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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Die Zukunft der natioualliberalen Partei

Dieser Zustand aber ist unhaltbar und daher ist die Diskussion mit dem Ver¬
tretertage keineswegs abgeschlossen, sondern muß nun erst recht einsetzen.




Die Frage muß sicher und entschieden beantwortet werden: ist es statthaft
und für die Parteipolitik geboten, in Preußen anders zu operieren als im Reiche?
Würde man diese Frage bejahen dürfen, so würde allerdings kein innerer
Gegensatz mehr in der politischen Taktik bestehen. Denn das verschiedene Vor¬
gehen der Partei im Reiche und in Preußen wäre damit allseitig anerkannt und
es wäre Sache der Praxis zu entscheiden, ob sich dieses Schaukelsystem durch¬
führen läßt. Hier gerade liegt aber das Bedenken.

Daß man in einer großen Anzahl von untergeordneten Fragen je nach
den lokalen Verhältnissen verschieden vorgeht, ist nicht nur in Beziehung
auf die verschiedenen Bundesstaaten untereinander, sondern selbst innerhalb
dieser, ja innerhalb benachbarter Wahlkreise derselben Provinz allgemeine Übung.
Die hier zur Entscheidung stehende Frage, auf welche Weise die Massen der
sozialdemokratischen Wähler wieder zu gewinnen sind, wenn dies überhaupt noch
möglich ist, ist aber keine untergeordnete, sondern geradezu eine der Lebens-
fragen einer das gesamte Wohl des Staates ins Auge fassenden Parteipolitik,
und kann innerhalb der nämlichen Partei nicht verschieden beantwortet werden,
ohne daß man unheilbaren Schaden anstiftet oder überhaupt nicht von der
Stelle rückt. Denn wenn die nationalliberale Partei, wie es immer wieder heißt,
eine Politik der mittleren Linie ist, so kann es auch nimmermehr zwei mittlere
Linien geben, die eine für das Reich, die andere für Preußen. Auch würde
man dann zugeben müssen, daß Sachsen, Bauern, Württemberg und jeder
weitere Bundesstaat sich wieder eine andere mittlere Linie miegt und man
befände sich schließlich in einem so köstlichen Gewebe von lauter mittleren Linien,
daß man die sür das Reich bestimmte kaum mehr erkennen könnte. Das wäre
der deutsche Partikularismus aus der dynastischen Politik in die Parteipolitik
hineinprojiziert und der Reichsgedanke, also gerade der von der nationalliberalen
Partei in den Vordergrund gerückte Programmpunkt, müßte die schwerste Not
leiden. Kann die Partei in Preußen und im Reiche in den entscheidenden
Fragen mit Rücksicht auf die Konfiguration der Parteiverhältnisse nicht mit
gleichen Schritten gehen, so ist die Folge zunächst die, daß die Nationalliberalen
der anderen Bundesstaaten zu schweigen haben, wenn es sich um die wichtigsten
Entschließungen der Partei in dem größten Bundesstaate handelt. Folgeweise
dürften sich die Nationalliberalen in Preußen nicht um Parteientschließungen in
den anderen Bundesstaaten kümmern und schließlich wäre jeder nationalliberale
Parteigänger auf seinen eigenen Staat angewiesen, wenn er sich politisch äußern
will, nur in Reichssachen dürfte er dennoch mitreden, obwohl er weiß, daß
die Haltung der Partei in Preußen von größter Bedeutuug für die Haltung
der Gesamtpartei ist, und dort Entschließungen gefaßt werden können, die der
Partei in allen Teilen des Reiches zugerechnet werden.


Die Zukunft der natioualliberalen Partei

Dieser Zustand aber ist unhaltbar und daher ist die Diskussion mit dem Ver¬
tretertage keineswegs abgeschlossen, sondern muß nun erst recht einsetzen.




Die Frage muß sicher und entschieden beantwortet werden: ist es statthaft
und für die Parteipolitik geboten, in Preußen anders zu operieren als im Reiche?
Würde man diese Frage bejahen dürfen, so würde allerdings kein innerer
Gegensatz mehr in der politischen Taktik bestehen. Denn das verschiedene Vor¬
gehen der Partei im Reiche und in Preußen wäre damit allseitig anerkannt und
es wäre Sache der Praxis zu entscheiden, ob sich dieses Schaukelsystem durch¬
führen läßt. Hier gerade liegt aber das Bedenken.

Daß man in einer großen Anzahl von untergeordneten Fragen je nach
den lokalen Verhältnissen verschieden vorgeht, ist nicht nur in Beziehung
auf die verschiedenen Bundesstaaten untereinander, sondern selbst innerhalb
dieser, ja innerhalb benachbarter Wahlkreise derselben Provinz allgemeine Übung.
Die hier zur Entscheidung stehende Frage, auf welche Weise die Massen der
sozialdemokratischen Wähler wieder zu gewinnen sind, wenn dies überhaupt noch
möglich ist, ist aber keine untergeordnete, sondern geradezu eine der Lebens-
fragen einer das gesamte Wohl des Staates ins Auge fassenden Parteipolitik,
und kann innerhalb der nämlichen Partei nicht verschieden beantwortet werden,
ohne daß man unheilbaren Schaden anstiftet oder überhaupt nicht von der
Stelle rückt. Denn wenn die nationalliberale Partei, wie es immer wieder heißt,
eine Politik der mittleren Linie ist, so kann es auch nimmermehr zwei mittlere
Linien geben, die eine für das Reich, die andere für Preußen. Auch würde
man dann zugeben müssen, daß Sachsen, Bauern, Württemberg und jeder
weitere Bundesstaat sich wieder eine andere mittlere Linie miegt und man
befände sich schließlich in einem so köstlichen Gewebe von lauter mittleren Linien,
daß man die sür das Reich bestimmte kaum mehr erkennen könnte. Das wäre
der deutsche Partikularismus aus der dynastischen Politik in die Parteipolitik
hineinprojiziert und der Reichsgedanke, also gerade der von der nationalliberalen
Partei in den Vordergrund gerückte Programmpunkt, müßte die schwerste Not
leiden. Kann die Partei in Preußen und im Reiche in den entscheidenden
Fragen mit Rücksicht auf die Konfiguration der Parteiverhältnisse nicht mit
gleichen Schritten gehen, so ist die Folge zunächst die, daß die Nationalliberalen
der anderen Bundesstaaten zu schweigen haben, wenn es sich um die wichtigsten
Entschließungen der Partei in dem größten Bundesstaate handelt. Folgeweise
dürften sich die Nationalliberalen in Preußen nicht um Parteientschließungen in
den anderen Bundesstaaten kümmern und schließlich wäre jeder nationalliberale
Parteigänger auf seinen eigenen Staat angewiesen, wenn er sich politisch äußern
will, nur in Reichssachen dürfte er dennoch mitreden, obwohl er weiß, daß
die Haltung der Partei in Preußen von größter Bedeutuug für die Haltung
der Gesamtpartei ist, und dort Entschließungen gefaßt werden können, die der
Partei in allen Teilen des Reiches zugerechnet werden.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/18>, abgerufen am 01.07.2024.