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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Die Welt als Asien und Luroxa

Man ist versucht zu fragen, ob dieser Zustand natürlich ist, ob es immer
so war oder woher gerade diese Scheidung stammt. Könnte und müßte es nicht
einen großen Kulturstrom geben, der die ganze Menschheit durchflutet?

Die Spaltung von Europa und Asien scheint mir in der Tat nichts
Natürliches zu sein. Sie läßt sich dadurch erklären, daß die Zwischenglieder
untergegangen sind. Die älteste Kultur, die der Euphratländer, war so günstig
gelegen, daß von ihr aus Europa und Asien gleichmäßig hätten beeinflußt
werden können. Denken wir uns, daß die Gegenden des Euphrat und Tigris
Mittelpunkt der Kultur geblieben wären, wie sie es zur Zeit der alten Babylonier
und Assyrer und schon lange vorher waren, statt daß sie so gut wie ganz aus der
Geschichte ausgeschieden sind, so müßte heute die Kultur von Europa und Asien
ein einziges ununterbrochenes breites Band darstellen. Aber die Perser des
Darms und Xerxes wurden von den Griechen besiegt: im Westen begann eine
eigene, dem Orient feindliche Entwicklung emporzusteigen. Alexander der Große
versuchte zum letzten Male, den noch jungen Gegensatz auszugleichen und ein
Reich zu gründen, das von der Balkanhalbinsel bis zum Indischen Ozean reichte.
Es war nur seine Person, die den Kreis zusammenhielt; nach seinem Tode
fehlte der Mittelpunkt, um den sich die oisparaten Teile gruppiert hätten, und
so zerfiel der Bau. Das römische Imperium war zwar durchaus keine europäische
Institution; aber der Schwerpunkt der Kultur war doch schon so weit nach
Westen gerückt, daß wenigstens Indien und Ostasien dem Einfluß ganz verloren
gingen. (Dies ist natürlich einseitig ausgedrückt; man könnte ebensogut sagen,
daß Europa dem asiatischen Einfluß verloren ging.) An Versuchen des Ostens,
den Westen zu bezwingen, hat es nicht gefehlt: die Einfälle der Hunnen zu
Beginn der Völkerwanderung und der Mongolen im Mittelalter zeigten, welch
eine Gefahr Asien durch seine ungezügelten und unerschöpflichen Menschenmassen
auch in später Zeit noch darstellte. Und der Islam war ja nahe daran, dem
Westen arabische Kultur aufzuzwingen. Ja, pas russische Reich, mit seinen
ungeheuren asiatischen Ländermassen dem heutigen Europa eine torra incvAnita,
erlebt die Fortdauer dieser Angriffe bis in die Gegenwart und darüber hinaus;
auf unübersehbarer Wahlstatt tobt stumm ein bitterer Kampf zwischen westlicher
und östlicher Kultur -- und niemand kennt den Ausgang.

Daß die Gegner einander ebenbürtig sind, daß Asien für Europa dieselbe
Gefahr bildet wie Europa für Asien, das ist unsere letzte ziemlich peinliche
Entdeckung. Es kommt uns allmählich zum Bewußtsein, daß unsere Welt nicht
die Welt ist, und daß wir Europäer nicht die Menschheit bedeuten. Das Phä¬
nomen Europa, gemessen an Asien mit seinen größeren Ländermassen, seinen
volkreicheren Nationen, seinen viel älteren Kulturen und einheitlicheren Tradi¬
tionen, ist eine durchaus junge Erscheinung, sprunghaft und zerrissen in seiner
Entwicklung, kompliziert in seiner Zusammensetzung, genialisch, ein Blender und
Emporkömmling in seinem Gehaben. Wir werden lernen müssen, wie dieses
Europa entstand, was es ist und wohin es strebt; wir werden begreifen, daß


Die Welt als Asien und Luroxa

Man ist versucht zu fragen, ob dieser Zustand natürlich ist, ob es immer
so war oder woher gerade diese Scheidung stammt. Könnte und müßte es nicht
einen großen Kulturstrom geben, der die ganze Menschheit durchflutet?

Die Spaltung von Europa und Asien scheint mir in der Tat nichts
Natürliches zu sein. Sie läßt sich dadurch erklären, daß die Zwischenglieder
untergegangen sind. Die älteste Kultur, die der Euphratländer, war so günstig
gelegen, daß von ihr aus Europa und Asien gleichmäßig hätten beeinflußt
werden können. Denken wir uns, daß die Gegenden des Euphrat und Tigris
Mittelpunkt der Kultur geblieben wären, wie sie es zur Zeit der alten Babylonier
und Assyrer und schon lange vorher waren, statt daß sie so gut wie ganz aus der
Geschichte ausgeschieden sind, so müßte heute die Kultur von Europa und Asien
ein einziges ununterbrochenes breites Band darstellen. Aber die Perser des
Darms und Xerxes wurden von den Griechen besiegt: im Westen begann eine
eigene, dem Orient feindliche Entwicklung emporzusteigen. Alexander der Große
versuchte zum letzten Male, den noch jungen Gegensatz auszugleichen und ein
Reich zu gründen, das von der Balkanhalbinsel bis zum Indischen Ozean reichte.
Es war nur seine Person, die den Kreis zusammenhielt; nach seinem Tode
fehlte der Mittelpunkt, um den sich die oisparaten Teile gruppiert hätten, und
so zerfiel der Bau. Das römische Imperium war zwar durchaus keine europäische
Institution; aber der Schwerpunkt der Kultur war doch schon so weit nach
Westen gerückt, daß wenigstens Indien und Ostasien dem Einfluß ganz verloren
gingen. (Dies ist natürlich einseitig ausgedrückt; man könnte ebensogut sagen,
daß Europa dem asiatischen Einfluß verloren ging.) An Versuchen des Ostens,
den Westen zu bezwingen, hat es nicht gefehlt: die Einfälle der Hunnen zu
Beginn der Völkerwanderung und der Mongolen im Mittelalter zeigten, welch
eine Gefahr Asien durch seine ungezügelten und unerschöpflichen Menschenmassen
auch in später Zeit noch darstellte. Und der Islam war ja nahe daran, dem
Westen arabische Kultur aufzuzwingen. Ja, pas russische Reich, mit seinen
ungeheuren asiatischen Ländermassen dem heutigen Europa eine torra incvAnita,
erlebt die Fortdauer dieser Angriffe bis in die Gegenwart und darüber hinaus;
auf unübersehbarer Wahlstatt tobt stumm ein bitterer Kampf zwischen westlicher
und östlicher Kultur — und niemand kennt den Ausgang.

Daß die Gegner einander ebenbürtig sind, daß Asien für Europa dieselbe
Gefahr bildet wie Europa für Asien, das ist unsere letzte ziemlich peinliche
Entdeckung. Es kommt uns allmählich zum Bewußtsein, daß unsere Welt nicht
die Welt ist, und daß wir Europäer nicht die Menschheit bedeuten. Das Phä¬
nomen Europa, gemessen an Asien mit seinen größeren Ländermassen, seinen
volkreicheren Nationen, seinen viel älteren Kulturen und einheitlicheren Tradi¬
tionen, ist eine durchaus junge Erscheinung, sprunghaft und zerrissen in seiner
Entwicklung, kompliziert in seiner Zusammensetzung, genialisch, ein Blender und
Emporkömmling in seinem Gehaben. Wir werden lernen müssen, wie dieses
Europa entstand, was es ist und wohin es strebt; wir werden begreifen, daß


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[0271] Die Welt als Asien und Luroxa Man ist versucht zu fragen, ob dieser Zustand natürlich ist, ob es immer so war oder woher gerade diese Scheidung stammt. Könnte und müßte es nicht einen großen Kulturstrom geben, der die ganze Menschheit durchflutet? Die Spaltung von Europa und Asien scheint mir in der Tat nichts Natürliches zu sein. Sie läßt sich dadurch erklären, daß die Zwischenglieder untergegangen sind. Die älteste Kultur, die der Euphratländer, war so günstig gelegen, daß von ihr aus Europa und Asien gleichmäßig hätten beeinflußt werden können. Denken wir uns, daß die Gegenden des Euphrat und Tigris Mittelpunkt der Kultur geblieben wären, wie sie es zur Zeit der alten Babylonier und Assyrer und schon lange vorher waren, statt daß sie so gut wie ganz aus der Geschichte ausgeschieden sind, so müßte heute die Kultur von Europa und Asien ein einziges ununterbrochenes breites Band darstellen. Aber die Perser des Darms und Xerxes wurden von den Griechen besiegt: im Westen begann eine eigene, dem Orient feindliche Entwicklung emporzusteigen. Alexander der Große versuchte zum letzten Male, den noch jungen Gegensatz auszugleichen und ein Reich zu gründen, das von der Balkanhalbinsel bis zum Indischen Ozean reichte. Es war nur seine Person, die den Kreis zusammenhielt; nach seinem Tode fehlte der Mittelpunkt, um den sich die oisparaten Teile gruppiert hätten, und so zerfiel der Bau. Das römische Imperium war zwar durchaus keine europäische Institution; aber der Schwerpunkt der Kultur war doch schon so weit nach Westen gerückt, daß wenigstens Indien und Ostasien dem Einfluß ganz verloren gingen. (Dies ist natürlich einseitig ausgedrückt; man könnte ebensogut sagen, daß Europa dem asiatischen Einfluß verloren ging.) An Versuchen des Ostens, den Westen zu bezwingen, hat es nicht gefehlt: die Einfälle der Hunnen zu Beginn der Völkerwanderung und der Mongolen im Mittelalter zeigten, welch eine Gefahr Asien durch seine ungezügelten und unerschöpflichen Menschenmassen auch in später Zeit noch darstellte. Und der Islam war ja nahe daran, dem Westen arabische Kultur aufzuzwingen. Ja, pas russische Reich, mit seinen ungeheuren asiatischen Ländermassen dem heutigen Europa eine torra incvAnita, erlebt die Fortdauer dieser Angriffe bis in die Gegenwart und darüber hinaus; auf unübersehbarer Wahlstatt tobt stumm ein bitterer Kampf zwischen westlicher und östlicher Kultur — und niemand kennt den Ausgang. Daß die Gegner einander ebenbürtig sind, daß Asien für Europa dieselbe Gefahr bildet wie Europa für Asien, das ist unsere letzte ziemlich peinliche Entdeckung. Es kommt uns allmählich zum Bewußtsein, daß unsere Welt nicht die Welt ist, und daß wir Europäer nicht die Menschheit bedeuten. Das Phä¬ nomen Europa, gemessen an Asien mit seinen größeren Ländermassen, seinen volkreicheren Nationen, seinen viel älteren Kulturen und einheitlicheren Tradi¬ tionen, ist eine durchaus junge Erscheinung, sprunghaft und zerrissen in seiner Entwicklung, kompliziert in seiner Zusammensetzung, genialisch, ein Blender und Emporkömmling in seinem Gehaben. Wir werden lernen müssen, wie dieses Europa entstand, was es ist und wohin es strebt; wir werden begreifen, daß

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/271>, abgerufen am 22.07.2024.