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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Die Welt als Asien und Europa

andere Menschheit mit anderen Methoden zu einer ganz anderen Wissenschaft
gelangen würde.

Gestehen wir uns ein: wir Europäer, die wir uns so weltbürgerlich vor¬
kommen, bilden nur eine Seite der kultivierten Menschheit, mit ihren Vorzügen,
aber auch mit ihren Begrenzungen. Die andere Seite, Asien, steht uns heute
noch als unbekannter Rivale gegenüber. Überlegen sind wir ihm durch unsere
Kanonen, durch Eisenbahnen, Kriegsschiffe und dergleichen materielle Dinge.
Asien ist gegenwärtig unser Schüler. Schon daß er lernen will, beweist, daß
er dem Lehrer gewachsen ist. Er wird weniger Zeit brauchen, als wir wünschen,
bis er gelernt haben wird, was sich an Europa erlernen läßt. Dann erst
beginnt die eigentliche Gegnerschaft, die der Kulturen. Wahrscheinlich geht es
nicht ohne den blutigen Kampf mit Waffen ab; der Weltkrieg, von dem so
viel gesprochen wird, ist die große Abrechnung zwischen Europa und Asten,
sowie einmal Perser und Griechen, Punier und Römer auf Tod und Leben
miteinander gekämpft haben. Die Westküste Amerikas und die Südgrenze
Rußlands sind die gefährlichen Reibungsflächen. Daß in einem solchen Kampfe
zwischen den beiden Hälften der Menschheit die europäische Sieger bleiben
wird, wer will es wissen? Aber wie blutig dieser Krieg auch werde und wie
er entscheiden möge: Asten ist zugleich unser einziger Verbündeter auf der Welt.
Denn wenn der Menschheit im Großen noch ein Fortschritt bevorsteht, so wird
er aus dem friedlichen Wettstreit zwischen europäischer und asiatischer Kultur
hervorgehen. Eine Synthese von Europa und Asien, eine Verbindung von
westlicher und östlicher Kultur -- oder nichts sonst ist die Zukunft.

Aus dieser Einsicht erwachsen uns zwei Aufgaben schon für die Gegen¬
wart, nämlich erstens, Asien kennen zu lernen -- und zweitens, Europa immer
europäischer zu machen. Und so, nachdem wir uns bemüht haben, zu zeigen,
daß wir nur-europäisch sind, müssen wir zum Schlüsse noch rasch darauf hin¬
weisen, daß wir noch lange nicht europäisch genug sind.

Wir Europäer verstehen unter Kultur den Kampf gegen jede Art von Aber¬
glauben. Aufklärung ist ein echt europäischer Begriff. Immer wieder sehen wir in
unserer Geistesgeschichte das Recht der gesunden Vernunft sich durchsetzen gegen
Dogmatik und Bevormundung. Ebenso oft aber revoltiert gegen die nüchterne
Helligkeit des selbstgewisser Verstandes das Gefühl, die Ahnung des Unbekannten
und Unerforschlichen; immer wieder wird die Aufklärung abgelöst von einer Epoche
der Romantik. Europäisch also ist zwar die Geistesfreiheit, die Voraussetzungs-
lostgkeit der Forschung, ist jener Wahrheitstrieb, der es wagt, der Wirklichkeit
in jeder Gestalt ins Gesicht zu sehen; uneuropäisch dagegen sind alle, in
Europa noch so tief wurzelnden Institutionen, die das Wissen aushalten, Geister
und Herzen knebeln und Dogma und Autorität dem menschlichen Verstände zu
Zuchtmeistern setzen. Aber ebenso uneuropäisch ist jene Überhebung des bloßen
Verstandes, jene Überschätzung exakter Wissenschaft, welche meint, die Welträtsel
naturwissenschaftlich lösen zu können, und blind ist gegen das ewig Unbegreif-


Die Welt als Asien und Europa

andere Menschheit mit anderen Methoden zu einer ganz anderen Wissenschaft
gelangen würde.

Gestehen wir uns ein: wir Europäer, die wir uns so weltbürgerlich vor¬
kommen, bilden nur eine Seite der kultivierten Menschheit, mit ihren Vorzügen,
aber auch mit ihren Begrenzungen. Die andere Seite, Asien, steht uns heute
noch als unbekannter Rivale gegenüber. Überlegen sind wir ihm durch unsere
Kanonen, durch Eisenbahnen, Kriegsschiffe und dergleichen materielle Dinge.
Asien ist gegenwärtig unser Schüler. Schon daß er lernen will, beweist, daß
er dem Lehrer gewachsen ist. Er wird weniger Zeit brauchen, als wir wünschen,
bis er gelernt haben wird, was sich an Europa erlernen läßt. Dann erst
beginnt die eigentliche Gegnerschaft, die der Kulturen. Wahrscheinlich geht es
nicht ohne den blutigen Kampf mit Waffen ab; der Weltkrieg, von dem so
viel gesprochen wird, ist die große Abrechnung zwischen Europa und Asten,
sowie einmal Perser und Griechen, Punier und Römer auf Tod und Leben
miteinander gekämpft haben. Die Westküste Amerikas und die Südgrenze
Rußlands sind die gefährlichen Reibungsflächen. Daß in einem solchen Kampfe
zwischen den beiden Hälften der Menschheit die europäische Sieger bleiben
wird, wer will es wissen? Aber wie blutig dieser Krieg auch werde und wie
er entscheiden möge: Asten ist zugleich unser einziger Verbündeter auf der Welt.
Denn wenn der Menschheit im Großen noch ein Fortschritt bevorsteht, so wird
er aus dem friedlichen Wettstreit zwischen europäischer und asiatischer Kultur
hervorgehen. Eine Synthese von Europa und Asien, eine Verbindung von
westlicher und östlicher Kultur — oder nichts sonst ist die Zukunft.

Aus dieser Einsicht erwachsen uns zwei Aufgaben schon für die Gegen¬
wart, nämlich erstens, Asien kennen zu lernen — und zweitens, Europa immer
europäischer zu machen. Und so, nachdem wir uns bemüht haben, zu zeigen,
daß wir nur-europäisch sind, müssen wir zum Schlüsse noch rasch darauf hin¬
weisen, daß wir noch lange nicht europäisch genug sind.

Wir Europäer verstehen unter Kultur den Kampf gegen jede Art von Aber¬
glauben. Aufklärung ist ein echt europäischer Begriff. Immer wieder sehen wir in
unserer Geistesgeschichte das Recht der gesunden Vernunft sich durchsetzen gegen
Dogmatik und Bevormundung. Ebenso oft aber revoltiert gegen die nüchterne
Helligkeit des selbstgewisser Verstandes das Gefühl, die Ahnung des Unbekannten
und Unerforschlichen; immer wieder wird die Aufklärung abgelöst von einer Epoche
der Romantik. Europäisch also ist zwar die Geistesfreiheit, die Voraussetzungs-
lostgkeit der Forschung, ist jener Wahrheitstrieb, der es wagt, der Wirklichkeit
in jeder Gestalt ins Gesicht zu sehen; uneuropäisch dagegen sind alle, in
Europa noch so tief wurzelnden Institutionen, die das Wissen aushalten, Geister
und Herzen knebeln und Dogma und Autorität dem menschlichen Verstände zu
Zuchtmeistern setzen. Aber ebenso uneuropäisch ist jene Überhebung des bloßen
Verstandes, jene Überschätzung exakter Wissenschaft, welche meint, die Welträtsel
naturwissenschaftlich lösen zu können, und blind ist gegen das ewig Unbegreif-


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[0273] Die Welt als Asien und Europa andere Menschheit mit anderen Methoden zu einer ganz anderen Wissenschaft gelangen würde. Gestehen wir uns ein: wir Europäer, die wir uns so weltbürgerlich vor¬ kommen, bilden nur eine Seite der kultivierten Menschheit, mit ihren Vorzügen, aber auch mit ihren Begrenzungen. Die andere Seite, Asien, steht uns heute noch als unbekannter Rivale gegenüber. Überlegen sind wir ihm durch unsere Kanonen, durch Eisenbahnen, Kriegsschiffe und dergleichen materielle Dinge. Asien ist gegenwärtig unser Schüler. Schon daß er lernen will, beweist, daß er dem Lehrer gewachsen ist. Er wird weniger Zeit brauchen, als wir wünschen, bis er gelernt haben wird, was sich an Europa erlernen läßt. Dann erst beginnt die eigentliche Gegnerschaft, die der Kulturen. Wahrscheinlich geht es nicht ohne den blutigen Kampf mit Waffen ab; der Weltkrieg, von dem so viel gesprochen wird, ist die große Abrechnung zwischen Europa und Asten, sowie einmal Perser und Griechen, Punier und Römer auf Tod und Leben miteinander gekämpft haben. Die Westküste Amerikas und die Südgrenze Rußlands sind die gefährlichen Reibungsflächen. Daß in einem solchen Kampfe zwischen den beiden Hälften der Menschheit die europäische Sieger bleiben wird, wer will es wissen? Aber wie blutig dieser Krieg auch werde und wie er entscheiden möge: Asten ist zugleich unser einziger Verbündeter auf der Welt. Denn wenn der Menschheit im Großen noch ein Fortschritt bevorsteht, so wird er aus dem friedlichen Wettstreit zwischen europäischer und asiatischer Kultur hervorgehen. Eine Synthese von Europa und Asien, eine Verbindung von westlicher und östlicher Kultur — oder nichts sonst ist die Zukunft. Aus dieser Einsicht erwachsen uns zwei Aufgaben schon für die Gegen¬ wart, nämlich erstens, Asien kennen zu lernen — und zweitens, Europa immer europäischer zu machen. Und so, nachdem wir uns bemüht haben, zu zeigen, daß wir nur-europäisch sind, müssen wir zum Schlüsse noch rasch darauf hin¬ weisen, daß wir noch lange nicht europäisch genug sind. Wir Europäer verstehen unter Kultur den Kampf gegen jede Art von Aber¬ glauben. Aufklärung ist ein echt europäischer Begriff. Immer wieder sehen wir in unserer Geistesgeschichte das Recht der gesunden Vernunft sich durchsetzen gegen Dogmatik und Bevormundung. Ebenso oft aber revoltiert gegen die nüchterne Helligkeit des selbstgewisser Verstandes das Gefühl, die Ahnung des Unbekannten und Unerforschlichen; immer wieder wird die Aufklärung abgelöst von einer Epoche der Romantik. Europäisch also ist zwar die Geistesfreiheit, die Voraussetzungs- lostgkeit der Forschung, ist jener Wahrheitstrieb, der es wagt, der Wirklichkeit in jeder Gestalt ins Gesicht zu sehen; uneuropäisch dagegen sind alle, in Europa noch so tief wurzelnden Institutionen, die das Wissen aushalten, Geister und Herzen knebeln und Dogma und Autorität dem menschlichen Verstände zu Zuchtmeistern setzen. Aber ebenso uneuropäisch ist jene Überhebung des bloßen Verstandes, jene Überschätzung exakter Wissenschaft, welche meint, die Welträtsel naturwissenschaftlich lösen zu können, und blind ist gegen das ewig Unbegreif-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/273>, abgerufen am 22.07.2024.