemente und für alle drei eine Last. Denkt man sich die


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0275" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/322022"/>
          <fw type="header" place="top"> Die ZVelt als Asien und Europa</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1113" prev="#ID_1112" next="#ID_1114"> Auch die Nationen dürfen wir als Individuen betrachten. Das Selbstbestimmungs¬<lb/>
recht des Individuums würde verlangen, daß Nation und Staatsverband sich<lb/>
decken. Dieser natürliche Zustand ist im geschichtlichen Europa wohl nie ver¬<lb/>
wirklicht gewesen, vielmehr haben immer einzelne Nationen verschiedenen Staaten<lb/>
angehört und hat mancher Staat mehrere Nationen umfaßt. Das achtzehnte<lb/>
Jahrhundert ist hierin am weitesten gegangen, da es aus seiner Weltanschauung<lb/>
von der &#x201E;Menschheit" gegen die Schranken der Nationalitäten am gleichgültigsten<lb/>
war. Heute erleben wir die entgegengesetzte Bewegung! die Nationen haben,<lb/>
infolge der sich ausbreitenden individualistischen Lebensanschauung, begonnen,<lb/>
sich mehr denn je als Individuen zu empfinden, und die allgemeine Bewegung<lb/>
der Völker geht dahin, sich mit dem Gleichartigen auch politisch zu vereinen<lb/>
und das Fremde auszuscheiden. Das widerstreitet aber dem Machtinteresse der<lb/>
Staaten, es widerstreitet auch dem Gesamtinteresse Europas, welches gerade mit<lb/>
Rücksicht auf Asten die Zersplitterung in lauter einzelne Nationalstaaten nicht<lb/>
wagen darf. Vom kosmopolitischen Standpunkte aus wäre im Gegenteil das<lb/>
Wünschenswerteste ein gesamteuropäischer Staat, den Napoleon Bonaparte<lb/>
wohl gewollt hat. Aber wie soll er Zustandekommen, wenn die Völker auf<lb/>
Erhaltung der Nationalität, mit Recht, eifersüchtig sind? Ich meine: was<lb/>
Napoleon nicht gelang und nicht gelingen konnte, weil es die demütigende<lb/>
Gewalttat eines einzelnen war, die den Rückstoß notwendig hervortrieb, das<lb/>
könnte im Laufe natürlicher Entwicklung sich von selbst ergeben und zwar aus<lb/>
der Aussöhnung der beiden sich widersprechenden, aber berechtigten Tendenzen,<lb/>
nämlich eine allmähliche Auflösung der staatlichen Grenzen zu einem europäischen<lb/>
Gesamtstaat bei strenger Wahrung völkischer Eigenart nach Sprache, Sitte,<lb/>
Heimat usw. Schon heute haben wir bei allen Konflikten zwischen europäischen<lb/>
Staaten die Empfindung: eigentlich ist das alles Unsinn! Eigentlich sind die wirt¬<lb/>
schaftlichen und geistigen Interessen aller europäischen Staaten dieselben, und ein Krieg<lb/>
zwischen ihnen ist nur schädlich, .indem es die Gesamtmacht Europas auf Erden<lb/>
herabsetzt. Denken wir uns einmal einen europäischen Staatenbund, ähnlich<lb/>
dem Bundesstaate des deutschen Reiches, welcher alle europäischen Interessen<lb/>
gemeinsam verwaltete, im übrigen aber den durch Sprache, Sitte, Heimat genügend<lb/>
bestimmten Nationen innere Selbständigkeit gewährte I Der Gewinn wäre in jeder<lb/>
Hinsicht außerordentlich. Vorläufig heben sich z. B. die Seekräfte der europäischen<lb/>
Staaten fast gegenseitig auf, da sie ihre Kriegsmittel immer gegeneinander bereit¬<lb/>
halten müssen. Denken wir uns sämtliche Flotten vereinigt.zu gemein-euro¬<lb/>
päischen Zwecken, so werden kolossale Kräfte nach außen frei und die kosmopo¬<lb/>
litische Machtstellung Europas wächst plötzlich ins Ungeheure. Heute überwacht<lb/>
jede Nation eifersüchtig den Kolonialbesitz der anderen. Im Grunde ist es ganz<lb/>
gleichgültig, wem diese oder jene Kolonie gehört; wichtig ist, daß Europa im<lb/>
ganzen möglichst viel Kolonien hat und im ganzen Nutzen daraus zieht. Heute &#x2014;<lb/>
um eine andere Seite zu beleuchten &#x2014; sind die Polen, an drei Staaten ver¬<lb/>
teilt, unruhige Elemente und für alle drei eine Last.  Denkt man sich die</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0275] Die ZVelt als Asien und Europa Auch die Nationen dürfen wir als Individuen betrachten. Das Selbstbestimmungs¬ recht des Individuums würde verlangen, daß Nation und Staatsverband sich decken. Dieser natürliche Zustand ist im geschichtlichen Europa wohl nie ver¬ wirklicht gewesen, vielmehr haben immer einzelne Nationen verschiedenen Staaten angehört und hat mancher Staat mehrere Nationen umfaßt. Das achtzehnte Jahrhundert ist hierin am weitesten gegangen, da es aus seiner Weltanschauung von der „Menschheit" gegen die Schranken der Nationalitäten am gleichgültigsten war. Heute erleben wir die entgegengesetzte Bewegung! die Nationen haben, infolge der sich ausbreitenden individualistischen Lebensanschauung, begonnen, sich mehr denn je als Individuen zu empfinden, und die allgemeine Bewegung der Völker geht dahin, sich mit dem Gleichartigen auch politisch zu vereinen und das Fremde auszuscheiden. Das widerstreitet aber dem Machtinteresse der Staaten, es widerstreitet auch dem Gesamtinteresse Europas, welches gerade mit Rücksicht auf Asten die Zersplitterung in lauter einzelne Nationalstaaten nicht wagen darf. Vom kosmopolitischen Standpunkte aus wäre im Gegenteil das Wünschenswerteste ein gesamteuropäischer Staat, den Napoleon Bonaparte wohl gewollt hat. Aber wie soll er Zustandekommen, wenn die Völker auf Erhaltung der Nationalität, mit Recht, eifersüchtig sind? Ich meine: was Napoleon nicht gelang und nicht gelingen konnte, weil es die demütigende Gewalttat eines einzelnen war, die den Rückstoß notwendig hervortrieb, das könnte im Laufe natürlicher Entwicklung sich von selbst ergeben und zwar aus der Aussöhnung der beiden sich widersprechenden, aber berechtigten Tendenzen, nämlich eine allmähliche Auflösung der staatlichen Grenzen zu einem europäischen Gesamtstaat bei strenger Wahrung völkischer Eigenart nach Sprache, Sitte, Heimat usw. Schon heute haben wir bei allen Konflikten zwischen europäischen Staaten die Empfindung: eigentlich ist das alles Unsinn! Eigentlich sind die wirt¬ schaftlichen und geistigen Interessen aller europäischen Staaten dieselben, und ein Krieg zwischen ihnen ist nur schädlich, .indem es die Gesamtmacht Europas auf Erden herabsetzt. Denken wir uns einmal einen europäischen Staatenbund, ähnlich dem Bundesstaate des deutschen Reiches, welcher alle europäischen Interessen gemeinsam verwaltete, im übrigen aber den durch Sprache, Sitte, Heimat genügend bestimmten Nationen innere Selbständigkeit gewährte I Der Gewinn wäre in jeder Hinsicht außerordentlich. Vorläufig heben sich z. B. die Seekräfte der europäischen Staaten fast gegenseitig auf, da sie ihre Kriegsmittel immer gegeneinander bereit¬ halten müssen. Denken wir uns sämtliche Flotten vereinigt.zu gemein-euro¬ päischen Zwecken, so werden kolossale Kräfte nach außen frei und die kosmopo¬ litische Machtstellung Europas wächst plötzlich ins Ungeheure. Heute überwacht jede Nation eifersüchtig den Kolonialbesitz der anderen. Im Grunde ist es ganz gleichgültig, wem diese oder jene Kolonie gehört; wichtig ist, daß Europa im ganzen möglichst viel Kolonien hat und im ganzen Nutzen daraus zieht. Heute — um eine andere Seite zu beleuchten — sind die Polen, an drei Staaten ver¬ teilt, unruhige Elemente und für alle drei eine Last. Denkt man sich die

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/275
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/275>, abgerufen am 22.07.2024.