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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Die Welt als Asien und Luropcr

Asiens? -- -- Auf unserem Siegeszuge durch die Welt wird uns plötzlich
Halt geboten. Plötzlich zeigt sich, daß doch nicht die ganze Erde europäisch
geworden ist, noch sich europäisch machen läßt: Asien ist übrig geblieben als
mächtiger Widerstand, vielleicht als ebenbürtiger Gegner? Dieses Asien hat
nicht eine Bevölkerung von "Wilden" wie Afrika und Australien. Dieses Asien
hat sich nicht überrumpeln lassen wie die Eingeborenen Amerikas. Dieses Asten
steht da, fest, einheitlich, stolz auf die eigene Kultur, voll Mißtrauen gegen die
Fremden, entschlossen, nur soweit europäisch zu werden, als es will und als es
ihm nützlich ist. Dieses Asien scheint dieselben Ansprüche an den Besitz der
Erde zu machen wie wir.

Wir erinnern uns des Begriffs der Kulturgemeinschaft, den wir anfangs
aufgestellt haben. Ist Asien eine Kulturgemeinschaft im selben Sinne wie Europa?
Es wird kaum einen Menschen geben, dessen Bildung Europa und Asien um¬
spannt. Aber so viel darf man wohl behaupten: Indien, Tibet, China,
Mongolei, Korea, Japan bilden allerdings zusammen eine Kulturgemeinschaft,
wenn ich auch nicht zu sagen weiß, wie tief sie reicht.

Bei dieser Gegenüberstellung von Europa und Asien kommt es uns weniger
auf den Inhalt der Verschiedenheit an, als vielmehr auf das sozusagen formale
Verhältnis der beiden Kulturgruppen. Und dieses formale Verhältnis können
wir uns durch folgende Betrachtung noch deutlicher machen: Wir haben Kultur¬
gemeinschaften des Nebeneinander aufgestellt, es gibt aber auch solche des
Nacheinander. Der ununterbrochene Zusammenhang nach Rückwärts bildet eine
Kulturkette. Für uns Deutsche geht dieser bewußte Zusammenhang rückwärts,
wie gesagt, über die gesamte Geschichte des heiligen römischen Reiches deutscher
Nation nach Rom und durch dieses nach Griechenland und Palästina. Die
Verbindung mit der germanischen Vorzeit dagegen verliert sich bald ins Un¬
bewußte und mußte erst durch gelehrte Forschung einigermaßen wieder angeknüpft
werden. Unbewußte Kulturketten, d. h. bloßer Kausalzusammenhang, der aber
nicht in unserer geschichtlichen Erinnerung lebt, verbinden uns über Griechenland
und Palästina mit viel weiter zurückliegenden Kulturgruppen, z. B. Babylonien
und Ägypten. Eine jüngere Seitenverbindung reicht in die Welt des Islam.
Die sämtlichen bewußten und unbewußten Beziehungen werden besser durch das
Bild eines Netz- und Flechtwerkes ausgedrückt. Beschränken wir uns aber auf die
bewußten Zusammenhänge, so bietet sich freilich das Gleichnis einer Kette dar
oder auch eines Stromes, der Zuflüsse aufnimmt. Solcher Kulturketten gibt
und gab es auf Erden offenbar mehrere, die nicht alle miteinander in Verbindung
stehen und manchmal zu früh abgerissen sind. Man denke z. B. an die ganz
selbständige, von den Europäern vernichtete mittelamerikanische Kultur. Es gab
sozusagen mehrere "Weltgeschichten" nebeneinander. Heute nun bieten sich immer
noch wenigstens zwei solcher Ketten dar: die europäische und die asiatische. Gibt
es eine der europäischen analoge asiatische Kulturgemeinschaft, so hat sich also
das Bewußtsein der zivilisierten Menschheit gespalten.


Die Welt als Asien und Luropcr

Asiens? — — Auf unserem Siegeszuge durch die Welt wird uns plötzlich
Halt geboten. Plötzlich zeigt sich, daß doch nicht die ganze Erde europäisch
geworden ist, noch sich europäisch machen läßt: Asien ist übrig geblieben als
mächtiger Widerstand, vielleicht als ebenbürtiger Gegner? Dieses Asien hat
nicht eine Bevölkerung von „Wilden" wie Afrika und Australien. Dieses Asien
hat sich nicht überrumpeln lassen wie die Eingeborenen Amerikas. Dieses Asten
steht da, fest, einheitlich, stolz auf die eigene Kultur, voll Mißtrauen gegen die
Fremden, entschlossen, nur soweit europäisch zu werden, als es will und als es
ihm nützlich ist. Dieses Asien scheint dieselben Ansprüche an den Besitz der
Erde zu machen wie wir.

Wir erinnern uns des Begriffs der Kulturgemeinschaft, den wir anfangs
aufgestellt haben. Ist Asien eine Kulturgemeinschaft im selben Sinne wie Europa?
Es wird kaum einen Menschen geben, dessen Bildung Europa und Asien um¬
spannt. Aber so viel darf man wohl behaupten: Indien, Tibet, China,
Mongolei, Korea, Japan bilden allerdings zusammen eine Kulturgemeinschaft,
wenn ich auch nicht zu sagen weiß, wie tief sie reicht.

Bei dieser Gegenüberstellung von Europa und Asien kommt es uns weniger
auf den Inhalt der Verschiedenheit an, als vielmehr auf das sozusagen formale
Verhältnis der beiden Kulturgruppen. Und dieses formale Verhältnis können
wir uns durch folgende Betrachtung noch deutlicher machen: Wir haben Kultur¬
gemeinschaften des Nebeneinander aufgestellt, es gibt aber auch solche des
Nacheinander. Der ununterbrochene Zusammenhang nach Rückwärts bildet eine
Kulturkette. Für uns Deutsche geht dieser bewußte Zusammenhang rückwärts,
wie gesagt, über die gesamte Geschichte des heiligen römischen Reiches deutscher
Nation nach Rom und durch dieses nach Griechenland und Palästina. Die
Verbindung mit der germanischen Vorzeit dagegen verliert sich bald ins Un¬
bewußte und mußte erst durch gelehrte Forschung einigermaßen wieder angeknüpft
werden. Unbewußte Kulturketten, d. h. bloßer Kausalzusammenhang, der aber
nicht in unserer geschichtlichen Erinnerung lebt, verbinden uns über Griechenland
und Palästina mit viel weiter zurückliegenden Kulturgruppen, z. B. Babylonien
und Ägypten. Eine jüngere Seitenverbindung reicht in die Welt des Islam.
Die sämtlichen bewußten und unbewußten Beziehungen werden besser durch das
Bild eines Netz- und Flechtwerkes ausgedrückt. Beschränken wir uns aber auf die
bewußten Zusammenhänge, so bietet sich freilich das Gleichnis einer Kette dar
oder auch eines Stromes, der Zuflüsse aufnimmt. Solcher Kulturketten gibt
und gab es auf Erden offenbar mehrere, die nicht alle miteinander in Verbindung
stehen und manchmal zu früh abgerissen sind. Man denke z. B. an die ganz
selbständige, von den Europäern vernichtete mittelamerikanische Kultur. Es gab
sozusagen mehrere „Weltgeschichten" nebeneinander. Heute nun bieten sich immer
noch wenigstens zwei solcher Ketten dar: die europäische und die asiatische. Gibt
es eine der europäischen analoge asiatische Kulturgemeinschaft, so hat sich also
das Bewußtsein der zivilisierten Menschheit gespalten.


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[0270] Die Welt als Asien und Luropcr Asiens? — — Auf unserem Siegeszuge durch die Welt wird uns plötzlich Halt geboten. Plötzlich zeigt sich, daß doch nicht die ganze Erde europäisch geworden ist, noch sich europäisch machen läßt: Asien ist übrig geblieben als mächtiger Widerstand, vielleicht als ebenbürtiger Gegner? Dieses Asien hat nicht eine Bevölkerung von „Wilden" wie Afrika und Australien. Dieses Asien hat sich nicht überrumpeln lassen wie die Eingeborenen Amerikas. Dieses Asten steht da, fest, einheitlich, stolz auf die eigene Kultur, voll Mißtrauen gegen die Fremden, entschlossen, nur soweit europäisch zu werden, als es will und als es ihm nützlich ist. Dieses Asien scheint dieselben Ansprüche an den Besitz der Erde zu machen wie wir. Wir erinnern uns des Begriffs der Kulturgemeinschaft, den wir anfangs aufgestellt haben. Ist Asien eine Kulturgemeinschaft im selben Sinne wie Europa? Es wird kaum einen Menschen geben, dessen Bildung Europa und Asien um¬ spannt. Aber so viel darf man wohl behaupten: Indien, Tibet, China, Mongolei, Korea, Japan bilden allerdings zusammen eine Kulturgemeinschaft, wenn ich auch nicht zu sagen weiß, wie tief sie reicht. Bei dieser Gegenüberstellung von Europa und Asien kommt es uns weniger auf den Inhalt der Verschiedenheit an, als vielmehr auf das sozusagen formale Verhältnis der beiden Kulturgruppen. Und dieses formale Verhältnis können wir uns durch folgende Betrachtung noch deutlicher machen: Wir haben Kultur¬ gemeinschaften des Nebeneinander aufgestellt, es gibt aber auch solche des Nacheinander. Der ununterbrochene Zusammenhang nach Rückwärts bildet eine Kulturkette. Für uns Deutsche geht dieser bewußte Zusammenhang rückwärts, wie gesagt, über die gesamte Geschichte des heiligen römischen Reiches deutscher Nation nach Rom und durch dieses nach Griechenland und Palästina. Die Verbindung mit der germanischen Vorzeit dagegen verliert sich bald ins Un¬ bewußte und mußte erst durch gelehrte Forschung einigermaßen wieder angeknüpft werden. Unbewußte Kulturketten, d. h. bloßer Kausalzusammenhang, der aber nicht in unserer geschichtlichen Erinnerung lebt, verbinden uns über Griechenland und Palästina mit viel weiter zurückliegenden Kulturgruppen, z. B. Babylonien und Ägypten. Eine jüngere Seitenverbindung reicht in die Welt des Islam. Die sämtlichen bewußten und unbewußten Beziehungen werden besser durch das Bild eines Netz- und Flechtwerkes ausgedrückt. Beschränken wir uns aber auf die bewußten Zusammenhänge, so bietet sich freilich das Gleichnis einer Kette dar oder auch eines Stromes, der Zuflüsse aufnimmt. Solcher Kulturketten gibt und gab es auf Erden offenbar mehrere, die nicht alle miteinander in Verbindung stehen und manchmal zu früh abgerissen sind. Man denke z. B. an die ganz selbständige, von den Europäern vernichtete mittelamerikanische Kultur. Es gab sozusagen mehrere „Weltgeschichten" nebeneinander. Heute nun bieten sich immer noch wenigstens zwei solcher Ketten dar: die europäische und die asiatische. Gibt es eine der europäischen analoge asiatische Kulturgemeinschaft, so hat sich also das Bewußtsein der zivilisierten Menschheit gespalten.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/270>, abgerufen am 03.07.2024.