Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.Mirow Kein verfallender Turm bildet mehr den Eingang zum Schloßhof. Zwischen Einst hat unzweifelhaft eine liebliche, junge Prinzessin, die spätere Königin Mirow Kein verfallender Turm bildet mehr den Eingang zum Schloßhof. Zwischen Einst hat unzweifelhaft eine liebliche, junge Prinzessin, die spätere Königin <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0192" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/321939"/> <fw type="header" place="top"> Mirow</fw><lb/> <p xml:id="ID_780"> Kein verfallender Turm bildet mehr den Eingang zum Schloßhof. Zwischen<lb/> zwei niedrigen, mit großen Pinienäpfeln aus Sandstein gekrönten Pfeilern traten<lb/> wir ein. Vor uns lagen zwei hellgetünchte Häuser. Das größere, bestehend<lb/> aus Mittelbau und zwei etwas vorspringenden Seitenpavillons, ist das Schloß,<lb/> das kleinere enthält die Räume für Küche und Dienerschaft. Eine freundliche<lb/> Kastellanin öffnete die große Tür mit dem schön verschnörkelten alten Schloß,<lb/> und nun ist mir's, als träte ich in das Jahrhundert des Zopfes, des Puters<lb/> und der Reifröcke. Im weiten, lichten Flur gleich die zu beiden Seiten auf¬<lb/> steigende schöne, breite Doppeltreppe mit dem blendend weißen, durchbrochenen<lb/> und geschnitzten Geländer. Da sieht man im Geist die Damen mit den seidenen<lb/> Stöckelschuhen und steifen, spitzen Taillen, die Herren mit bunten, gestickten<lb/> Röcken und Galanteriedegen die weiß gescheuerten Stufen Herabkommen und<lb/> tritt mit ihnen in die hellen Zimmer. Sonderbare Öfen in wunderlichem Aufbau<lb/> zeigen schöne alte Deister Kacheln, konnten aber schwerlich je eine sehr behag¬<lb/> liche Temperatur hervorbringen. Eine gewisse Kühle, eine etwas frostige<lb/> Atmosphäre und dementsprechend etwas zeremoniös Steifes liegt doch neben<lb/> anmutiger Zierlichkeit und formvoller Wohlerzogenheit über der ganzen Zeit<lb/> des Rokoko und prägt sich auch in diesen Räumen aus. Da ist das schmale,<lb/> harte Sofa, auf dem man sich wohl kaum in bequemer Nonchalance strecken<lb/> konnte. Da stehen die weißen Holzstühle in steifer Ordnung um den länglichen,<lb/> weißen Tisch; da sehen aus goldenen Rahmen von den Wänden die lächelnden<lb/> Damen mit den hohen, gepuderten Haarfrisuren und den tief ausgeschnittenen<lb/> Prachtgewändern, die Herren mit den konventionellen Harnischen unter dem<lb/> Sammetrock auf die Eindringlinge herab. Einst belebten sie den schönen, weißen<lb/> Saal, der durch zwei Stockwerke des Mittelbaues geht. Seine herrliche Stuck¬<lb/> decke, seine reich verzierten weißen Wände, aus denen dicke, kleine Putten zwischen<lb/> Blumen, Muscheln und Schnörkelwerk hervortreten, zeigen die feine Dekorations¬<lb/> kunst der Zeit. Dunkle Marmorpfeiler unterbrechen die luftige Helle. Das<lb/> Ganze beweist, daß die „Mirokesen" nicht gar so wenig Geschmack hatten, wie<lb/> man nach den Briefen ihres großen Nachbarn glauben möchte. Auf diesen<lb/> glatten, schneeweiß gescheuerten Dielen haben sie ihre Menuette und Gavotte<lb/> getanzt, ihre tiefen Plongeons (Verbeugungen) gemacht, ihre zierlichen Fächer<lb/> und schönen Augen spielen lassen. Auch sie trugen menschliche, vielleicht oft<lb/> heiße Herzen unter den fischbeingesteiften Leibchen und gestickten Westen. Vielleicht<lb/> könnte das reizende Kabinettchen mit den: Silberzierat auf den blauen Wänden<lb/> oder das Zimmer mit den Liebespaaren im Schäferstil von manch einem Lust¬<lb/> oder auch Trauerspiel erzählen.</p><lb/> <p xml:id="ID_781"> Einst hat unzweifelhaft eine liebliche, junge Prinzessin, die spätere Königin<lb/> Charlotte von England, hier getanzt und unter den Bäumen der Mirower<lb/> Schloßinsel gespielt. Sie war ja die Enkelin der Erbauerin dieser Räume, und<lb/> ihre Wiege aus Pflaumenbaumholz stand in dem bescheidenen Heim ihrer Eltern,<lb/> des Prinzen von Mirow, und seiner Elisabeth Albertine.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0192]
Mirow
Kein verfallender Turm bildet mehr den Eingang zum Schloßhof. Zwischen
zwei niedrigen, mit großen Pinienäpfeln aus Sandstein gekrönten Pfeilern traten
wir ein. Vor uns lagen zwei hellgetünchte Häuser. Das größere, bestehend
aus Mittelbau und zwei etwas vorspringenden Seitenpavillons, ist das Schloß,
das kleinere enthält die Räume für Küche und Dienerschaft. Eine freundliche
Kastellanin öffnete die große Tür mit dem schön verschnörkelten alten Schloß,
und nun ist mir's, als träte ich in das Jahrhundert des Zopfes, des Puters
und der Reifröcke. Im weiten, lichten Flur gleich die zu beiden Seiten auf¬
steigende schöne, breite Doppeltreppe mit dem blendend weißen, durchbrochenen
und geschnitzten Geländer. Da sieht man im Geist die Damen mit den seidenen
Stöckelschuhen und steifen, spitzen Taillen, die Herren mit bunten, gestickten
Röcken und Galanteriedegen die weiß gescheuerten Stufen Herabkommen und
tritt mit ihnen in die hellen Zimmer. Sonderbare Öfen in wunderlichem Aufbau
zeigen schöne alte Deister Kacheln, konnten aber schwerlich je eine sehr behag¬
liche Temperatur hervorbringen. Eine gewisse Kühle, eine etwas frostige
Atmosphäre und dementsprechend etwas zeremoniös Steifes liegt doch neben
anmutiger Zierlichkeit und formvoller Wohlerzogenheit über der ganzen Zeit
des Rokoko und prägt sich auch in diesen Räumen aus. Da ist das schmale,
harte Sofa, auf dem man sich wohl kaum in bequemer Nonchalance strecken
konnte. Da stehen die weißen Holzstühle in steifer Ordnung um den länglichen,
weißen Tisch; da sehen aus goldenen Rahmen von den Wänden die lächelnden
Damen mit den hohen, gepuderten Haarfrisuren und den tief ausgeschnittenen
Prachtgewändern, die Herren mit den konventionellen Harnischen unter dem
Sammetrock auf die Eindringlinge herab. Einst belebten sie den schönen, weißen
Saal, der durch zwei Stockwerke des Mittelbaues geht. Seine herrliche Stuck¬
decke, seine reich verzierten weißen Wände, aus denen dicke, kleine Putten zwischen
Blumen, Muscheln und Schnörkelwerk hervortreten, zeigen die feine Dekorations¬
kunst der Zeit. Dunkle Marmorpfeiler unterbrechen die luftige Helle. Das
Ganze beweist, daß die „Mirokesen" nicht gar so wenig Geschmack hatten, wie
man nach den Briefen ihres großen Nachbarn glauben möchte. Auf diesen
glatten, schneeweiß gescheuerten Dielen haben sie ihre Menuette und Gavotte
getanzt, ihre tiefen Plongeons (Verbeugungen) gemacht, ihre zierlichen Fächer
und schönen Augen spielen lassen. Auch sie trugen menschliche, vielleicht oft
heiße Herzen unter den fischbeingesteiften Leibchen und gestickten Westen. Vielleicht
könnte das reizende Kabinettchen mit den: Silberzierat auf den blauen Wänden
oder das Zimmer mit den Liebespaaren im Schäferstil von manch einem Lust¬
oder auch Trauerspiel erzählen.
Einst hat unzweifelhaft eine liebliche, junge Prinzessin, die spätere Königin
Charlotte von England, hier getanzt und unter den Bäumen der Mirower
Schloßinsel gespielt. Sie war ja die Enkelin der Erbauerin dieser Räume, und
ihre Wiege aus Pflaumenbaumholz stand in dem bescheidenen Heim ihrer Eltern,
des Prinzen von Mirow, und seiner Elisabeth Albertine.
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