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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Die Welt als Asien und Europa

Dame: das ist das Weib, welches den Mann beherrscht nicht durch die Macht
seiner Reize, sondern durch die bloße Idee einer höheren Reinheit und Heiligkeit,
eine Vorstellung, welche in der Verehrung der jungfräulichen Muttergottes ihren
höchsten Ausdruck gefunden hat. Daß unsere "Dame" den Orientalen lächerlich
vorkommen würde, hat Schopenhauer hervorgehoben.

Man sieht: das Europa des Mittelalters hat zwar seine reale Grundlage
in den geographischen Bedingungen -- es ist das "Abendland" --; zu einer inneren
Einheit aber machen es erst die Ideen, die aus der gemeinsamen politischen
und geistigen Geschichte erwachsen sind, im äußeren Leben ihren sichtbaren
Ausdruck finden und wie ein goldenes Netz die Völker, Stände und Klassen
zusammenschließen.

Der Kultus dieser europäisch-christlichen Ideen fand jedoch ein Ende, als
die Reformation die Einheit des Bekenntnisses zerstörte und nun der Gegensatz
zwischen Katholisch und Protestantisch lebhafter empfunden wurde als die
einigenden Momente.

Der beginnende Individualismus, dessen Ausdruck die Reformation bereits
war, erhielt durch sie und die parallelen Bewegungen des Humanismus und
der Renaissance eine solche Förderung, daß im Zeitalter des großen Krieges
die Verschiedenheit der Nationen im Bewußtsein vorherrscht. Das achtzehnte
Jahrhundert bringt nun zwar die Tendenz, diese Vereinzelung zugunsten einer
großen Gemeinschaft wieder zu überwinden; aber diese Gemeinschaft heißt nicht
mehr Christenheit und noch nicht Europa, sondern Menschheit. Wie ein Rausch
kam über die Besten jener Generation der Gedanke, daß alle Menschen Brüder
seien. Die Schranken der Nationen, ja der Rassen glaubte man niederreißen
zu können, und in den neuen Bund sollten selbst die Kanadier und die Juden
aufgenommen werden.

Und wiederum erfolgt eine Reaktion. Aber während die Undifferenziertheit
des Mittelalters und die nationale Verschiedenheit der folgenden Jahrhunderte
naiv und unbewußt waren, entstammte die Humanität des achtzehnten Jahr¬
hunderts der Reflexion und der Philosophie; und so wird nun auch der
Individualismus des neunzehnten Jahrhunderts philosophisch. Er will sich
wissenschaftlich rechtfertigen und sucht nach Gründen für die Gleichheit der Völker,
um die Ungleichheiten desto mehr zu betonen. Und so gelangte man ganz
folgerichtig zur naturwissenschaftlichen Rassenforschung.

Über diesen Ideen war von Europa als von einer Einheit nicht die Rede
gewesen: aber dieses Europa hatte sich inzwischen als Einheit fortentwickelt, ja
es hatte eine ganz neue Einheitlichkeit erreicht: am Ende des neunzehnten
Jahrhunderts gehört ihm die Hegemonie über den Erdkreis.

Bis um 1830 hat sich das Antlitz der Erde eigentlich nicht sehr verändert,
und das Leben ist in allen zivilisierten Ländern zu allen Zeiten ungefähr gleich
gewesen. Die Tiefe und Breite des Wissens, Kunsttechnik. Sittlichkeit, Staat,
Recht, Verkehr sind -- bei allen Verschiedenheiten -- im europäischen acht-


Die Welt als Asien und Europa

Dame: das ist das Weib, welches den Mann beherrscht nicht durch die Macht
seiner Reize, sondern durch die bloße Idee einer höheren Reinheit und Heiligkeit,
eine Vorstellung, welche in der Verehrung der jungfräulichen Muttergottes ihren
höchsten Ausdruck gefunden hat. Daß unsere „Dame" den Orientalen lächerlich
vorkommen würde, hat Schopenhauer hervorgehoben.

Man sieht: das Europa des Mittelalters hat zwar seine reale Grundlage
in den geographischen Bedingungen — es ist das „Abendland" —; zu einer inneren
Einheit aber machen es erst die Ideen, die aus der gemeinsamen politischen
und geistigen Geschichte erwachsen sind, im äußeren Leben ihren sichtbaren
Ausdruck finden und wie ein goldenes Netz die Völker, Stände und Klassen
zusammenschließen.

Der Kultus dieser europäisch-christlichen Ideen fand jedoch ein Ende, als
die Reformation die Einheit des Bekenntnisses zerstörte und nun der Gegensatz
zwischen Katholisch und Protestantisch lebhafter empfunden wurde als die
einigenden Momente.

Der beginnende Individualismus, dessen Ausdruck die Reformation bereits
war, erhielt durch sie und die parallelen Bewegungen des Humanismus und
der Renaissance eine solche Förderung, daß im Zeitalter des großen Krieges
die Verschiedenheit der Nationen im Bewußtsein vorherrscht. Das achtzehnte
Jahrhundert bringt nun zwar die Tendenz, diese Vereinzelung zugunsten einer
großen Gemeinschaft wieder zu überwinden; aber diese Gemeinschaft heißt nicht
mehr Christenheit und noch nicht Europa, sondern Menschheit. Wie ein Rausch
kam über die Besten jener Generation der Gedanke, daß alle Menschen Brüder
seien. Die Schranken der Nationen, ja der Rassen glaubte man niederreißen
zu können, und in den neuen Bund sollten selbst die Kanadier und die Juden
aufgenommen werden.

Und wiederum erfolgt eine Reaktion. Aber während die Undifferenziertheit
des Mittelalters und die nationale Verschiedenheit der folgenden Jahrhunderte
naiv und unbewußt waren, entstammte die Humanität des achtzehnten Jahr¬
hunderts der Reflexion und der Philosophie; und so wird nun auch der
Individualismus des neunzehnten Jahrhunderts philosophisch. Er will sich
wissenschaftlich rechtfertigen und sucht nach Gründen für die Gleichheit der Völker,
um die Ungleichheiten desto mehr zu betonen. Und so gelangte man ganz
folgerichtig zur naturwissenschaftlichen Rassenforschung.

Über diesen Ideen war von Europa als von einer Einheit nicht die Rede
gewesen: aber dieses Europa hatte sich inzwischen als Einheit fortentwickelt, ja
es hatte eine ganz neue Einheitlichkeit erreicht: am Ende des neunzehnten
Jahrhunderts gehört ihm die Hegemonie über den Erdkreis.

Bis um 1830 hat sich das Antlitz der Erde eigentlich nicht sehr verändert,
und das Leben ist in allen zivilisierten Ländern zu allen Zeiten ungefähr gleich
gewesen. Die Tiefe und Breite des Wissens, Kunsttechnik. Sittlichkeit, Staat,
Recht, Verkehr sind — bei allen Verschiedenheiten — im europäischen acht-


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[0268] Die Welt als Asien und Europa Dame: das ist das Weib, welches den Mann beherrscht nicht durch die Macht seiner Reize, sondern durch die bloße Idee einer höheren Reinheit und Heiligkeit, eine Vorstellung, welche in der Verehrung der jungfräulichen Muttergottes ihren höchsten Ausdruck gefunden hat. Daß unsere „Dame" den Orientalen lächerlich vorkommen würde, hat Schopenhauer hervorgehoben. Man sieht: das Europa des Mittelalters hat zwar seine reale Grundlage in den geographischen Bedingungen — es ist das „Abendland" —; zu einer inneren Einheit aber machen es erst die Ideen, die aus der gemeinsamen politischen und geistigen Geschichte erwachsen sind, im äußeren Leben ihren sichtbaren Ausdruck finden und wie ein goldenes Netz die Völker, Stände und Klassen zusammenschließen. Der Kultus dieser europäisch-christlichen Ideen fand jedoch ein Ende, als die Reformation die Einheit des Bekenntnisses zerstörte und nun der Gegensatz zwischen Katholisch und Protestantisch lebhafter empfunden wurde als die einigenden Momente. Der beginnende Individualismus, dessen Ausdruck die Reformation bereits war, erhielt durch sie und die parallelen Bewegungen des Humanismus und der Renaissance eine solche Förderung, daß im Zeitalter des großen Krieges die Verschiedenheit der Nationen im Bewußtsein vorherrscht. Das achtzehnte Jahrhundert bringt nun zwar die Tendenz, diese Vereinzelung zugunsten einer großen Gemeinschaft wieder zu überwinden; aber diese Gemeinschaft heißt nicht mehr Christenheit und noch nicht Europa, sondern Menschheit. Wie ein Rausch kam über die Besten jener Generation der Gedanke, daß alle Menschen Brüder seien. Die Schranken der Nationen, ja der Rassen glaubte man niederreißen zu können, und in den neuen Bund sollten selbst die Kanadier und die Juden aufgenommen werden. Und wiederum erfolgt eine Reaktion. Aber während die Undifferenziertheit des Mittelalters und die nationale Verschiedenheit der folgenden Jahrhunderte naiv und unbewußt waren, entstammte die Humanität des achtzehnten Jahr¬ hunderts der Reflexion und der Philosophie; und so wird nun auch der Individualismus des neunzehnten Jahrhunderts philosophisch. Er will sich wissenschaftlich rechtfertigen und sucht nach Gründen für die Gleichheit der Völker, um die Ungleichheiten desto mehr zu betonen. Und so gelangte man ganz folgerichtig zur naturwissenschaftlichen Rassenforschung. Über diesen Ideen war von Europa als von einer Einheit nicht die Rede gewesen: aber dieses Europa hatte sich inzwischen als Einheit fortentwickelt, ja es hatte eine ganz neue Einheitlichkeit erreicht: am Ende des neunzehnten Jahrhunderts gehört ihm die Hegemonie über den Erdkreis. Bis um 1830 hat sich das Antlitz der Erde eigentlich nicht sehr verändert, und das Leben ist in allen zivilisierten Ländern zu allen Zeiten ungefähr gleich gewesen. Die Tiefe und Breite des Wissens, Kunsttechnik. Sittlichkeit, Staat, Recht, Verkehr sind — bei allen Verschiedenheiten — im europäischen acht-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/268>, abgerufen am 22.07.2024.