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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Die naturwissenschaftliche Weltanschauung

Kreuz- und Querzüge der Handlung verstehen will; aus ihm ergeben sich aber auch
alle Ereignisse in streng logischer Folgerung. In dem ganzen Werke, vielleicht
vom Schluß abgesehen, gibt es kein Winkelchen, das nnerhellt bliebe, keinen
Gedanken, der sich nicht aus der augenblicklichen Lage und jener Grundrichtung der
Persönlichkeit mit Notwendigkeit ableiten ließ. Wie von einer Zentralsonne werden
alle Äußerungen des Charakters durch die ursprüngliche Willensanlage erleuchtet
und folgen aus ihr, wie der Schluß aus seinen logischen Prämissen. Aber
sogar das Wollen selbst und seine Prämissen werden nicht als Urtatsachen hin¬
genommen, sondern sein Werden wird uns vor Augen geführt, es selbst soll
als notwendig begriffen werden. Es verdankt seine Entstehung und seine
Richtung der Geburt Juliens und seiner Erziehung in den ersten Jahren. Die
so gewonnene individuelle Färbung des Charakters wird dann in ihrer Grund¬
lage nicht mehr verändert. Seine wechselnden Erscheinungsweisen erklären sich
vielmehr völlig aus den mannigfaltigen Gestaltungen der Außenwelt, mit denen
er in Verbindung tritt. Jedes Ereignis ist die genau bestimmte, notwendige
Resultante aus dem Zusammenstoß zweier bekannter Kräfte in genau bestimmter
Richtung, der Willensenergie der Innenwelt und der trägen Masse der Zeit¬
umstände. Ändert diese Masse ihre Kraftmenge oder die Richtung ihrer Be¬
wegung, so ändert sich naturgemäß auch die Kraft und Richtung der Resultante,
der fortlaufenden Handlung. So findet jedes Ereignis im Roman seine wissen¬
schaftliche Erklärung. Das menschliche Leben löst sich auf in mechanischen Stoß
und Gegenstoß der inneren und äußeren Kräfte. Des Menschen Taten erscheinen
berechenbar wie der Lauf der Gestirne und die Leistungsfähigkeit einer Maschine.
I^'riomme MÄLliinL des Jahres 1743 und das ganze Z^stömv alö la naturf
feiern so 1831 ihre Auferstehung. Zu dieser wissenschaftlichen Erklärung eignet
sich auch gerade Juliens Charakter in hervorragender Weise. Mit unerbittlicher
Konsequenz hat der Verfasser alles von ihm ferngehalten, was einen unbekannten
Faktor in die Gleichung hätte bringen können. Jede Regung des Gemüts,
jedes tiefere Empfinden etwa für Religion oder Kunst fehlt Julien Sorel, er
kennt nur bestimmtes Wollen und logisch klares Denken. All das Zaudern
und Zögern, das Lieben und Hassen des Menschenkindes mit seinen Vorzügen
und Fehlern, sein Ringen mit überkommenem Glauben und erkämpften: Wissen,
Julien Sorel, der Glückliche/ hat das nie empfunden. Daher mutet er uns
auch so blutlos an, so farblos, so poesielos wie jede Maschine. Der Zusammen¬
hang zwischen der Aufklärung mit ihrem Rationalismus und dem modernen
Naturalismus mit seinem Wissensdünkel, wird hier hell beleuchtet.

Dieser Eindruck des Mechanischen beruht aber besonders darauf, daß Beyle
auf die Begründung des Charakters selbst, obwohl er sie versucht, wenig Wert
legt. So fehlt der Zusammenhang mit dem Werdegang der Familie, mit der
Heimatscholle. Dadurch verliert das Bild an Individualität und wird zum
Tnvus. Von hier läßt sich der Fortschritt Balzacs über Beule am leichtesten
erfassen. Die Lomüäie liumaine will eine Geschichte der französischen Gesellschaft


Die naturwissenschaftliche Weltanschauung

Kreuz- und Querzüge der Handlung verstehen will; aus ihm ergeben sich aber auch
alle Ereignisse in streng logischer Folgerung. In dem ganzen Werke, vielleicht
vom Schluß abgesehen, gibt es kein Winkelchen, das nnerhellt bliebe, keinen
Gedanken, der sich nicht aus der augenblicklichen Lage und jener Grundrichtung der
Persönlichkeit mit Notwendigkeit ableiten ließ. Wie von einer Zentralsonne werden
alle Äußerungen des Charakters durch die ursprüngliche Willensanlage erleuchtet
und folgen aus ihr, wie der Schluß aus seinen logischen Prämissen. Aber
sogar das Wollen selbst und seine Prämissen werden nicht als Urtatsachen hin¬
genommen, sondern sein Werden wird uns vor Augen geführt, es selbst soll
als notwendig begriffen werden. Es verdankt seine Entstehung und seine
Richtung der Geburt Juliens und seiner Erziehung in den ersten Jahren. Die
so gewonnene individuelle Färbung des Charakters wird dann in ihrer Grund¬
lage nicht mehr verändert. Seine wechselnden Erscheinungsweisen erklären sich
vielmehr völlig aus den mannigfaltigen Gestaltungen der Außenwelt, mit denen
er in Verbindung tritt. Jedes Ereignis ist die genau bestimmte, notwendige
Resultante aus dem Zusammenstoß zweier bekannter Kräfte in genau bestimmter
Richtung, der Willensenergie der Innenwelt und der trägen Masse der Zeit¬
umstände. Ändert diese Masse ihre Kraftmenge oder die Richtung ihrer Be¬
wegung, so ändert sich naturgemäß auch die Kraft und Richtung der Resultante,
der fortlaufenden Handlung. So findet jedes Ereignis im Roman seine wissen¬
schaftliche Erklärung. Das menschliche Leben löst sich auf in mechanischen Stoß
und Gegenstoß der inneren und äußeren Kräfte. Des Menschen Taten erscheinen
berechenbar wie der Lauf der Gestirne und die Leistungsfähigkeit einer Maschine.
I^'riomme MÄLliinL des Jahres 1743 und das ganze Z^stömv alö la naturf
feiern so 1831 ihre Auferstehung. Zu dieser wissenschaftlichen Erklärung eignet
sich auch gerade Juliens Charakter in hervorragender Weise. Mit unerbittlicher
Konsequenz hat der Verfasser alles von ihm ferngehalten, was einen unbekannten
Faktor in die Gleichung hätte bringen können. Jede Regung des Gemüts,
jedes tiefere Empfinden etwa für Religion oder Kunst fehlt Julien Sorel, er
kennt nur bestimmtes Wollen und logisch klares Denken. All das Zaudern
und Zögern, das Lieben und Hassen des Menschenkindes mit seinen Vorzügen
und Fehlern, sein Ringen mit überkommenem Glauben und erkämpften: Wissen,
Julien Sorel, der Glückliche/ hat das nie empfunden. Daher mutet er uns
auch so blutlos an, so farblos, so poesielos wie jede Maschine. Der Zusammen¬
hang zwischen der Aufklärung mit ihrem Rationalismus und dem modernen
Naturalismus mit seinem Wissensdünkel, wird hier hell beleuchtet.

Dieser Eindruck des Mechanischen beruht aber besonders darauf, daß Beyle
auf die Begründung des Charakters selbst, obwohl er sie versucht, wenig Wert
legt. So fehlt der Zusammenhang mit dem Werdegang der Familie, mit der
Heimatscholle. Dadurch verliert das Bild an Individualität und wird zum
Tnvus. Von hier läßt sich der Fortschritt Balzacs über Beule am leichtesten
erfassen. Die Lomüäie liumaine will eine Geschichte der französischen Gesellschaft


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[0024] Die naturwissenschaftliche Weltanschauung Kreuz- und Querzüge der Handlung verstehen will; aus ihm ergeben sich aber auch alle Ereignisse in streng logischer Folgerung. In dem ganzen Werke, vielleicht vom Schluß abgesehen, gibt es kein Winkelchen, das nnerhellt bliebe, keinen Gedanken, der sich nicht aus der augenblicklichen Lage und jener Grundrichtung der Persönlichkeit mit Notwendigkeit ableiten ließ. Wie von einer Zentralsonne werden alle Äußerungen des Charakters durch die ursprüngliche Willensanlage erleuchtet und folgen aus ihr, wie der Schluß aus seinen logischen Prämissen. Aber sogar das Wollen selbst und seine Prämissen werden nicht als Urtatsachen hin¬ genommen, sondern sein Werden wird uns vor Augen geführt, es selbst soll als notwendig begriffen werden. Es verdankt seine Entstehung und seine Richtung der Geburt Juliens und seiner Erziehung in den ersten Jahren. Die so gewonnene individuelle Färbung des Charakters wird dann in ihrer Grund¬ lage nicht mehr verändert. Seine wechselnden Erscheinungsweisen erklären sich vielmehr völlig aus den mannigfaltigen Gestaltungen der Außenwelt, mit denen er in Verbindung tritt. Jedes Ereignis ist die genau bestimmte, notwendige Resultante aus dem Zusammenstoß zweier bekannter Kräfte in genau bestimmter Richtung, der Willensenergie der Innenwelt und der trägen Masse der Zeit¬ umstände. Ändert diese Masse ihre Kraftmenge oder die Richtung ihrer Be¬ wegung, so ändert sich naturgemäß auch die Kraft und Richtung der Resultante, der fortlaufenden Handlung. So findet jedes Ereignis im Roman seine wissen¬ schaftliche Erklärung. Das menschliche Leben löst sich auf in mechanischen Stoß und Gegenstoß der inneren und äußeren Kräfte. Des Menschen Taten erscheinen berechenbar wie der Lauf der Gestirne und die Leistungsfähigkeit einer Maschine. I^'riomme MÄLliinL des Jahres 1743 und das ganze Z^stömv alö la naturf feiern so 1831 ihre Auferstehung. Zu dieser wissenschaftlichen Erklärung eignet sich auch gerade Juliens Charakter in hervorragender Weise. Mit unerbittlicher Konsequenz hat der Verfasser alles von ihm ferngehalten, was einen unbekannten Faktor in die Gleichung hätte bringen können. Jede Regung des Gemüts, jedes tiefere Empfinden etwa für Religion oder Kunst fehlt Julien Sorel, er kennt nur bestimmtes Wollen und logisch klares Denken. All das Zaudern und Zögern, das Lieben und Hassen des Menschenkindes mit seinen Vorzügen und Fehlern, sein Ringen mit überkommenem Glauben und erkämpften: Wissen, Julien Sorel, der Glückliche/ hat das nie empfunden. Daher mutet er uns auch so blutlos an, so farblos, so poesielos wie jede Maschine. Der Zusammen¬ hang zwischen der Aufklärung mit ihrem Rationalismus und dem modernen Naturalismus mit seinem Wissensdünkel, wird hier hell beleuchtet. Dieser Eindruck des Mechanischen beruht aber besonders darauf, daß Beyle auf die Begründung des Charakters selbst, obwohl er sie versucht, wenig Wert legt. So fehlt der Zusammenhang mit dem Werdegang der Familie, mit der Heimatscholle. Dadurch verliert das Bild an Individualität und wird zum Tnvus. Von hier läßt sich der Fortschritt Balzacs über Beule am leichtesten erfassen. Die Lomüäie liumaine will eine Geschichte der französischen Gesellschaft

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/24>, abgerufen am 01.07.2024.