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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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einer geschlossenen Gesamtdarstellung auszurunden, die seelische Entwicklung in
lückenlosen Zusammenhang zu geben und das unselige Schicksal dieses Daseins
daraus zu deuten. Schäfer läßt aber nun Stauffer selbst in einer umfassenden
Schlußbeichte sein ganzes Leben erzählen. Wie er dabei zu Werke gegangen ist,
wie weit es ihm gelungen ist, den eigenen Aufzeichnungen Stauffers ein neues
Gesamtbild seines Wesens gegenüberzustellen, und von welcher Seite die ein¬
dringlichere, geschlossenere Wirkung ausgeht, das soll hier zunächst nicht unter¬
sucht werden. Den ganzen Stauffer wird man jedenfalls aus dem Buch nicht
herausspüren können, in seiner gedrungenen, verhaltenen Kraft, seiner eigensinnigen
Nüchternheit, in der bohrenden Intensität seines Gedankenlebens: es drängt sich
so viel fremder, gelassener Tonfall dazwischen.

Aber auch Schäfer ist aus dieser Darstellung eines fremden Schicksals nicht
in seiner eigensten Art, in seiner eigentlichen Stärke zu erkennen. Wer die in
lebendigster Wirkung erfahren will, wird sich schon an die Anekdoten halten
müssen. Mögen sie in ihren Stoffen abhängig, mögen sie auch in der Form¬
gebung durch literarische Vorbilder bestimmt sein, mag meinetwegen auch die
Vorliebe ster die besondere Gattung einer allgemeineren Neigung der Zeit,
bewährte, altmodisch gewordene Formen wieder aufzunehmen, entsprungen sein:
die besten unter ihnen sind durchsättigt von einer männlich herben Kraft, die
aus neuem Erleben alter Geschichten eine neue, geläuterte Form gewinnt. Und
sind sie auch nicht so völlig wieder Natur geworden wie die Kalendergeschichten
Johann Peter Hebels, so liegt doch ihr Ziel nach derselben Richtung. Nur sind
sie eben erwachsen aus dem umfassenderen Kulturbewußtsein einer minder
beschaulichen Zeit, und die Reife ihrer künstlerischen Arbeit wird nicht jede Zunge
so einfach zu schmecken vermögen.




//Untertanen// Professor Vf. Schanze von

in 5. Dezember 1907 wurde in einer Sitzung der Zweiten Kammer
des sächsischen Landtages von einem nationalliberalen Abgeordneten
folgendes vorgebracht:

"Ich habe mit einer Bitte an die königliche Staatsregierung zu beginnen.
_I Die Äußerungen, die gestern fielen, enthielten, wenigstens aus dem Munde
des Herrn Ministers, wiederholt den Ausdruck "Untertan". Ich möchte die Bitte aussprechen,
daß bei Kundgebungen -- wenn ich nicht irre, War eS ein Zitat aus der Thronrede -- doch
der Gebrauch des Wortes Untertan eingeschränkt werde und der Ausdruck Staatsbürger an
dessen Stelle trete. Ich will über den Wert des Wortes Untertan und Staatsbürger nicht


einer geschlossenen Gesamtdarstellung auszurunden, die seelische Entwicklung in
lückenlosen Zusammenhang zu geben und das unselige Schicksal dieses Daseins
daraus zu deuten. Schäfer läßt aber nun Stauffer selbst in einer umfassenden
Schlußbeichte sein ganzes Leben erzählen. Wie er dabei zu Werke gegangen ist,
wie weit es ihm gelungen ist, den eigenen Aufzeichnungen Stauffers ein neues
Gesamtbild seines Wesens gegenüberzustellen, und von welcher Seite die ein¬
dringlichere, geschlossenere Wirkung ausgeht, das soll hier zunächst nicht unter¬
sucht werden. Den ganzen Stauffer wird man jedenfalls aus dem Buch nicht
herausspüren können, in seiner gedrungenen, verhaltenen Kraft, seiner eigensinnigen
Nüchternheit, in der bohrenden Intensität seines Gedankenlebens: es drängt sich
so viel fremder, gelassener Tonfall dazwischen.

Aber auch Schäfer ist aus dieser Darstellung eines fremden Schicksals nicht
in seiner eigensten Art, in seiner eigentlichen Stärke zu erkennen. Wer die in
lebendigster Wirkung erfahren will, wird sich schon an die Anekdoten halten
müssen. Mögen sie in ihren Stoffen abhängig, mögen sie auch in der Form¬
gebung durch literarische Vorbilder bestimmt sein, mag meinetwegen auch die
Vorliebe ster die besondere Gattung einer allgemeineren Neigung der Zeit,
bewährte, altmodisch gewordene Formen wieder aufzunehmen, entsprungen sein:
die besten unter ihnen sind durchsättigt von einer männlich herben Kraft, die
aus neuem Erleben alter Geschichten eine neue, geläuterte Form gewinnt. Und
sind sie auch nicht so völlig wieder Natur geworden wie die Kalendergeschichten
Johann Peter Hebels, so liegt doch ihr Ziel nach derselben Richtung. Nur sind
sie eben erwachsen aus dem umfassenderen Kulturbewußtsein einer minder
beschaulichen Zeit, und die Reife ihrer künstlerischen Arbeit wird nicht jede Zunge
so einfach zu schmecken vermögen.




//Untertanen// Professor Vf. Schanze von

in 5. Dezember 1907 wurde in einer Sitzung der Zweiten Kammer
des sächsischen Landtages von einem nationalliberalen Abgeordneten
folgendes vorgebracht:

„Ich habe mit einer Bitte an die königliche Staatsregierung zu beginnen.
_I Die Äußerungen, die gestern fielen, enthielten, wenigstens aus dem Munde
des Herrn Ministers, wiederholt den Ausdruck „Untertan". Ich möchte die Bitte aussprechen,
daß bei Kundgebungen — wenn ich nicht irre, War eS ein Zitat aus der Thronrede — doch
der Gebrauch des Wortes Untertan eingeschränkt werde und der Ausdruck Staatsbürger an
dessen Stelle trete. Ich will über den Wert des Wortes Untertan und Staatsbürger nicht


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/169>, abgerufen am 03.07.2024.