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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Die Welt als Asien und Europa

zehnten Jahrhundert nicht viel anders, als es in Rom und Athen auch war
und in Memphis und Babylon wahrscheinlich gewesen ist. Goethe reist noch,
wie die Menschheit seit je reiste. Siegesnachrichten konnte Napoleon nicht schneller
befördern, als es der Bote von Marathon getan hat. Skulpturen meißelte man
schon einmal besser als im Rokoko, das Regieren verstand man im alten Rom
auch besser als im heiligen römischen Reiche deutscher Nation. Freilich: Amerika
ist jetzt entdeckt, und man weiß auf der Erde einigermaßen Bescheid, die Buch¬
druckerkunst ist erfunden, die Feuerwaffe hat den Krieg umgewandelt -- wichtige
Dinge gewiß, aber kein Bruch in der stetigen Entwicklung der Menschheit.

Allein es kommt das neunzehnte Jahrhundert, und nun verändert sich alles
auf Erden. Was die Generation von 1900 kann, müßte die von 1800 für
pure Zauberei halten. Es gibt keine Entfernung mehr: ich kann jede Nachricht
in einem Moment nach fast jedem bewohnten Punkt der Erde senden; ich nehme
in meiner Wohnung in Berlin einen kleinen Apparat zur Hand und unterhalte
mich mit meinem Freunde in Wien. Ein Kind drückt auf einen Knopf, und
die Felsmassen, die den Hafen von New Aork sperrten, fliegen in die Luft.
Ich betrete ein Haus auf Rädern, eine ganze Straße von rollenden Häusern
und fahre innerhalb eines Tages nach London, nach Paris, nach Rom. Ich
logiere mich in ein Riesenhotel ein, und es bringt mich in sechs Tagen nach
Amerika. Kriegsschiffe, wie wir sie bauen, übertreffen gewiß alles, was die
ausschweifendste Phantasie sich je hat träumen lassen. Unsere Geschosse tragen
sechs Meilen, unsere Schlachten dauern zehn Tage. Und nun gar, daß wir
fliegen können I Mit unserer Kenntnis der Krankheitserreger, mit unseren
Mitteln, zu desinfizieren, zu operieren, sind wir heilende Götter, verglichen mit
den Ärzten vor wenigen Jahrzehnten, die noch die Ursache des Wundfiebers
nicht kannten und es dem Zufall überlassen mußten, ob eine Operation glückte
oder der Patient nachträglich zugrunde ging. Die Cholera tobt in Hamburg,
und wir wissen sie von Berlin fernzuhalten. Gegen die Exaktheit unserer
Forschungsmethoden erscheinen eigentlich alle Wissenschaften vor dem neun¬
zehnten Jahrhundert wie Spielereien von Dilettanten.

Das neunzehnte Jahrhundert erst hat die Natur, hat die Erde in die
Gewalt der Menschheit gegeben, und der Überwinder heißt Europa. Europa
bevölkert die Erde. Der Europäer läßt an Pflanzen und Tieren übrig, was
ihm nützlich ist. alles andere rottet er aus. Zu seinem Vergnügen allenfalls
konserviert er hier und da ein Stückchen unberührter Natur wie den Aellowstone-
park. Der Europäer vernichtet die Völker, die ihm im Wege sind, wie er es
mit den Ureinwohnern Amerikas getan hat, oder macht sie seinen Zwecken
dienstbar, wie in Afrika. Es sieht aus, als dauerte es nicht mehr lange und
der Erdball ist Eigentum Europas. Amerika ist ganz europäisch; Afrika gehört
uns als freilich noch unbequemer Besitz; was an Australien kultiviert ist, ist
rein europäisch. An wichtigen Stellen Asiens hat Europa Fuß gefaßt.




Grenzboten III 1912 33
Die Welt als Asien und Europa

zehnten Jahrhundert nicht viel anders, als es in Rom und Athen auch war
und in Memphis und Babylon wahrscheinlich gewesen ist. Goethe reist noch,
wie die Menschheit seit je reiste. Siegesnachrichten konnte Napoleon nicht schneller
befördern, als es der Bote von Marathon getan hat. Skulpturen meißelte man
schon einmal besser als im Rokoko, das Regieren verstand man im alten Rom
auch besser als im heiligen römischen Reiche deutscher Nation. Freilich: Amerika
ist jetzt entdeckt, und man weiß auf der Erde einigermaßen Bescheid, die Buch¬
druckerkunst ist erfunden, die Feuerwaffe hat den Krieg umgewandelt — wichtige
Dinge gewiß, aber kein Bruch in der stetigen Entwicklung der Menschheit.

Allein es kommt das neunzehnte Jahrhundert, und nun verändert sich alles
auf Erden. Was die Generation von 1900 kann, müßte die von 1800 für
pure Zauberei halten. Es gibt keine Entfernung mehr: ich kann jede Nachricht
in einem Moment nach fast jedem bewohnten Punkt der Erde senden; ich nehme
in meiner Wohnung in Berlin einen kleinen Apparat zur Hand und unterhalte
mich mit meinem Freunde in Wien. Ein Kind drückt auf einen Knopf, und
die Felsmassen, die den Hafen von New Aork sperrten, fliegen in die Luft.
Ich betrete ein Haus auf Rädern, eine ganze Straße von rollenden Häusern
und fahre innerhalb eines Tages nach London, nach Paris, nach Rom. Ich
logiere mich in ein Riesenhotel ein, und es bringt mich in sechs Tagen nach
Amerika. Kriegsschiffe, wie wir sie bauen, übertreffen gewiß alles, was die
ausschweifendste Phantasie sich je hat träumen lassen. Unsere Geschosse tragen
sechs Meilen, unsere Schlachten dauern zehn Tage. Und nun gar, daß wir
fliegen können I Mit unserer Kenntnis der Krankheitserreger, mit unseren
Mitteln, zu desinfizieren, zu operieren, sind wir heilende Götter, verglichen mit
den Ärzten vor wenigen Jahrzehnten, die noch die Ursache des Wundfiebers
nicht kannten und es dem Zufall überlassen mußten, ob eine Operation glückte
oder der Patient nachträglich zugrunde ging. Die Cholera tobt in Hamburg,
und wir wissen sie von Berlin fernzuhalten. Gegen die Exaktheit unserer
Forschungsmethoden erscheinen eigentlich alle Wissenschaften vor dem neun¬
zehnten Jahrhundert wie Spielereien von Dilettanten.

Das neunzehnte Jahrhundert erst hat die Natur, hat die Erde in die
Gewalt der Menschheit gegeben, und der Überwinder heißt Europa. Europa
bevölkert die Erde. Der Europäer läßt an Pflanzen und Tieren übrig, was
ihm nützlich ist. alles andere rottet er aus. Zu seinem Vergnügen allenfalls
konserviert er hier und da ein Stückchen unberührter Natur wie den Aellowstone-
park. Der Europäer vernichtet die Völker, die ihm im Wege sind, wie er es
mit den Ureinwohnern Amerikas getan hat, oder macht sie seinen Zwecken
dienstbar, wie in Afrika. Es sieht aus, als dauerte es nicht mehr lange und
der Erdball ist Eigentum Europas. Amerika ist ganz europäisch; Afrika gehört
uns als freilich noch unbequemer Besitz; was an Australien kultiviert ist, ist
rein europäisch. An wichtigen Stellen Asiens hat Europa Fuß gefaßt.




Grenzboten III 1912 33
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[0269] Die Welt als Asien und Europa zehnten Jahrhundert nicht viel anders, als es in Rom und Athen auch war und in Memphis und Babylon wahrscheinlich gewesen ist. Goethe reist noch, wie die Menschheit seit je reiste. Siegesnachrichten konnte Napoleon nicht schneller befördern, als es der Bote von Marathon getan hat. Skulpturen meißelte man schon einmal besser als im Rokoko, das Regieren verstand man im alten Rom auch besser als im heiligen römischen Reiche deutscher Nation. Freilich: Amerika ist jetzt entdeckt, und man weiß auf der Erde einigermaßen Bescheid, die Buch¬ druckerkunst ist erfunden, die Feuerwaffe hat den Krieg umgewandelt — wichtige Dinge gewiß, aber kein Bruch in der stetigen Entwicklung der Menschheit. Allein es kommt das neunzehnte Jahrhundert, und nun verändert sich alles auf Erden. Was die Generation von 1900 kann, müßte die von 1800 für pure Zauberei halten. Es gibt keine Entfernung mehr: ich kann jede Nachricht in einem Moment nach fast jedem bewohnten Punkt der Erde senden; ich nehme in meiner Wohnung in Berlin einen kleinen Apparat zur Hand und unterhalte mich mit meinem Freunde in Wien. Ein Kind drückt auf einen Knopf, und die Felsmassen, die den Hafen von New Aork sperrten, fliegen in die Luft. Ich betrete ein Haus auf Rädern, eine ganze Straße von rollenden Häusern und fahre innerhalb eines Tages nach London, nach Paris, nach Rom. Ich logiere mich in ein Riesenhotel ein, und es bringt mich in sechs Tagen nach Amerika. Kriegsschiffe, wie wir sie bauen, übertreffen gewiß alles, was die ausschweifendste Phantasie sich je hat träumen lassen. Unsere Geschosse tragen sechs Meilen, unsere Schlachten dauern zehn Tage. Und nun gar, daß wir fliegen können I Mit unserer Kenntnis der Krankheitserreger, mit unseren Mitteln, zu desinfizieren, zu operieren, sind wir heilende Götter, verglichen mit den Ärzten vor wenigen Jahrzehnten, die noch die Ursache des Wundfiebers nicht kannten und es dem Zufall überlassen mußten, ob eine Operation glückte oder der Patient nachträglich zugrunde ging. Die Cholera tobt in Hamburg, und wir wissen sie von Berlin fernzuhalten. Gegen die Exaktheit unserer Forschungsmethoden erscheinen eigentlich alle Wissenschaften vor dem neun¬ zehnten Jahrhundert wie Spielereien von Dilettanten. Das neunzehnte Jahrhundert erst hat die Natur, hat die Erde in die Gewalt der Menschheit gegeben, und der Überwinder heißt Europa. Europa bevölkert die Erde. Der Europäer läßt an Pflanzen und Tieren übrig, was ihm nützlich ist. alles andere rottet er aus. Zu seinem Vergnügen allenfalls konserviert er hier und da ein Stückchen unberührter Natur wie den Aellowstone- park. Der Europäer vernichtet die Völker, die ihm im Wege sind, wie er es mit den Ureinwohnern Amerikas getan hat, oder macht sie seinen Zwecken dienstbar, wie in Afrika. Es sieht aus, als dauerte es nicht mehr lange und der Erdball ist Eigentum Europas. Amerika ist ganz europäisch; Afrika gehört uns als freilich noch unbequemer Besitz; was an Australien kultiviert ist, ist rein europäisch. An wichtigen Stellen Asiens hat Europa Fuß gefaßt. Grenzboten III 1912 33

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/269>, abgerufen am 22.07.2024.