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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Die lockt als Asien und Europa

Verletzung oder die Verleumdung an Ehren höher und beschwerlicher,
Leibes-Beschädigung gehalten?"denn




Diese Gesetze waren, dem Brauche der damaligen Zeit entsprechend, mit
viel Gefühl abgefaßt und sind mit ihrem eigentlichen Inhalt immer auch die
Motive ihrer Entstehung in eindringlicher und überzeugender Weise verflochten.
Deshalb haben wir in ihnen allein schon für sich ein treues Spiegelbild des
Fühlens, Denkens und Wollens der damaligen Machthaber in einer Schärfe
vor uns, die keinen Zweifel darüber aufkommen läßt, daß jene sogenannten
Duellmandate auch mit derselben Strenge durchgeführt wurden, mit der sie
erlassen waren.

Welch ein himmelweiter Unterschied in der Ehrauffafsung des obersten
Kriegsherrn und seiner "Wehrhafftigen" damals und heute! Welch ein Mißton
und welch ein Einklang! Wir haben uns zu erinnern, daß der preußische
Kriegsminister gelegentlich der kürzlichen Reichstagsverhandlung die Schuld
daran, daß Duelle entstehen, nicht zum geringsten Teil unserer heutigen
Gesetzgebung selbst beimaß. Das Gesetz, sagte er, beschütze zwar Leben
und Vermögen, nicht aber die persönliche Ehre in ausreichender Weise. Er
drückte mit diesen dürren Worten dasselbe aus, was Börries von Münchhausen
mit dem ihm eigenen Schwunge in die Worte zusammenfaßt: "So lange mir
jemand eine Ohrfeige für 5 Mark (oder 5000 oder 50000 Mark) geben kann,
fo lange ist das Duell eine gesetzgeberisch vorausgesehene, ja gewollte Not¬
wendigkeit für alle, denen nicht lauwarmer Fliedertee in den Adern fließt."




Die Welt als Asien und Europa
Moritz Gold stein i vonn

is wir noch sehr jung waren, da meinten wir: die Wissenschaft --
das sei die Wahrheit, die Beständigkeit, die Objektivität und die
Ruhe; die Wissenschaft -- das sei das Wissen. Als wir älter
wurden, änderten wir unsere Ansicht: die Wissenschaft -- ent¬
deckten wir allmählich -- das ist die Theorie, der Wechsel, die
Parteilichkeit und die Leidenschaft; die Wissenschaft -- das ist das Meinen.
Die Kenntnisse zwar wachsen, die Erkenntnisse aber wechseln nur; die Wahr¬
heiten lösen einander ab: der arme Wahrheitssucher weiß nicht aus noch ein.

Ich will nicht behaupten, daß solch trübe Charakteristik ganz zutrifft für
jene kapriziöse Wissenschaft, deren Aufgabe es ist, den Stammbaum der Völker


Die lockt als Asien und Europa

Verletzung oder die Verleumdung an Ehren höher und beschwerlicher,
Leibes-Beschädigung gehalten?"denn




Diese Gesetze waren, dem Brauche der damaligen Zeit entsprechend, mit
viel Gefühl abgefaßt und sind mit ihrem eigentlichen Inhalt immer auch die
Motive ihrer Entstehung in eindringlicher und überzeugender Weise verflochten.
Deshalb haben wir in ihnen allein schon für sich ein treues Spiegelbild des
Fühlens, Denkens und Wollens der damaligen Machthaber in einer Schärfe
vor uns, die keinen Zweifel darüber aufkommen läßt, daß jene sogenannten
Duellmandate auch mit derselben Strenge durchgeführt wurden, mit der sie
erlassen waren.

Welch ein himmelweiter Unterschied in der Ehrauffafsung des obersten
Kriegsherrn und seiner „Wehrhafftigen" damals und heute! Welch ein Mißton
und welch ein Einklang! Wir haben uns zu erinnern, daß der preußische
Kriegsminister gelegentlich der kürzlichen Reichstagsverhandlung die Schuld
daran, daß Duelle entstehen, nicht zum geringsten Teil unserer heutigen
Gesetzgebung selbst beimaß. Das Gesetz, sagte er, beschütze zwar Leben
und Vermögen, nicht aber die persönliche Ehre in ausreichender Weise. Er
drückte mit diesen dürren Worten dasselbe aus, was Börries von Münchhausen
mit dem ihm eigenen Schwunge in die Worte zusammenfaßt: „So lange mir
jemand eine Ohrfeige für 5 Mark (oder 5000 oder 50000 Mark) geben kann,
fo lange ist das Duell eine gesetzgeberisch vorausgesehene, ja gewollte Not¬
wendigkeit für alle, denen nicht lauwarmer Fliedertee in den Adern fließt."




Die Welt als Asien und Europa
Moritz Gold stein i vonn

is wir noch sehr jung waren, da meinten wir: die Wissenschaft —
das sei die Wahrheit, die Beständigkeit, die Objektivität und die
Ruhe; die Wissenschaft — das sei das Wissen. Als wir älter
wurden, änderten wir unsere Ansicht: die Wissenschaft — ent¬
deckten wir allmählich — das ist die Theorie, der Wechsel, die
Parteilichkeit und die Leidenschaft; die Wissenschaft — das ist das Meinen.
Die Kenntnisse zwar wachsen, die Erkenntnisse aber wechseln nur; die Wahr¬
heiten lösen einander ab: der arme Wahrheitssucher weiß nicht aus noch ein.

Ich will nicht behaupten, daß solch trübe Charakteristik ganz zutrifft für
jene kapriziöse Wissenschaft, deren Aufgabe es ist, den Stammbaum der Völker


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/263>, abgerufen am 22.07.2024.