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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Schweizer (Eisenbahnen

Kinn und den neuerem Flügelbärtchen und den schon halb verbauerten Land¬
juristen, welche die Telegraphenstangen und die Krähen auf den Drähten zählen,
in Ermangelung kurzweiliger Prozeßakten. Daneben gibt es begüterte, dicke
Hofbäuerinnen, die einen halben Zentner rauschender Kleider um sich schwingen,
Trauerleute mit Efeukränzen zu irgendeiner vornehmen Leiche, hie und da auch
einen Nationalrat mit Freibillett, der von einer weisen Bummelkommission aus
der letzten Hotelecke der Schweiz heimkehrt, ein winziges Tintentröpfchen und
sehr große Weinflecke an der immer wieder zurückgeschobenen Manschette. Es
sind auch Geistliche da, katholische Kapläne, den Frack hoch oben geschlossen, die
Ärmel abgerutscht, ein großes Nastuch in die Brust gestoßen und das Schönste,
was sie haben, das goldschnittige Brevier, mit eingeklemmtem Zeigefinger auf
den Knien, etwas scheu, etwas linkisch, etwas streng, aber jedesmal mit einem
Lächeln, sobald sie durch ein Dorf fahren, wo sie auch schon gepredigt oder am
Kirchenfest den Subdiakon gemacht haben. Der protestantische Pfarrer bringt
eine Ledermappe unter dem Arm und den jesaiastiefen Seufzer in den Wagen:
"Es reicht noch, danke, danke, es reicht noch! -- Aber das nächste Jahr fertige
ein anderer den Rechnungsbericht!" -- Und die dankbaren Mitglieder des
Erziehungsheims "Im Gras" winken vor dem Fenster und lächeln verdammt
klug: "Der Herr Pfarrer tut's doch wieder, --- wer wollte das besser machen?"
Und auch er lächelt nun, aber will gar nichts versprechen. Der HERR wird
sorgen!--

Selten blinkt der rote, grüne oder blaue Kragen und die goldene Knopf¬
reihe unserer Uniformen aus dem einfarbigen Ernst des Schweizertuchs. Haben
wir doch kein stehendes Heer, kein bewaffnetes Jahr, nur etwa eine gemütliche
kriegerische Woche. Dennoch schauen die paar Offiziere drein, als hätten sie zu
Mittag statt Kalbfleisch rohes Eisen verzehrt. Sie können zwar nicht anders,
sie müssen mit den Reisenden plaudern und Zigarren tauschen. Das macht der
gleiche, gemütliche Most in den Adern. Dann aber zur Wahrung ihres besäbelten
Berufs blicken sie streng auf eine Wiese von achtzig Metern in? Geviert, und
einer sagt mit tiefem Baß und die Stirne unter dem Käppi drohend gerunzelt:
"Hier ließe sich bequem ein Bataillon angriffsweise entwickeln." Worauf der
andere scharf sichtend entgegnet: "Aber gestaffelt, mit kürzesten Distanzen!"

Leider ist auch das namenlose Volk der Geschäftsreisenden da mit auf¬
gedonnerten Schnurrbartenden, gesalbten Scheiteln, pfiffigen Augen und einem
lächerlichen Dünkel. Auf der Brust baumeln dicke Uhrketten aus Katzengold,
und im Ring glänzt ein grüner Kristall. Menschen von unausstehlich geiht- und
bildungslosen Geschwätz und dem kleinen, schnellen Gehirn eines Tagesanzeigers.
Sie fühlen sich nicht wohl in den so hübsch gemischten vaterländischen Wagen
und ziehen sich in einen Auslandsabteil zurück. Dort reißen sie ihre ins Notiz¬
buch verzeichneten und auswendig gelernten Witze. Aber wenn man durch einen
blaugrünen Tannenwald fährt oder auf einer Trift braune Kühe unser hört,
oder die graue Alpenkette von Appenzell über einem Hügel fern auftauchen sieht,


Schweizer (Eisenbahnen

Kinn und den neuerem Flügelbärtchen und den schon halb verbauerten Land¬
juristen, welche die Telegraphenstangen und die Krähen auf den Drähten zählen,
in Ermangelung kurzweiliger Prozeßakten. Daneben gibt es begüterte, dicke
Hofbäuerinnen, die einen halben Zentner rauschender Kleider um sich schwingen,
Trauerleute mit Efeukränzen zu irgendeiner vornehmen Leiche, hie und da auch
einen Nationalrat mit Freibillett, der von einer weisen Bummelkommission aus
der letzten Hotelecke der Schweiz heimkehrt, ein winziges Tintentröpfchen und
sehr große Weinflecke an der immer wieder zurückgeschobenen Manschette. Es
sind auch Geistliche da, katholische Kapläne, den Frack hoch oben geschlossen, die
Ärmel abgerutscht, ein großes Nastuch in die Brust gestoßen und das Schönste,
was sie haben, das goldschnittige Brevier, mit eingeklemmtem Zeigefinger auf
den Knien, etwas scheu, etwas linkisch, etwas streng, aber jedesmal mit einem
Lächeln, sobald sie durch ein Dorf fahren, wo sie auch schon gepredigt oder am
Kirchenfest den Subdiakon gemacht haben. Der protestantische Pfarrer bringt
eine Ledermappe unter dem Arm und den jesaiastiefen Seufzer in den Wagen:
„Es reicht noch, danke, danke, es reicht noch! — Aber das nächste Jahr fertige
ein anderer den Rechnungsbericht!" — Und die dankbaren Mitglieder des
Erziehungsheims „Im Gras" winken vor dem Fenster und lächeln verdammt
klug: „Der Herr Pfarrer tut's doch wieder, —- wer wollte das besser machen?"
Und auch er lächelt nun, aber will gar nichts versprechen. Der HERR wird
sorgen!--

Selten blinkt der rote, grüne oder blaue Kragen und die goldene Knopf¬
reihe unserer Uniformen aus dem einfarbigen Ernst des Schweizertuchs. Haben
wir doch kein stehendes Heer, kein bewaffnetes Jahr, nur etwa eine gemütliche
kriegerische Woche. Dennoch schauen die paar Offiziere drein, als hätten sie zu
Mittag statt Kalbfleisch rohes Eisen verzehrt. Sie können zwar nicht anders,
sie müssen mit den Reisenden plaudern und Zigarren tauschen. Das macht der
gleiche, gemütliche Most in den Adern. Dann aber zur Wahrung ihres besäbelten
Berufs blicken sie streng auf eine Wiese von achtzig Metern in? Geviert, und
einer sagt mit tiefem Baß und die Stirne unter dem Käppi drohend gerunzelt:
„Hier ließe sich bequem ein Bataillon angriffsweise entwickeln." Worauf der
andere scharf sichtend entgegnet: „Aber gestaffelt, mit kürzesten Distanzen!"

Leider ist auch das namenlose Volk der Geschäftsreisenden da mit auf¬
gedonnerten Schnurrbartenden, gesalbten Scheiteln, pfiffigen Augen und einem
lächerlichen Dünkel. Auf der Brust baumeln dicke Uhrketten aus Katzengold,
und im Ring glänzt ein grüner Kristall. Menschen von unausstehlich geiht- und
bildungslosen Geschwätz und dem kleinen, schnellen Gehirn eines Tagesanzeigers.
Sie fühlen sich nicht wohl in den so hübsch gemischten vaterländischen Wagen
und ziehen sich in einen Auslandsabteil zurück. Dort reißen sie ihre ins Notiz¬
buch verzeichneten und auswendig gelernten Witze. Aber wenn man durch einen
blaugrünen Tannenwald fährt oder auf einer Trift braune Kühe unser hört,
oder die graue Alpenkette von Appenzell über einem Hügel fern auftauchen sieht,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/239>, abgerufen am 03.07.2024.