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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Die naturwissenschaftliche Weltanschauung

sein, und gewiß hat gerade der historische Roman Walter Scotts und Victor
Hugos an der Entwicklung des modernen Romans seinen Teil. Wie man aber
auch diese literarischen Beziehungen auffassen mag. eins ist sofort klar: Balzacs
Romane verfolgen einen anderen Zweck und zeigen daher auch andere Mittel
als die Geschichtserzählungen Scotts. Es genügt ihm nicht, die Ereignisse mit¬
zuteilen, die eintrafen oder eintreffen konnten, es handelt sich bei ihm über¬
haupt nicht um das, was geschieht, sondern darum, wie und aus welchen
Gründen es geschieht. Er will nicht ein bestimmtes Vorkommnis seiner Zeit
schildern, sondern die Zeit selbst in ihren wechselnden Gestalten erfassen. So zerfällt
die Zeitgeschichte in eine Reihe Studien, in denen der Einzelmensch und die
Gesellschaftsklassen in ihrer Wirksamkeit vorgeführt und in ihrer Notwendigkeit
begriffen werden. Es wird also nicht Geschichte erzählt, sondern die Geschichte
selbst wird zum Gegenstand der Prüfung und Begründung; es kommt nicht aus
das menschliche Handeln an sich an, sondern auf die Quellen, aus denen es
entspringt. Balzacs Romane enthalten daher nicht Geschichte, nicht Taten und
ihre Verbindung, sondern Psychologie, also Naturgeschichte der Taten. Das
Wesen dieser Psychologie müssen wir an Beispielen erkunden.

Mit Beyles Hauptwerk läßt sich von Balzacs Werken wohl am besten "I.s.
reckei-ete as I'ebsvlu" vergleichen. Auch hier steht ein eherner Charakter im
Mittelpunkt. Balthasar Claeß verfolgt mit derselben Zähigkeit wie Julien Corel ein
festes Ziel. Zwar ist uns die Entdeckung des Absoluten -- eines chemischen Grund¬
elementes, aus dem alle Körper bestehen sollen und hergestellt werden können -- als
Ziel des Strebens menschlich nicht so leicht verständlich, wie das Streben nach Glück
und Ehre bei Beyle; doch ist der Wahn der Alchimisten eine Tatsache, deren
erschreckende Wirksamkeit sich nicht bestreikn läßt. Diese Willensrichtung beherrscht
nun Balthasar Claeß genau wie den Helden Beyles. Aus ihr erklären sich
alle seine Handlungen, wir sehen mit wachsendem Schrecken alle Ereignisse
voraus und wissen, daß die ganze Familie dem Verderben nicht entrinnen kann.
Die Notwendigkeit in der Folge des Geschehens ist höchstens noch zwingender
als in l-ouZe et le noir". Doch der Eindruck des Maschinenmäßigen.
Blutleeren. Typischen fehlt ganz. Keine Regungen der menschlichen Seele sind
der psychologischen Verständlichkeit zuliebe ausgeschaltet, warmes, echtes Menschen-
leben begegnet uns überall. Der Grund liegt eben darin, daß Balzac d:e
Psychologistische Mechanik Beyles nicht nur zur Erklärung der Betätigungen des
Charakters verwendet, sondern diese Methode vor allem bei der Begründung
der Eigenart des Charakters selbst benutzt. Dadurch sieht er sich veranlaßt,
ihn aus ganz individuellen Verhältnissen entstehen zu lassen. Aus den: Natronal-
charakter der Flamänder und aus den besonderen Schicksalen des Hauses Claeß
und seines Sprosses Balthasar sehen wir die Individualität seines Wesens und
zwingender Notwendigkeit sich entwickeln. Die volle Hälfte des Buches rst dle er
"wissenschaftlichen" Begründung des Charakters gewidmet Ähnlich une ^
reckercke 6e I'absolu" zerfällt auch "Eugene Grandet" in zwer Teile. Der


Die naturwissenschaftliche Weltanschauung

sein, und gewiß hat gerade der historische Roman Walter Scotts und Victor
Hugos an der Entwicklung des modernen Romans seinen Teil. Wie man aber
auch diese literarischen Beziehungen auffassen mag. eins ist sofort klar: Balzacs
Romane verfolgen einen anderen Zweck und zeigen daher auch andere Mittel
als die Geschichtserzählungen Scotts. Es genügt ihm nicht, die Ereignisse mit¬
zuteilen, die eintrafen oder eintreffen konnten, es handelt sich bei ihm über¬
haupt nicht um das, was geschieht, sondern darum, wie und aus welchen
Gründen es geschieht. Er will nicht ein bestimmtes Vorkommnis seiner Zeit
schildern, sondern die Zeit selbst in ihren wechselnden Gestalten erfassen. So zerfällt
die Zeitgeschichte in eine Reihe Studien, in denen der Einzelmensch und die
Gesellschaftsklassen in ihrer Wirksamkeit vorgeführt und in ihrer Notwendigkeit
begriffen werden. Es wird also nicht Geschichte erzählt, sondern die Geschichte
selbst wird zum Gegenstand der Prüfung und Begründung; es kommt nicht aus
das menschliche Handeln an sich an, sondern auf die Quellen, aus denen es
entspringt. Balzacs Romane enthalten daher nicht Geschichte, nicht Taten und
ihre Verbindung, sondern Psychologie, also Naturgeschichte der Taten. Das
Wesen dieser Psychologie müssen wir an Beispielen erkunden.

Mit Beyles Hauptwerk läßt sich von Balzacs Werken wohl am besten „I.s.
reckei-ete as I'ebsvlu" vergleichen. Auch hier steht ein eherner Charakter im
Mittelpunkt. Balthasar Claeß verfolgt mit derselben Zähigkeit wie Julien Corel ein
festes Ziel. Zwar ist uns die Entdeckung des Absoluten — eines chemischen Grund¬
elementes, aus dem alle Körper bestehen sollen und hergestellt werden können — als
Ziel des Strebens menschlich nicht so leicht verständlich, wie das Streben nach Glück
und Ehre bei Beyle; doch ist der Wahn der Alchimisten eine Tatsache, deren
erschreckende Wirksamkeit sich nicht bestreikn läßt. Diese Willensrichtung beherrscht
nun Balthasar Claeß genau wie den Helden Beyles. Aus ihr erklären sich
alle seine Handlungen, wir sehen mit wachsendem Schrecken alle Ereignisse
voraus und wissen, daß die ganze Familie dem Verderben nicht entrinnen kann.
Die Notwendigkeit in der Folge des Geschehens ist höchstens noch zwingender
als in l-ouZe et le noir". Doch der Eindruck des Maschinenmäßigen.
Blutleeren. Typischen fehlt ganz. Keine Regungen der menschlichen Seele sind
der psychologischen Verständlichkeit zuliebe ausgeschaltet, warmes, echtes Menschen-
leben begegnet uns überall. Der Grund liegt eben darin, daß Balzac d:e
Psychologistische Mechanik Beyles nicht nur zur Erklärung der Betätigungen des
Charakters verwendet, sondern diese Methode vor allem bei der Begründung
der Eigenart des Charakters selbst benutzt. Dadurch sieht er sich veranlaßt,
ihn aus ganz individuellen Verhältnissen entstehen zu lassen. Aus den: Natronal-
charakter der Flamänder und aus den besonderen Schicksalen des Hauses Claeß
und seines Sprosses Balthasar sehen wir die Individualität seines Wesens und
zwingender Notwendigkeit sich entwickeln. Die volle Hälfte des Buches rst dle er
„wissenschaftlichen" Begründung des Charakters gewidmet Ähnlich une ^
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/25>, abgerufen am 01.07.2024.