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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Die naturwissenschaftliche Weltanschauung

Eine Treibhauspflanze war es allerdings, diese schottische Popularphilosophie,
die Royer-Collard als Heilmittel gegen den Materialismus einführte. Der Geist
der Reaktion suchte seine Waffen, wo er sie fand, und in Laromiguiere und
V. Cousin blieb er das erste Menschenalter des neuen Jahrhunderts siegreich.
In der Dichtung knüpften zwar Chateaubriand und Madame de Stael, rein,
ästhetisch betrachtet, an Rousseau an; von den durch ihn erzeugten geistigen Werten
jedoch hielten sie nichts für bleibend, wußten sie nichts sich anzueignen, als die
krankhafte Sentimentalität der Nouvelle "Heloi'se". Statt Voltaire beherrschte
I. de Maistre die Lage. Was Wunder also, wenn auch die Bourbonen den Boden
bald wieder bereitet fanden? Und als dann doch ein Kampf sich entspann, der
die Geister in Wallung brachte, lag das Schlachtfeld recht weit abseits von den
Problemen, deren Lösung die Revolution hatte erzwingen wollen. Die Freiheit,
welche die französische Romantik forderte und der Klassizismus verpönte, war
doch, man möchte sagen, sehr platonisch im Vergleich zu den Rechten des
Individuums und der Menschheit, die das Jahr 1789 versprochen hatte. Zwei,
vielmehr drei Jahrzehnte schien es. als ob der Same, den die Revolution mit
soviel Blut düngen zu müssen glaubte, gar nicht aufgehen wollte; es gewinnt
durchaus den Anschein, als ob auf geistigem Gebiete dieser blutigrote Sonnen¬
aufgang der politischen Freiheit die Entwicklung eher gehemmt als gefördert habe.

Daß jedoch diese ganze Reaktion und Restauration ein künstliches Gebilde,
daß ihr Licht kein direkter Sonnenstrahl, sondern erborgter Mondschein war.
kam in überraschender Weise zum Ausdruck. Als etwa im Jahre 1830 der
erbitterte Streit mit der Niederlage des Klassizismus sein Ende fand, war auch
die französische Romantik zu Tode verwundet. Ihre Bedeutung hatte eben nur in
ihrem Widerstande gegen den Klassizismus bestanden, nur in diesem Widerstande
war sie dem Zeitgeiste entgegengekommen, an sich stand sie ihm ebenso fern wie
der besiegte Gegner. Also hat nicht die Romantik gesiegt, sondern jener Geist,
der sich ihrer bediente. Diesen Geist gilt es zunächst zu beschwören. Ist es
vielleicht der Geist von Anno 1789, der müde nach dem blutigen Morden ein¬
geschlummert war der Geist Voltaires und Condillacs, der nach dreißigjährigen
Schlafe plötzlich erwacht war? Wo sollen wir diesen Geist suchen, dessen Stimme
zunächst vom lauten Lärm des Tages übertönt wird? In Henri Beyles kunst-
geschichtltchen Werken erscheinen seine ersten, deutlichen Regungen, in dem
Meisterwerke ,.l.e rouAö et le noir" spricht er. wenn auch nur von wemgen
gehört, sein ganzes Wesen aus. Seine vollständigsten Offenbarungen, die endlich
weit im Lande Widerhall fanden, sind die Bände der Lomeäie Numame von
Balzac. Alls diesen Werken wollen wir sein Wesen zu bestimmen suchen.

Aus dem Meisterwerke Stendhals (Henri Beyles) weht uns sogleich em
frischer, neuer Hauch entgegen. Auf den ersten Blick ist klar, daß das Charak¬
teristische, für die Methode des Schriftstellers wie für das We^en seines Helden
der allesbeherrsehende Wille in Julien Sorels Seele ist. Sem zielbewußtes
Streben nach Erfolg muß dem Leser stets vor Augen bleiben, wenn er all d:e


Die naturwissenschaftliche Weltanschauung

Eine Treibhauspflanze war es allerdings, diese schottische Popularphilosophie,
die Royer-Collard als Heilmittel gegen den Materialismus einführte. Der Geist
der Reaktion suchte seine Waffen, wo er sie fand, und in Laromiguiere und
V. Cousin blieb er das erste Menschenalter des neuen Jahrhunderts siegreich.
In der Dichtung knüpften zwar Chateaubriand und Madame de Stael, rein,
ästhetisch betrachtet, an Rousseau an; von den durch ihn erzeugten geistigen Werten
jedoch hielten sie nichts für bleibend, wußten sie nichts sich anzueignen, als die
krankhafte Sentimentalität der Nouvelle „Heloi'se". Statt Voltaire beherrschte
I. de Maistre die Lage. Was Wunder also, wenn auch die Bourbonen den Boden
bald wieder bereitet fanden? Und als dann doch ein Kampf sich entspann, der
die Geister in Wallung brachte, lag das Schlachtfeld recht weit abseits von den
Problemen, deren Lösung die Revolution hatte erzwingen wollen. Die Freiheit,
welche die französische Romantik forderte und der Klassizismus verpönte, war
doch, man möchte sagen, sehr platonisch im Vergleich zu den Rechten des
Individuums und der Menschheit, die das Jahr 1789 versprochen hatte. Zwei,
vielmehr drei Jahrzehnte schien es. als ob der Same, den die Revolution mit
soviel Blut düngen zu müssen glaubte, gar nicht aufgehen wollte; es gewinnt
durchaus den Anschein, als ob auf geistigem Gebiete dieser blutigrote Sonnen¬
aufgang der politischen Freiheit die Entwicklung eher gehemmt als gefördert habe.

Daß jedoch diese ganze Reaktion und Restauration ein künstliches Gebilde,
daß ihr Licht kein direkter Sonnenstrahl, sondern erborgter Mondschein war.
kam in überraschender Weise zum Ausdruck. Als etwa im Jahre 1830 der
erbitterte Streit mit der Niederlage des Klassizismus sein Ende fand, war auch
die französische Romantik zu Tode verwundet. Ihre Bedeutung hatte eben nur in
ihrem Widerstande gegen den Klassizismus bestanden, nur in diesem Widerstande
war sie dem Zeitgeiste entgegengekommen, an sich stand sie ihm ebenso fern wie
der besiegte Gegner. Also hat nicht die Romantik gesiegt, sondern jener Geist,
der sich ihrer bediente. Diesen Geist gilt es zunächst zu beschwören. Ist es
vielleicht der Geist von Anno 1789, der müde nach dem blutigen Morden ein¬
geschlummert war der Geist Voltaires und Condillacs, der nach dreißigjährigen
Schlafe plötzlich erwacht war? Wo sollen wir diesen Geist suchen, dessen Stimme
zunächst vom lauten Lärm des Tages übertönt wird? In Henri Beyles kunst-
geschichtltchen Werken erscheinen seine ersten, deutlichen Regungen, in dem
Meisterwerke ,.l.e rouAö et le noir" spricht er. wenn auch nur von wemgen
gehört, sein ganzes Wesen aus. Seine vollständigsten Offenbarungen, die endlich
weit im Lande Widerhall fanden, sind die Bände der Lomeäie Numame von
Balzac. Alls diesen Werken wollen wir sein Wesen zu bestimmen suchen.

Aus dem Meisterwerke Stendhals (Henri Beyles) weht uns sogleich em
frischer, neuer Hauch entgegen. Auf den ersten Blick ist klar, daß das Charak¬
teristische, für die Methode des Schriftstellers wie für das We^en seines Helden
der allesbeherrsehende Wille in Julien Sorels Seele ist. Sem zielbewußtes
Streben nach Erfolg muß dem Leser stets vor Augen bleiben, wenn er all d:e


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[0023] Die naturwissenschaftliche Weltanschauung Eine Treibhauspflanze war es allerdings, diese schottische Popularphilosophie, die Royer-Collard als Heilmittel gegen den Materialismus einführte. Der Geist der Reaktion suchte seine Waffen, wo er sie fand, und in Laromiguiere und V. Cousin blieb er das erste Menschenalter des neuen Jahrhunderts siegreich. In der Dichtung knüpften zwar Chateaubriand und Madame de Stael, rein, ästhetisch betrachtet, an Rousseau an; von den durch ihn erzeugten geistigen Werten jedoch hielten sie nichts für bleibend, wußten sie nichts sich anzueignen, als die krankhafte Sentimentalität der Nouvelle „Heloi'se". Statt Voltaire beherrschte I. de Maistre die Lage. Was Wunder also, wenn auch die Bourbonen den Boden bald wieder bereitet fanden? Und als dann doch ein Kampf sich entspann, der die Geister in Wallung brachte, lag das Schlachtfeld recht weit abseits von den Problemen, deren Lösung die Revolution hatte erzwingen wollen. Die Freiheit, welche die französische Romantik forderte und der Klassizismus verpönte, war doch, man möchte sagen, sehr platonisch im Vergleich zu den Rechten des Individuums und der Menschheit, die das Jahr 1789 versprochen hatte. Zwei, vielmehr drei Jahrzehnte schien es. als ob der Same, den die Revolution mit soviel Blut düngen zu müssen glaubte, gar nicht aufgehen wollte; es gewinnt durchaus den Anschein, als ob auf geistigem Gebiete dieser blutigrote Sonnen¬ aufgang der politischen Freiheit die Entwicklung eher gehemmt als gefördert habe. Daß jedoch diese ganze Reaktion und Restauration ein künstliches Gebilde, daß ihr Licht kein direkter Sonnenstrahl, sondern erborgter Mondschein war. kam in überraschender Weise zum Ausdruck. Als etwa im Jahre 1830 der erbitterte Streit mit der Niederlage des Klassizismus sein Ende fand, war auch die französische Romantik zu Tode verwundet. Ihre Bedeutung hatte eben nur in ihrem Widerstande gegen den Klassizismus bestanden, nur in diesem Widerstande war sie dem Zeitgeiste entgegengekommen, an sich stand sie ihm ebenso fern wie der besiegte Gegner. Also hat nicht die Romantik gesiegt, sondern jener Geist, der sich ihrer bediente. Diesen Geist gilt es zunächst zu beschwören. Ist es vielleicht der Geist von Anno 1789, der müde nach dem blutigen Morden ein¬ geschlummert war der Geist Voltaires und Condillacs, der nach dreißigjährigen Schlafe plötzlich erwacht war? Wo sollen wir diesen Geist suchen, dessen Stimme zunächst vom lauten Lärm des Tages übertönt wird? In Henri Beyles kunst- geschichtltchen Werken erscheinen seine ersten, deutlichen Regungen, in dem Meisterwerke ,.l.e rouAö et le noir" spricht er. wenn auch nur von wemgen gehört, sein ganzes Wesen aus. Seine vollständigsten Offenbarungen, die endlich weit im Lande Widerhall fanden, sind die Bände der Lomeäie Numame von Balzac. Alls diesen Werken wollen wir sein Wesen zu bestimmen suchen. Aus dem Meisterwerke Stendhals (Henri Beyles) weht uns sogleich em frischer, neuer Hauch entgegen. Auf den ersten Blick ist klar, daß das Charak¬ teristische, für die Methode des Schriftstellers wie für das We^en seines Helden der allesbeherrsehende Wille in Julien Sorels Seele ist. Sem zielbewußtes Streben nach Erfolg muß dem Leser stets vor Augen bleiben, wenn er all d:e

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/23>, abgerufen am 01.07.2024.