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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Die naturwissenschaftliche Weltanschauung

erste schildert in aller Ausführlichkeit das Leben im Hause Grander. Den
Charakter des Alten verstehen wir sofort in seiner ganzen Notwendigkeit; aus
ihm und dem Wesen der Mutter setzt sich dann mit anschaulicher Deutlichkeit
Eugeniens kindliche Seele zusammen. So offen liegt ihr Herz vor unseren
Augen, daß wir mit banger Ahnung das herbe Weh voraussehen, das es brechen
soll. Als dann die Außenwelt sich in dies eigenartige Heim hineindrängt, da
folgen sich die Ereignisse mit absoluter Konsequenz. Wenn es sich dann in anderen
Werken um die Schilderung ganzer Gesellschaftsklassen handelt, ist die Aufgabe
natürlich schwieriger, sind die zu knüpfenden Fäden verwickelter, aber immer wird
das Wesen des Ganzen, die Eigenart des betreffenden Kreises aus seiner Entstehung
und Zusammensetzung erklärt, wie ein chemisches Produkt aus seinen Kompo¬
nenten. Als Beispiel möchte ich nur noch auf "Le Pore Goriot" hinweisen. Der
spezielle Einfluß der Heimat und ihrer Geschichte auf den Charakter, auf die
Denk- und Handlungsweise ihrer Bewohner tritt uns mit voller Deutlichkeit in
"I^e Iy8 äctNZ ig, valise" entgegen. Würziger Erdgeruch der Touraine in
holdester Frühlingspracht.

Nie hat ein Historiker mit solcher Sorgfalt und solchen: Glück die Ereignisse
eines Zeitalters uns verstündlich gemacht, nie hat ihm auch so lückenloses
Material zu Gebote gestanden, wie es Balzacs Schöpferkraft in der "Lomüclie
lmmame" uns vor Augen stellt. War also Stendhal-Beule der Meister der
psychologischen Analyse, so besteht Balzacs Fortschritt über ihn hinaus darin,
daß er dieser wissenschaftlichen Analyse die wissenschaftliche Synthese vorausgehen
läßt und so erst den ganzen Menschen unter den Zwang der Methode stellt.
Beyle beschränkte sich im Grunde auf die Jndividualpsychologie, Balzac schritt
fort zur Gesellschaftspsychologie oder, noch deutlicher ausgedrückt, zur Gesell¬
schaftsmechanik.

Damit haben wir das Neue aufgezeigt, das die Romane Balzacs und
Beyles gebracht haben, und auf dem ihre Wirkung beruht. Die Frage ist nun,
woher dieses Neue stammt, und warum es gerade vom Jahre 1830 ab wirksam
wurde. Ein Blick auf das allgemeine Geistesleben der Zeit muß uns die Ant¬
wort ermöglichen. Spielt etwa in der Entwicklung der Weltanschauung in
Frankreich dasselbe Jahr eine bedeutsame Rolle?

Man hat die Bestrebungen poetischer, ästhetisch-doktrinärer und politischer
Art, die in der Restaurationszeit zur Blüte gelangten, unter dem Namen
Romantik zusammengefaßt: es sind eine Reihe von Brüchen, deren Zähler lauter
mittelalterliche Werte haben, und deren Generalnenner Romantik heißt. Das
war der Geist, der bis zum Jahre 1830 in Frankreich in steigendem Maße zu
herrschen schien, der noch in diesem selben Jahre im Theater und auf dem
Katheder, mit V. Hugo und V. Cousin, seine höchsten Triumphe feierte. Es ist
daher auch verständlich, daß die ganze Richtung auf allen Gebieten gleichzeitig
siegte und starb. Woran die ganze Reaktion und Restauration zugrunde ging,
was sie mit einem Schlage vernichtete, haben wir auch schon angedeutet: es


Die naturwissenschaftliche Weltanschauung

erste schildert in aller Ausführlichkeit das Leben im Hause Grander. Den
Charakter des Alten verstehen wir sofort in seiner ganzen Notwendigkeit; aus
ihm und dem Wesen der Mutter setzt sich dann mit anschaulicher Deutlichkeit
Eugeniens kindliche Seele zusammen. So offen liegt ihr Herz vor unseren
Augen, daß wir mit banger Ahnung das herbe Weh voraussehen, das es brechen
soll. Als dann die Außenwelt sich in dies eigenartige Heim hineindrängt, da
folgen sich die Ereignisse mit absoluter Konsequenz. Wenn es sich dann in anderen
Werken um die Schilderung ganzer Gesellschaftsklassen handelt, ist die Aufgabe
natürlich schwieriger, sind die zu knüpfenden Fäden verwickelter, aber immer wird
das Wesen des Ganzen, die Eigenart des betreffenden Kreises aus seiner Entstehung
und Zusammensetzung erklärt, wie ein chemisches Produkt aus seinen Kompo¬
nenten. Als Beispiel möchte ich nur noch auf „Le Pore Goriot" hinweisen. Der
spezielle Einfluß der Heimat und ihrer Geschichte auf den Charakter, auf die
Denk- und Handlungsweise ihrer Bewohner tritt uns mit voller Deutlichkeit in
„I^e Iy8 äctNZ ig, valise" entgegen. Würziger Erdgeruch der Touraine in
holdester Frühlingspracht.

Nie hat ein Historiker mit solcher Sorgfalt und solchen: Glück die Ereignisse
eines Zeitalters uns verstündlich gemacht, nie hat ihm auch so lückenloses
Material zu Gebote gestanden, wie es Balzacs Schöpferkraft in der „Lomüclie
lmmame" uns vor Augen stellt. War also Stendhal-Beule der Meister der
psychologischen Analyse, so besteht Balzacs Fortschritt über ihn hinaus darin,
daß er dieser wissenschaftlichen Analyse die wissenschaftliche Synthese vorausgehen
läßt und so erst den ganzen Menschen unter den Zwang der Methode stellt.
Beyle beschränkte sich im Grunde auf die Jndividualpsychologie, Balzac schritt
fort zur Gesellschaftspsychologie oder, noch deutlicher ausgedrückt, zur Gesell¬
schaftsmechanik.

Damit haben wir das Neue aufgezeigt, das die Romane Balzacs und
Beyles gebracht haben, und auf dem ihre Wirkung beruht. Die Frage ist nun,
woher dieses Neue stammt, und warum es gerade vom Jahre 1830 ab wirksam
wurde. Ein Blick auf das allgemeine Geistesleben der Zeit muß uns die Ant¬
wort ermöglichen. Spielt etwa in der Entwicklung der Weltanschauung in
Frankreich dasselbe Jahr eine bedeutsame Rolle?

Man hat die Bestrebungen poetischer, ästhetisch-doktrinärer und politischer
Art, die in der Restaurationszeit zur Blüte gelangten, unter dem Namen
Romantik zusammengefaßt: es sind eine Reihe von Brüchen, deren Zähler lauter
mittelalterliche Werte haben, und deren Generalnenner Romantik heißt. Das
war der Geist, der bis zum Jahre 1830 in Frankreich in steigendem Maße zu
herrschen schien, der noch in diesem selben Jahre im Theater und auf dem
Katheder, mit V. Hugo und V. Cousin, seine höchsten Triumphe feierte. Es ist
daher auch verständlich, daß die ganze Richtung auf allen Gebieten gleichzeitig
siegte und starb. Woran die ganze Reaktion und Restauration zugrunde ging,
was sie mit einem Schlage vernichtete, haben wir auch schon angedeutet: es


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[0026] Die naturwissenschaftliche Weltanschauung erste schildert in aller Ausführlichkeit das Leben im Hause Grander. Den Charakter des Alten verstehen wir sofort in seiner ganzen Notwendigkeit; aus ihm und dem Wesen der Mutter setzt sich dann mit anschaulicher Deutlichkeit Eugeniens kindliche Seele zusammen. So offen liegt ihr Herz vor unseren Augen, daß wir mit banger Ahnung das herbe Weh voraussehen, das es brechen soll. Als dann die Außenwelt sich in dies eigenartige Heim hineindrängt, da folgen sich die Ereignisse mit absoluter Konsequenz. Wenn es sich dann in anderen Werken um die Schilderung ganzer Gesellschaftsklassen handelt, ist die Aufgabe natürlich schwieriger, sind die zu knüpfenden Fäden verwickelter, aber immer wird das Wesen des Ganzen, die Eigenart des betreffenden Kreises aus seiner Entstehung und Zusammensetzung erklärt, wie ein chemisches Produkt aus seinen Kompo¬ nenten. Als Beispiel möchte ich nur noch auf „Le Pore Goriot" hinweisen. Der spezielle Einfluß der Heimat und ihrer Geschichte auf den Charakter, auf die Denk- und Handlungsweise ihrer Bewohner tritt uns mit voller Deutlichkeit in „I^e Iy8 äctNZ ig, valise" entgegen. Würziger Erdgeruch der Touraine in holdester Frühlingspracht. Nie hat ein Historiker mit solcher Sorgfalt und solchen: Glück die Ereignisse eines Zeitalters uns verstündlich gemacht, nie hat ihm auch so lückenloses Material zu Gebote gestanden, wie es Balzacs Schöpferkraft in der „Lomüclie lmmame" uns vor Augen stellt. War also Stendhal-Beule der Meister der psychologischen Analyse, so besteht Balzacs Fortschritt über ihn hinaus darin, daß er dieser wissenschaftlichen Analyse die wissenschaftliche Synthese vorausgehen läßt und so erst den ganzen Menschen unter den Zwang der Methode stellt. Beyle beschränkte sich im Grunde auf die Jndividualpsychologie, Balzac schritt fort zur Gesellschaftspsychologie oder, noch deutlicher ausgedrückt, zur Gesell¬ schaftsmechanik. Damit haben wir das Neue aufgezeigt, das die Romane Balzacs und Beyles gebracht haben, und auf dem ihre Wirkung beruht. Die Frage ist nun, woher dieses Neue stammt, und warum es gerade vom Jahre 1830 ab wirksam wurde. Ein Blick auf das allgemeine Geistesleben der Zeit muß uns die Ant¬ wort ermöglichen. Spielt etwa in der Entwicklung der Weltanschauung in Frankreich dasselbe Jahr eine bedeutsame Rolle? Man hat die Bestrebungen poetischer, ästhetisch-doktrinärer und politischer Art, die in der Restaurationszeit zur Blüte gelangten, unter dem Namen Romantik zusammengefaßt: es sind eine Reihe von Brüchen, deren Zähler lauter mittelalterliche Werte haben, und deren Generalnenner Romantik heißt. Das war der Geist, der bis zum Jahre 1830 in Frankreich in steigendem Maße zu herrschen schien, der noch in diesem selben Jahre im Theater und auf dem Katheder, mit V. Hugo und V. Cousin, seine höchsten Triumphe feierte. Es ist daher auch verständlich, daß die ganze Richtung auf allen Gebieten gleichzeitig siegte und starb. Woran die ganze Reaktion und Restauration zugrunde ging, was sie mit einem Schlage vernichtete, haben wir auch schon angedeutet: es

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/26>, abgerufen am 01.07.2024.