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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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sechzehnten Jahrhunderts der Wem aus der Mark und der Lausitz, aus Krossen,
Fürstenberg und Guben, wo damals noch der Weinbau blühte, bezogen und
vornehmlich nach Danzig ausgeführt wurde, wird seit dem achtzehnten Jahr¬
hundert hauptsächlich mit französischen Weinen gehandelt. Im achtzehnten Jahr¬
hundert gewannen die Stettiner bei dem Weinbezug aus Frankreich eine vor¬
treffliche Rückfracht in dem pommerschen Eichenholz, das den Franzosen für
ihren Schiffsbau geradezu unentbehrlich wurde. Der Holzhandel hat es über¬
standen, daß ihm der französische Markt verloren ging, und ist noch heute,
obwohl er durch neuere Konjunkturen Rückgang erlitt, erheblich, ebenso wie der
alte Handel Stettins mit Leinsamen. Wesentlich zurückgegangen ist der früher
sehr blühende Getreidehandel, der durch die Vereinigung Stettins mit Preußen
sein großes Absatzgebiet in Schweden verlor und durch die neueren Verkehrs¬
verhältnisse Einschränkungen erlitt. Dafür ist der Handel mit gewissen Massen¬
artikeln, wie Kohle, Eisenerzen und Kartoffeln, ebenso der mit Zucker sehr in
Aufnahme gekommen. Die Aus- und Einfuhrziffern Stettins übertreffen weit
die von Danzig und Lübeck zusammengenommen.

Was nun im Leben der Stadt auffällt, sind die mannigfachen Unruhen, die
hauptsächlich in Geldsachen ihren Ursprung hatten.

Nach mehreren Revolutionsbewegungen im fünfzehnten und sechzehnten Jahr¬
hundert brach im Juli 1616 ein geradezu grotesker Aufstand wegen einer Bier¬
steuer aus. Jämmerlich nimmt es sich aus, wie der Rat damals klein beigab.
Auch in neuerer Zeit hat die Stadt wiederholt Unruhen gesehen, so anläßlich
der Cholera im Jahre 1831, während ver sich die niedere Bevölkerung gegen
energische sanitäre Maßregeln sträubte, und namentlich im Jahre 1847, als der
Kartoffelaufstand ausbrach, der lebhaft an den Bierkrieg von 1616 erinnert.

Vielleicht der interessanteste Abschnitt in: Leben der Stadt ist ihre Re¬
formationsgeschichte. Sie ist dramatisch bewegt. Charaktere wie die beiden
Bürgermeister Hans Loitz und Hans Stoppelberg, der eine reformfeindlich, der
andere reformfreundlich, beide aber krasse Reaktionäre in Verfassungsangelegen¬
heiten, der kraftvolle Führer der Opposition, Klaus Stellmacher, seines Zeichens
Apotheker, und der versöhnliche, von Luther gesandte Reformator Paul vom Rode,
der jahrzehntelang das Evangelium in Pommerns Hauptstadt mit segensreichem
Erfolge gepredigt hat, müssen jedermann fesseln.

Wenige Städte sind wohl so von verheerenden Krankheiten heimgesucht
worden wie Stettin. Das lag sowohl an klimatischen Verhältnissen als an der
gesundheitswidrigen Bauart und der Unreinlichkeit der alten Stadt. Zwar
klingen die Nachrichten über die Seuchen, die in ihren Mauern geherrscht haben,
teilweise übertrieben, aber entsetzlich sind sie auf jeden Fall gewesen. In der
neueren Zeit schrumpfen die Sterbeziffern erheblich zusammen, obwohl die
Bevölkerung außerordentlich zugenommen hat. An die alte Zeit erinnert indes
die Tatsache, daß von Juni bis Oktober 1866 mehr als zweitausend Menschen
von der Cholera fortgerafft wurden. Noch heute ist die Kindersterblichkeit in


Das Hamburg der Vstscc

sechzehnten Jahrhunderts der Wem aus der Mark und der Lausitz, aus Krossen,
Fürstenberg und Guben, wo damals noch der Weinbau blühte, bezogen und
vornehmlich nach Danzig ausgeführt wurde, wird seit dem achtzehnten Jahr¬
hundert hauptsächlich mit französischen Weinen gehandelt. Im achtzehnten Jahr¬
hundert gewannen die Stettiner bei dem Weinbezug aus Frankreich eine vor¬
treffliche Rückfracht in dem pommerschen Eichenholz, das den Franzosen für
ihren Schiffsbau geradezu unentbehrlich wurde. Der Holzhandel hat es über¬
standen, daß ihm der französische Markt verloren ging, und ist noch heute,
obwohl er durch neuere Konjunkturen Rückgang erlitt, erheblich, ebenso wie der
alte Handel Stettins mit Leinsamen. Wesentlich zurückgegangen ist der früher
sehr blühende Getreidehandel, der durch die Vereinigung Stettins mit Preußen
sein großes Absatzgebiet in Schweden verlor und durch die neueren Verkehrs¬
verhältnisse Einschränkungen erlitt. Dafür ist der Handel mit gewissen Massen¬
artikeln, wie Kohle, Eisenerzen und Kartoffeln, ebenso der mit Zucker sehr in
Aufnahme gekommen. Die Aus- und Einfuhrziffern Stettins übertreffen weit
die von Danzig und Lübeck zusammengenommen.

Was nun im Leben der Stadt auffällt, sind die mannigfachen Unruhen, die
hauptsächlich in Geldsachen ihren Ursprung hatten.

Nach mehreren Revolutionsbewegungen im fünfzehnten und sechzehnten Jahr¬
hundert brach im Juli 1616 ein geradezu grotesker Aufstand wegen einer Bier¬
steuer aus. Jämmerlich nimmt es sich aus, wie der Rat damals klein beigab.
Auch in neuerer Zeit hat die Stadt wiederholt Unruhen gesehen, so anläßlich
der Cholera im Jahre 1831, während ver sich die niedere Bevölkerung gegen
energische sanitäre Maßregeln sträubte, und namentlich im Jahre 1847, als der
Kartoffelaufstand ausbrach, der lebhaft an den Bierkrieg von 1616 erinnert.

Vielleicht der interessanteste Abschnitt in: Leben der Stadt ist ihre Re¬
formationsgeschichte. Sie ist dramatisch bewegt. Charaktere wie die beiden
Bürgermeister Hans Loitz und Hans Stoppelberg, der eine reformfeindlich, der
andere reformfreundlich, beide aber krasse Reaktionäre in Verfassungsangelegen¬
heiten, der kraftvolle Führer der Opposition, Klaus Stellmacher, seines Zeichens
Apotheker, und der versöhnliche, von Luther gesandte Reformator Paul vom Rode,
der jahrzehntelang das Evangelium in Pommerns Hauptstadt mit segensreichem
Erfolge gepredigt hat, müssen jedermann fesseln.

Wenige Städte sind wohl so von verheerenden Krankheiten heimgesucht
worden wie Stettin. Das lag sowohl an klimatischen Verhältnissen als an der
gesundheitswidrigen Bauart und der Unreinlichkeit der alten Stadt. Zwar
klingen die Nachrichten über die Seuchen, die in ihren Mauern geherrscht haben,
teilweise übertrieben, aber entsetzlich sind sie auf jeden Fall gewesen. In der
neueren Zeit schrumpfen die Sterbeziffern erheblich zusammen, obwohl die
Bevölkerung außerordentlich zugenommen hat. An die alte Zeit erinnert indes
die Tatsache, daß von Juni bis Oktober 1866 mehr als zweitausend Menschen
von der Cholera fortgerafft wurden. Noch heute ist die Kindersterblichkeit in


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/130>, abgerufen am 03.07.2024.