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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Die naturwissenschaftliche Weltanschauung

Doch diese Lösung war auch hier eine Auflösung. Wir haben sie alle
miterlebt. Der Roman Zolas hat keineswegs eine bedeutsame Schule gemacht.
Die französische Moderne hat sich sehr früh von ihm abgewendet und ist noch
weiter von ihm abgerückt, als die modernste deutsche Dichtung von dem so
schellenlaut inszenierten deutschen Naturalismus. Auch das Drama hat es über¬
raschend schnell aufgegeben, Probleme zu lösen oder, wie man auch gesagt hat,
Gesellschaftskritik zu üben. Warum hat denn die ganze Richtung des Natura¬
lismus, Realismus, des romsn, experimental die Herrschaft so unerwartet
schnell aus der Hand geben müssen, nachdem sie eben so glänzend gewonnen
schien? Die alte Erfahrung des Jahres 1830 hat sich am Ende des neunzehnten
Jahres wiederholt. Wie dort die Romantik auf der Höhe ihres Sieges plötzlich
starb, so hier der Naturalismus.

Wir können, wenn wir die im Thema liegenden Grenzen nicht überschreiten
wollen, nur noch feststellen, daß der Positivismus und die naturwissenschaftliche
Weltanschauung ganz besonders in Frankreich die Herrschaft über die Geister
zum großen Teil verloren hat. In der Philosophie aller Länder sind der
psvchologistischen, materialistischen Wissenschaft bedeutende Gegner erwachsen.
Der beste Beweis aber für das Schwinden des Einflusses der naturalistischen
Weltanschauung ist eben die Literatur selbst. Es bedarf kaum der Erwähnung,
daß der Naturalismus als Kunstrichtung wie als Kunstlehre tot ist, womit
natürlich nicht gesagt sein soll, daß nicht manche seiner Wirkungen in die neuen
Theorien und die neue Praxis übergegangen ist. Doch als Ganzes hielt er
dem Ansturm des Individualismus, der wie eine neue Sturm- und Drangperiode
gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts über die Geister hereinbrach, nicht
stand. Die alte Theorie der deutschen Romantik über Wert und Recht des Genies
lebte neu auf und verknüpfte nach langer Unterbrechung das Ende des neun¬
zehnten Jahrhunderts mit seinem Anfang.




Weltanschauung, Kunsttheorie und Kunstpraxis stehen also wie sonst so hier
in engstem Zusammenhang. Auch das Wesen des Naturalismus, der also
keineswegs bloße Technik ist, kann nur aus dem Wesen der Geistesrichtung
erkannt werden, die ihm zugrunde liegt. Diese Erkenntnis muß auch für den
Kunsttheoretiker von Bedeutung sein. Für mich kam es besonders darauf an,
in einem ganz fest umgrenzten einzelnen Falle nachzuweisen, daß das Geistes¬
leben weder des einzelnen noch einer größeren Gruppe aus völlig getrennten
Teilen besteht, sondern daß es im Gegenteil eine organische Einheit bildet,
deren Glieder sich gegenseitig formen und bedingen, daß es also auch bei
Schriftstellern, von denen keine theoretischen Äußerungen über ihre allgemeine
Betrachtungsweise der Dinge vorliegen, möglich, ja notwendig ist, die allgemeine
Geistesrichtung aufzusuchen und aus ihr das Wesen ihrer Kunst zu verstehen.




Die naturwissenschaftliche Weltanschauung

Doch diese Lösung war auch hier eine Auflösung. Wir haben sie alle
miterlebt. Der Roman Zolas hat keineswegs eine bedeutsame Schule gemacht.
Die französische Moderne hat sich sehr früh von ihm abgewendet und ist noch
weiter von ihm abgerückt, als die modernste deutsche Dichtung von dem so
schellenlaut inszenierten deutschen Naturalismus. Auch das Drama hat es über¬
raschend schnell aufgegeben, Probleme zu lösen oder, wie man auch gesagt hat,
Gesellschaftskritik zu üben. Warum hat denn die ganze Richtung des Natura¬
lismus, Realismus, des romsn, experimental die Herrschaft so unerwartet
schnell aus der Hand geben müssen, nachdem sie eben so glänzend gewonnen
schien? Die alte Erfahrung des Jahres 1830 hat sich am Ende des neunzehnten
Jahres wiederholt. Wie dort die Romantik auf der Höhe ihres Sieges plötzlich
starb, so hier der Naturalismus.

Wir können, wenn wir die im Thema liegenden Grenzen nicht überschreiten
wollen, nur noch feststellen, daß der Positivismus und die naturwissenschaftliche
Weltanschauung ganz besonders in Frankreich die Herrschaft über die Geister
zum großen Teil verloren hat. In der Philosophie aller Länder sind der
psvchologistischen, materialistischen Wissenschaft bedeutende Gegner erwachsen.
Der beste Beweis aber für das Schwinden des Einflusses der naturalistischen
Weltanschauung ist eben die Literatur selbst. Es bedarf kaum der Erwähnung,
daß der Naturalismus als Kunstrichtung wie als Kunstlehre tot ist, womit
natürlich nicht gesagt sein soll, daß nicht manche seiner Wirkungen in die neuen
Theorien und die neue Praxis übergegangen ist. Doch als Ganzes hielt er
dem Ansturm des Individualismus, der wie eine neue Sturm- und Drangperiode
gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts über die Geister hereinbrach, nicht
stand. Die alte Theorie der deutschen Romantik über Wert und Recht des Genies
lebte neu auf und verknüpfte nach langer Unterbrechung das Ende des neun¬
zehnten Jahrhunderts mit seinem Anfang.




Weltanschauung, Kunsttheorie und Kunstpraxis stehen also wie sonst so hier
in engstem Zusammenhang. Auch das Wesen des Naturalismus, der also
keineswegs bloße Technik ist, kann nur aus dem Wesen der Geistesrichtung
erkannt werden, die ihm zugrunde liegt. Diese Erkenntnis muß auch für den
Kunsttheoretiker von Bedeutung sein. Für mich kam es besonders darauf an,
in einem ganz fest umgrenzten einzelnen Falle nachzuweisen, daß das Geistes¬
leben weder des einzelnen noch einer größeren Gruppe aus völlig getrennten
Teilen besteht, sondern daß es im Gegenteil eine organische Einheit bildet,
deren Glieder sich gegenseitig formen und bedingen, daß es also auch bei
Schriftstellern, von denen keine theoretischen Äußerungen über ihre allgemeine
Betrachtungsweise der Dinge vorliegen, möglich, ja notwendig ist, die allgemeine
Geistesrichtung aufzusuchen und aus ihr das Wesen ihrer Kunst zu verstehen.




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[0127] Die naturwissenschaftliche Weltanschauung Doch diese Lösung war auch hier eine Auflösung. Wir haben sie alle miterlebt. Der Roman Zolas hat keineswegs eine bedeutsame Schule gemacht. Die französische Moderne hat sich sehr früh von ihm abgewendet und ist noch weiter von ihm abgerückt, als die modernste deutsche Dichtung von dem so schellenlaut inszenierten deutschen Naturalismus. Auch das Drama hat es über¬ raschend schnell aufgegeben, Probleme zu lösen oder, wie man auch gesagt hat, Gesellschaftskritik zu üben. Warum hat denn die ganze Richtung des Natura¬ lismus, Realismus, des romsn, experimental die Herrschaft so unerwartet schnell aus der Hand geben müssen, nachdem sie eben so glänzend gewonnen schien? Die alte Erfahrung des Jahres 1830 hat sich am Ende des neunzehnten Jahres wiederholt. Wie dort die Romantik auf der Höhe ihres Sieges plötzlich starb, so hier der Naturalismus. Wir können, wenn wir die im Thema liegenden Grenzen nicht überschreiten wollen, nur noch feststellen, daß der Positivismus und die naturwissenschaftliche Weltanschauung ganz besonders in Frankreich die Herrschaft über die Geister zum großen Teil verloren hat. In der Philosophie aller Länder sind der psvchologistischen, materialistischen Wissenschaft bedeutende Gegner erwachsen. Der beste Beweis aber für das Schwinden des Einflusses der naturalistischen Weltanschauung ist eben die Literatur selbst. Es bedarf kaum der Erwähnung, daß der Naturalismus als Kunstrichtung wie als Kunstlehre tot ist, womit natürlich nicht gesagt sein soll, daß nicht manche seiner Wirkungen in die neuen Theorien und die neue Praxis übergegangen ist. Doch als Ganzes hielt er dem Ansturm des Individualismus, der wie eine neue Sturm- und Drangperiode gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts über die Geister hereinbrach, nicht stand. Die alte Theorie der deutschen Romantik über Wert und Recht des Genies lebte neu auf und verknüpfte nach langer Unterbrechung das Ende des neun¬ zehnten Jahrhunderts mit seinem Anfang. Weltanschauung, Kunsttheorie und Kunstpraxis stehen also wie sonst so hier in engstem Zusammenhang. Auch das Wesen des Naturalismus, der also keineswegs bloße Technik ist, kann nur aus dem Wesen der Geistesrichtung erkannt werden, die ihm zugrunde liegt. Diese Erkenntnis muß auch für den Kunsttheoretiker von Bedeutung sein. Für mich kam es besonders darauf an, in einem ganz fest umgrenzten einzelnen Falle nachzuweisen, daß das Geistes¬ leben weder des einzelnen noch einer größeren Gruppe aus völlig getrennten Teilen besteht, sondern daß es im Gegenteil eine organische Einheit bildet, deren Glieder sich gegenseitig formen und bedingen, daß es also auch bei Schriftstellern, von denen keine theoretischen Äußerungen über ihre allgemeine Betrachtungsweise der Dinge vorliegen, möglich, ja notwendig ist, die allgemeine Geistesrichtung aufzusuchen und aus ihr das Wesen ihrer Kunst zu verstehen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/127>, abgerufen am 03.07.2024.