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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Die Welt als Asien und Europa

nämlich an Macht. Aber diese Art von Überlegenheit Europas über alle anderen
Menschen ist viel jünger als die -- wenn wir so sagen dürfen -- Gründung
Europas; sie ist auch etwas verhältnismäßig Äußerliches, im wesentlichen von
Kanonen und Kriegsschiffen Abhängiges. Und ob wir, abgesehen von unseren
realen Machtmitteln, an Kultur wirklich die Überlegenen sind, ist eben die
große Frage.

Fassen wir also das Problem tiefer und stellen wir zunächst fest: Unsere
Einheit beruht auf einer verhältnismäßigen Gleichheit der Sitten, der Wohnung,
Kleidung, Beschäftigung, der Staats- und Gesellschaftsformen, welche wiederum
entstanden ist aus dem für ganz Europa verhältnismäßig gleichartigen Klima
und der Leichtigkeit des Verkehrs unter seinen Völkern. Geschichtlich aber gründet
sich diese Kulturgemeinschaft wie bekannt darauf, daß wir die unmittelbaren
Fortsetzer des römischen Imperiums sind, und zwar teils die politischen Nach¬
folger, teils die geistigen Erben. "Bildung", d. h. was wir Europäer einseitig
Bildung nennen, ist der bewußte Kulturzusammenhang mit Rom und durch
dieses mit Palästina einerseits, mit Griechenland andrerseits.

Das Medium dieser Erbschaft, gewissermaßen die Truhe, die den Besitz
der Väter barg, war das Christentum, besser die christliche Kirche. Durch
sie wurde Europa für immer mit römischen Rechts- und Staatsformen
und darüber hinaus mit griechischer Schönheit und Wissenschaftlichkeit und
mit jüdischer Ethik verbunden. Zusammen mit dem Christentum gewannen
die europäischen Völker das Bewußtsein der Gemeinschaft und das Gefühl, der
Mittelpunkt der Menschheit zu sein. Im Mittelalter heißt die Menschheit im
eigentlichen Sinne "Christenheit". "Jeder Christ" wird geradezu für "jeder"
gebraucht. Was nicht zur Christenheit gehört, ist für den Europäer des Mittel¬
alters und noch weit darüber hinaus dasselbe, was für den Griechen der
"Barbar": ein Mensch, der nur in anatomischem Sinne Mensch ist, sonst aber
nicht in Betracht kommt.

Die Christenheit hat noch weitere Kennzeichen, an denen sich ihre Glieder
wie die Mitglieder eines Ordens erkennen. Alles gruppiert sich um den Kaiser
als den obersten weltlichen Herrscher und Erben des römischen Cäsars und den
Papst als sein geistliches Gegenstück. So gering die realen Machtmittel von
Kaiser und Papst sind, so ungeheuer ist ihre Bedeutung und ihr Einfluß auf
das politische und kulturelle Leben Europas als ideale Verkörperungen der
höchsten weltlichen und geistlichen Gewalt. Zu diesen beiden Gipfeln schichtet
sich hier die weltliche, dort die geistliche Gesellschaft in genau bestimmten parallelen
Abstufungen empor. Neben den Gegensatz der Weltlichen und Geistlichen tritt
der Gegensatz der Geschlechter, nicht minder gebunden und vergeistigt durch die
Fiktionen des Ritters und der Dame, beides die Grundlage noch des heutigen
Verhältnisses von Mann und Weib in Europa. Der Ritter: das ist der Krieger,
der seine Kraft bändigt unter dem Gebote der christlichen Tugenden Demut und
Gehorsam, und dessen Pflicht es ist. das schwächere Wesen zu beschützen. Die


Die Welt als Asien und Europa

nämlich an Macht. Aber diese Art von Überlegenheit Europas über alle anderen
Menschen ist viel jünger als die — wenn wir so sagen dürfen — Gründung
Europas; sie ist auch etwas verhältnismäßig Äußerliches, im wesentlichen von
Kanonen und Kriegsschiffen Abhängiges. Und ob wir, abgesehen von unseren
realen Machtmitteln, an Kultur wirklich die Überlegenen sind, ist eben die
große Frage.

Fassen wir also das Problem tiefer und stellen wir zunächst fest: Unsere
Einheit beruht auf einer verhältnismäßigen Gleichheit der Sitten, der Wohnung,
Kleidung, Beschäftigung, der Staats- und Gesellschaftsformen, welche wiederum
entstanden ist aus dem für ganz Europa verhältnismäßig gleichartigen Klima
und der Leichtigkeit des Verkehrs unter seinen Völkern. Geschichtlich aber gründet
sich diese Kulturgemeinschaft wie bekannt darauf, daß wir die unmittelbaren
Fortsetzer des römischen Imperiums sind, und zwar teils die politischen Nach¬
folger, teils die geistigen Erben. „Bildung", d. h. was wir Europäer einseitig
Bildung nennen, ist der bewußte Kulturzusammenhang mit Rom und durch
dieses mit Palästina einerseits, mit Griechenland andrerseits.

Das Medium dieser Erbschaft, gewissermaßen die Truhe, die den Besitz
der Väter barg, war das Christentum, besser die christliche Kirche. Durch
sie wurde Europa für immer mit römischen Rechts- und Staatsformen
und darüber hinaus mit griechischer Schönheit und Wissenschaftlichkeit und
mit jüdischer Ethik verbunden. Zusammen mit dem Christentum gewannen
die europäischen Völker das Bewußtsein der Gemeinschaft und das Gefühl, der
Mittelpunkt der Menschheit zu sein. Im Mittelalter heißt die Menschheit im
eigentlichen Sinne „Christenheit". „Jeder Christ" wird geradezu für „jeder"
gebraucht. Was nicht zur Christenheit gehört, ist für den Europäer des Mittel¬
alters und noch weit darüber hinaus dasselbe, was für den Griechen der
„Barbar": ein Mensch, der nur in anatomischem Sinne Mensch ist, sonst aber
nicht in Betracht kommt.

Die Christenheit hat noch weitere Kennzeichen, an denen sich ihre Glieder
wie die Mitglieder eines Ordens erkennen. Alles gruppiert sich um den Kaiser
als den obersten weltlichen Herrscher und Erben des römischen Cäsars und den
Papst als sein geistliches Gegenstück. So gering die realen Machtmittel von
Kaiser und Papst sind, so ungeheuer ist ihre Bedeutung und ihr Einfluß auf
das politische und kulturelle Leben Europas als ideale Verkörperungen der
höchsten weltlichen und geistlichen Gewalt. Zu diesen beiden Gipfeln schichtet
sich hier die weltliche, dort die geistliche Gesellschaft in genau bestimmten parallelen
Abstufungen empor. Neben den Gegensatz der Weltlichen und Geistlichen tritt
der Gegensatz der Geschlechter, nicht minder gebunden und vergeistigt durch die
Fiktionen des Ritters und der Dame, beides die Grundlage noch des heutigen
Verhältnisses von Mann und Weib in Europa. Der Ritter: das ist der Krieger,
der seine Kraft bändigt unter dem Gebote der christlichen Tugenden Demut und
Gehorsam, und dessen Pflicht es ist. das schwächere Wesen zu beschützen. Die


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[0267] Die Welt als Asien und Europa nämlich an Macht. Aber diese Art von Überlegenheit Europas über alle anderen Menschen ist viel jünger als die — wenn wir so sagen dürfen — Gründung Europas; sie ist auch etwas verhältnismäßig Äußerliches, im wesentlichen von Kanonen und Kriegsschiffen Abhängiges. Und ob wir, abgesehen von unseren realen Machtmitteln, an Kultur wirklich die Überlegenen sind, ist eben die große Frage. Fassen wir also das Problem tiefer und stellen wir zunächst fest: Unsere Einheit beruht auf einer verhältnismäßigen Gleichheit der Sitten, der Wohnung, Kleidung, Beschäftigung, der Staats- und Gesellschaftsformen, welche wiederum entstanden ist aus dem für ganz Europa verhältnismäßig gleichartigen Klima und der Leichtigkeit des Verkehrs unter seinen Völkern. Geschichtlich aber gründet sich diese Kulturgemeinschaft wie bekannt darauf, daß wir die unmittelbaren Fortsetzer des römischen Imperiums sind, und zwar teils die politischen Nach¬ folger, teils die geistigen Erben. „Bildung", d. h. was wir Europäer einseitig Bildung nennen, ist der bewußte Kulturzusammenhang mit Rom und durch dieses mit Palästina einerseits, mit Griechenland andrerseits. Das Medium dieser Erbschaft, gewissermaßen die Truhe, die den Besitz der Väter barg, war das Christentum, besser die christliche Kirche. Durch sie wurde Europa für immer mit römischen Rechts- und Staatsformen und darüber hinaus mit griechischer Schönheit und Wissenschaftlichkeit und mit jüdischer Ethik verbunden. Zusammen mit dem Christentum gewannen die europäischen Völker das Bewußtsein der Gemeinschaft und das Gefühl, der Mittelpunkt der Menschheit zu sein. Im Mittelalter heißt die Menschheit im eigentlichen Sinne „Christenheit". „Jeder Christ" wird geradezu für „jeder" gebraucht. Was nicht zur Christenheit gehört, ist für den Europäer des Mittel¬ alters und noch weit darüber hinaus dasselbe, was für den Griechen der „Barbar": ein Mensch, der nur in anatomischem Sinne Mensch ist, sonst aber nicht in Betracht kommt. Die Christenheit hat noch weitere Kennzeichen, an denen sich ihre Glieder wie die Mitglieder eines Ordens erkennen. Alles gruppiert sich um den Kaiser als den obersten weltlichen Herrscher und Erben des römischen Cäsars und den Papst als sein geistliches Gegenstück. So gering die realen Machtmittel von Kaiser und Papst sind, so ungeheuer ist ihre Bedeutung und ihr Einfluß auf das politische und kulturelle Leben Europas als ideale Verkörperungen der höchsten weltlichen und geistlichen Gewalt. Zu diesen beiden Gipfeln schichtet sich hier die weltliche, dort die geistliche Gesellschaft in genau bestimmten parallelen Abstufungen empor. Neben den Gegensatz der Weltlichen und Geistlichen tritt der Gegensatz der Geschlechter, nicht minder gebunden und vergeistigt durch die Fiktionen des Ritters und der Dame, beides die Grundlage noch des heutigen Verhältnisses von Mann und Weib in Europa. Der Ritter: das ist der Krieger, der seine Kraft bändigt unter dem Gebote der christlichen Tugenden Demut und Gehorsam, und dessen Pflicht es ist. das schwächere Wesen zu beschützen. Die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/267>, abgerufen am 22.07.2024.