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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Schweizer Eisenbahnen

dann vergißt der Jüngste und Unverdorbenste von ihnen seine Mustertasche von
englischen Hemdbrüsten, spitzt den weichbeflaumten Mund zu einem losen Buben¬
pfiff und bekommt einen edeln Knabenglanz ins verstaubte Auge.

Ja, die Eisenbahnen unseres Vaterlandes--!

Aber nicht einmal einen solchen Eilzug hatte der kluge Manuß erwischt....

Der Zug glitt aus dem Bahnhof. Häuser, Gärten, der Fluß,
die nächsten Hügel schwanden gemächlich an den offenen Fenstern hin.
Sie hatten alle Zeit, noch einmal in den Wagen zu gucken. Ein
Vormittagslüftchen bließ herein. Dann kamen Acker, Kleefelder, Most¬
wiesen, Dörfer, deren Stationen mit schläfrigen Signalglocken und schläfrigen
Wärtern wie die persönliche Langeweile aussahen. Später mehrten sich Hügel
und Bäche, die Wälder wurden breiter, die Luft ward frischer, die Tannen
dämmerten tiefer, man war in eine Nebenbahn geraten. Über den Waldlinien
traten immer klarer die Vorberge ins Bild. Die menschlichen Wohnungen
klommen vereinzelter und einsamer die Höhen herauf, sie verloren das Kunst¬
steinmäßige, wurden hölzern, sonnenbraun, schindelnvernagelt, und Bergstimmung
lag vor ihren vielen kleinen Scheiben und Bretterlauben. Langsamere Menschen,
stillere, schritten die Hänge nieder, so sicher, als gäbe es keine Städte und
Stadtbureaus. Manchmal tauchte auf einem Weglein eine Jungfer oder ein
kleines Frauenzimmer auf mit Brustkoller, bebänderten Haar und andern tapfern
Spuren einer alten, absterbenden Tracht. Bald dufteten Harz und Walderdbeeren
in den Wagen hinein. Die Nähe der Berge meldete sich. Es ward dunkelblau
und dunkelgrün im Coupo. Die Gesichter bekamen die tiefen Schatten der
Tannen und überall hörte man nur noch das Lärmen der wilden Natur, die
Bäche, die rollenden Steine, die bewegten Nadelhölzer und die Schellen der
unruhigen, , unbehüteten Berggeißen. Wenn ein Hüter da war und rief:
"Ho-o-o-ojoool" -- so klang auch das wie ein Ton aus der wilden, unmensch¬
lichen Naturmusik allhier.

Langsam, aber stetig stieg die Bahn. Doch die Menschen sind unverbesserlich.
Ging ein Seitental auf, so war gleich wieder eine Störung der Bergwelt da
mit Firlefanz der Stadt und Gigerleitelkeiten, französischen Ladenschildern,
Fabriksächelchen in Glaskasten, Momentphotographen, Svphonschenkerinnen.
Dann ging's weiter durch eine Bergklemme, sozusagen zwischen den Knien des
Gebirgs hindurch in die Höhe. Wieder ward alles Naturwildheit. Und wieder
kam ein Tal, noch höher oben, mit großen, saubern, stolzen Dörfern und Leuten.
So weit hinauf wagen sich die Menschen! So hoch bauen sie sich an, fast unter
die hängenden Lawinen, diese frechen Zweibeinler!

Die Eisenbahnen unseres Vaterlandes---köstlich Ding!

Diese Drittkläßler vor allem, die an jeder Station halten, auf daß wieder
ein Gemüsekorb oder eine alte Haube für eine Viertelstunde mitfahren kann!
An so einer Hauptstation, wo heute großer Jahrmarkt war, stiegen alle Bänke
voll ein. Da ist der Kern vom Land zu sehen, die Tubäklerbauern und


Schweizer Eisenbahnen

dann vergißt der Jüngste und Unverdorbenste von ihnen seine Mustertasche von
englischen Hemdbrüsten, spitzt den weichbeflaumten Mund zu einem losen Buben¬
pfiff und bekommt einen edeln Knabenglanz ins verstaubte Auge.

Ja, die Eisenbahnen unseres Vaterlandes--!

Aber nicht einmal einen solchen Eilzug hatte der kluge Manuß erwischt....

Der Zug glitt aus dem Bahnhof. Häuser, Gärten, der Fluß,
die nächsten Hügel schwanden gemächlich an den offenen Fenstern hin.
Sie hatten alle Zeit, noch einmal in den Wagen zu gucken. Ein
Vormittagslüftchen bließ herein. Dann kamen Acker, Kleefelder, Most¬
wiesen, Dörfer, deren Stationen mit schläfrigen Signalglocken und schläfrigen
Wärtern wie die persönliche Langeweile aussahen. Später mehrten sich Hügel
und Bäche, die Wälder wurden breiter, die Luft ward frischer, die Tannen
dämmerten tiefer, man war in eine Nebenbahn geraten. Über den Waldlinien
traten immer klarer die Vorberge ins Bild. Die menschlichen Wohnungen
klommen vereinzelter und einsamer die Höhen herauf, sie verloren das Kunst¬
steinmäßige, wurden hölzern, sonnenbraun, schindelnvernagelt, und Bergstimmung
lag vor ihren vielen kleinen Scheiben und Bretterlauben. Langsamere Menschen,
stillere, schritten die Hänge nieder, so sicher, als gäbe es keine Städte und
Stadtbureaus. Manchmal tauchte auf einem Weglein eine Jungfer oder ein
kleines Frauenzimmer auf mit Brustkoller, bebänderten Haar und andern tapfern
Spuren einer alten, absterbenden Tracht. Bald dufteten Harz und Walderdbeeren
in den Wagen hinein. Die Nähe der Berge meldete sich. Es ward dunkelblau
und dunkelgrün im Coupo. Die Gesichter bekamen die tiefen Schatten der
Tannen und überall hörte man nur noch das Lärmen der wilden Natur, die
Bäche, die rollenden Steine, die bewegten Nadelhölzer und die Schellen der
unruhigen, , unbehüteten Berggeißen. Wenn ein Hüter da war und rief:
„Ho-o-o-ojoool" — so klang auch das wie ein Ton aus der wilden, unmensch¬
lichen Naturmusik allhier.

Langsam, aber stetig stieg die Bahn. Doch die Menschen sind unverbesserlich.
Ging ein Seitental auf, so war gleich wieder eine Störung der Bergwelt da
mit Firlefanz der Stadt und Gigerleitelkeiten, französischen Ladenschildern,
Fabriksächelchen in Glaskasten, Momentphotographen, Svphonschenkerinnen.
Dann ging's weiter durch eine Bergklemme, sozusagen zwischen den Knien des
Gebirgs hindurch in die Höhe. Wieder ward alles Naturwildheit. Und wieder
kam ein Tal, noch höher oben, mit großen, saubern, stolzen Dörfern und Leuten.
So weit hinauf wagen sich die Menschen! So hoch bauen sie sich an, fast unter
die hängenden Lawinen, diese frechen Zweibeinler!

Die Eisenbahnen unseres Vaterlandes---köstlich Ding!

Diese Drittkläßler vor allem, die an jeder Station halten, auf daß wieder
ein Gemüsekorb oder eine alte Haube für eine Viertelstunde mitfahren kann!
An so einer Hauptstation, wo heute großer Jahrmarkt war, stiegen alle Bänke
voll ein. Da ist der Kern vom Land zu sehen, die Tubäklerbauern und


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[0240] Schweizer Eisenbahnen dann vergißt der Jüngste und Unverdorbenste von ihnen seine Mustertasche von englischen Hemdbrüsten, spitzt den weichbeflaumten Mund zu einem losen Buben¬ pfiff und bekommt einen edeln Knabenglanz ins verstaubte Auge. Ja, die Eisenbahnen unseres Vaterlandes--! Aber nicht einmal einen solchen Eilzug hatte der kluge Manuß erwischt.... Der Zug glitt aus dem Bahnhof. Häuser, Gärten, der Fluß, die nächsten Hügel schwanden gemächlich an den offenen Fenstern hin. Sie hatten alle Zeit, noch einmal in den Wagen zu gucken. Ein Vormittagslüftchen bließ herein. Dann kamen Acker, Kleefelder, Most¬ wiesen, Dörfer, deren Stationen mit schläfrigen Signalglocken und schläfrigen Wärtern wie die persönliche Langeweile aussahen. Später mehrten sich Hügel und Bäche, die Wälder wurden breiter, die Luft ward frischer, die Tannen dämmerten tiefer, man war in eine Nebenbahn geraten. Über den Waldlinien traten immer klarer die Vorberge ins Bild. Die menschlichen Wohnungen klommen vereinzelter und einsamer die Höhen herauf, sie verloren das Kunst¬ steinmäßige, wurden hölzern, sonnenbraun, schindelnvernagelt, und Bergstimmung lag vor ihren vielen kleinen Scheiben und Bretterlauben. Langsamere Menschen, stillere, schritten die Hänge nieder, so sicher, als gäbe es keine Städte und Stadtbureaus. Manchmal tauchte auf einem Weglein eine Jungfer oder ein kleines Frauenzimmer auf mit Brustkoller, bebänderten Haar und andern tapfern Spuren einer alten, absterbenden Tracht. Bald dufteten Harz und Walderdbeeren in den Wagen hinein. Die Nähe der Berge meldete sich. Es ward dunkelblau und dunkelgrün im Coupo. Die Gesichter bekamen die tiefen Schatten der Tannen und überall hörte man nur noch das Lärmen der wilden Natur, die Bäche, die rollenden Steine, die bewegten Nadelhölzer und die Schellen der unruhigen, , unbehüteten Berggeißen. Wenn ein Hüter da war und rief: „Ho-o-o-ojoool" — so klang auch das wie ein Ton aus der wilden, unmensch¬ lichen Naturmusik allhier. Langsam, aber stetig stieg die Bahn. Doch die Menschen sind unverbesserlich. Ging ein Seitental auf, so war gleich wieder eine Störung der Bergwelt da mit Firlefanz der Stadt und Gigerleitelkeiten, französischen Ladenschildern, Fabriksächelchen in Glaskasten, Momentphotographen, Svphonschenkerinnen. Dann ging's weiter durch eine Bergklemme, sozusagen zwischen den Knien des Gebirgs hindurch in die Höhe. Wieder ward alles Naturwildheit. Und wieder kam ein Tal, noch höher oben, mit großen, saubern, stolzen Dörfern und Leuten. So weit hinauf wagen sich die Menschen! So hoch bauen sie sich an, fast unter die hängenden Lawinen, diese frechen Zweibeinler! Die Eisenbahnen unseres Vaterlandes---köstlich Ding! Diese Drittkläßler vor allem, die an jeder Station halten, auf daß wieder ein Gemüsekorb oder eine alte Haube für eine Viertelstunde mitfahren kann! An so einer Hauptstation, wo heute großer Jahrmarkt war, stiegen alle Bänke voll ein. Da ist der Kern vom Land zu sehen, die Tubäklerbauern und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/240>, abgerufen am 03.07.2024.