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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Die Zukunft der nationalliberalen Partei

bilden, einerseits unüberbrückbar, anderseits notwendig für ein sich stets
noch entwickelndes Staatsleben. Denn sie schließen in sich die beiden
Prinzipien, nach welchen alle Geschichte sich vollzieht: das Prinzip der
Beharrung und das Prinzip der Bewegung. Eine organische Verbindung
beider ist undenkbar, weil man nicht zugleich stillstehen und fortschreiten kann,
wie denn auch Ranke in seiner Weltgeschichte bei der Schilderung der
grachischen Unruhen bemerkt: "Was man Fortschritt nennt, ist mit einer
strengen Beobachtung der bestehenden Gewohnheiten und Zustände unvereinbar."
Wohl aber ist die Abwechslung beider Prinzipien in ihrer Herrschaft nicht
nur möglich, sondern auch notwendig, wie das am reinsten im britischen
Parlamentarismus zum Ausdruck gelangt ist, wo das Regiment der Tories
mit dem der Whigs sich ablöste. Bei uns ist es Sache des leitenden Staats¬
mannes, wie es der große Meister Bismarck verstand, den richtigen Zeitpunkt
zu erHaschen, wann die Zeit der Beharrung, wann die der Bewegung
gekommen ist, zum Wohle des Ganzen; denn der Staat braucht einmal Ruhe
für die Sammlung seiner Kräfte, ein anderes Mal den Fortschritt für deren
Auslösung.

Daher sollten sich Liberale und Konservative gegenseitig achten, weil beide
Sparten sich als in der Geschichte begründete notwendige Lebensfaktoren jedes
Staates darstellen. Ihre Vereinigung wird nur selten, stets nur auf Zeit und
regelmäßig nur für gewisse Fragen, namentlich für solche des nationalen An¬
sehens nach außen und der Erhaltung der Wehrkraft, möglich sein. Eine Politik
der Sammlung dagegen zum allgemeinen Regierungsprinzip erheben zu wollen,
wird sich stets als undurchführbar, wenn nicht als die Erklärung des staats¬
männischen Bankerotts erweisen. Darum kann auch eine konservativ-liberale
Verständigung im preußischen Abgeordnetenhause auf die Dauer nicht durch¬
führbar, jedenfalls nicht allein wirksam sein, und man muß, um die Bekämpfung
des gemeinschaftlichen Gegners erfolgreich bewirken zu können, auf die beiden anderen
Kampfesmittel zurückgreifen: auf die Politisierung des politischen Rentamtes, der
Scharen der Indifferenten, und ferner auf den Versuch der Entführung sozial¬
demokratischer Wähler in das eigene Lager. Über das erste dieser beiden
Mittel werden sich Nord und Süd, Alt und Jung einig sein; es ist auch kein
Wort über die Notwendigkeit dieses Schrittes zu verlieren, nur über das
Tempo, den dabei zu bewahrenden Takt und den aufzuwendenden Eifer mag
man hier und da, je nach Temperament, Erfahrung und Kraftgefühl verschieden
denken. Der wichtigste Punkt ist und bleibt die Frage der Wiedergewinnung
der sozialdemokratischen Wahlstimmen. Denn man darf sie nicht auf fünf
Millionen und noch weiter kommen lassen. Dies ist aber gerade der Punkt,
an dem der Nationalliberalismus des preußischen und des badischen Redners
auseinanderzugehen scheinen. Wenn das so bleiben sollte, so würden wir als¬
bald dauernd einen nach spezifisch preußischen Verhältnissen sich richtenden
Nationalliberalismus und einen reichsdeutschen Nationalliberalismus haben.


Die Zukunft der nationalliberalen Partei

bilden, einerseits unüberbrückbar, anderseits notwendig für ein sich stets
noch entwickelndes Staatsleben. Denn sie schließen in sich die beiden
Prinzipien, nach welchen alle Geschichte sich vollzieht: das Prinzip der
Beharrung und das Prinzip der Bewegung. Eine organische Verbindung
beider ist undenkbar, weil man nicht zugleich stillstehen und fortschreiten kann,
wie denn auch Ranke in seiner Weltgeschichte bei der Schilderung der
grachischen Unruhen bemerkt: „Was man Fortschritt nennt, ist mit einer
strengen Beobachtung der bestehenden Gewohnheiten und Zustände unvereinbar."
Wohl aber ist die Abwechslung beider Prinzipien in ihrer Herrschaft nicht
nur möglich, sondern auch notwendig, wie das am reinsten im britischen
Parlamentarismus zum Ausdruck gelangt ist, wo das Regiment der Tories
mit dem der Whigs sich ablöste. Bei uns ist es Sache des leitenden Staats¬
mannes, wie es der große Meister Bismarck verstand, den richtigen Zeitpunkt
zu erHaschen, wann die Zeit der Beharrung, wann die der Bewegung
gekommen ist, zum Wohle des Ganzen; denn der Staat braucht einmal Ruhe
für die Sammlung seiner Kräfte, ein anderes Mal den Fortschritt für deren
Auslösung.

Daher sollten sich Liberale und Konservative gegenseitig achten, weil beide
Sparten sich als in der Geschichte begründete notwendige Lebensfaktoren jedes
Staates darstellen. Ihre Vereinigung wird nur selten, stets nur auf Zeit und
regelmäßig nur für gewisse Fragen, namentlich für solche des nationalen An¬
sehens nach außen und der Erhaltung der Wehrkraft, möglich sein. Eine Politik
der Sammlung dagegen zum allgemeinen Regierungsprinzip erheben zu wollen,
wird sich stets als undurchführbar, wenn nicht als die Erklärung des staats¬
männischen Bankerotts erweisen. Darum kann auch eine konservativ-liberale
Verständigung im preußischen Abgeordnetenhause auf die Dauer nicht durch¬
führbar, jedenfalls nicht allein wirksam sein, und man muß, um die Bekämpfung
des gemeinschaftlichen Gegners erfolgreich bewirken zu können, auf die beiden anderen
Kampfesmittel zurückgreifen: auf die Politisierung des politischen Rentamtes, der
Scharen der Indifferenten, und ferner auf den Versuch der Entführung sozial¬
demokratischer Wähler in das eigene Lager. Über das erste dieser beiden
Mittel werden sich Nord und Süd, Alt und Jung einig sein; es ist auch kein
Wort über die Notwendigkeit dieses Schrittes zu verlieren, nur über das
Tempo, den dabei zu bewahrenden Takt und den aufzuwendenden Eifer mag
man hier und da, je nach Temperament, Erfahrung und Kraftgefühl verschieden
denken. Der wichtigste Punkt ist und bleibt die Frage der Wiedergewinnung
der sozialdemokratischen Wahlstimmen. Denn man darf sie nicht auf fünf
Millionen und noch weiter kommen lassen. Dies ist aber gerade der Punkt,
an dem der Nationalliberalismus des preußischen und des badischen Redners
auseinanderzugehen scheinen. Wenn das so bleiben sollte, so würden wir als¬
bald dauernd einen nach spezifisch preußischen Verhältnissen sich richtenden
Nationalliberalismus und einen reichsdeutschen Nationalliberalismus haben.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/17>, abgerufen am 01.07.2024.