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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Die naturwissenschaftliche Weltanschauung

Handlung moralisch, ästhetisch oder religiös wertvoll ist oder nicht. Die Wertung
tritt an die kausalen Notwendigkeiten heran, gewissermaßen von oben, als
fremdes Licht, und die Tatsache, daß wir überhaupt kausal notwendige Hand¬
lungen werten, ist selbst nicht kausal begründbar. Sehen wir das eigentliche
Gebiet der Kausalitätsforschung, die Naturwissenschaften an; keinem physischen
Experimentator kommt es in den Sinn, zu sagen: das ist zwar der notwendig
eintretende Erfolg, aber er ist verwerflich, die Ursachen hätten anders wirken
"sollen". Eine solche Bewertung der Tatsachen der äußeren Natur wäre sinnlos.
So ist es selbstverständlich, daß dieselbe Methode, auf die menschlichen Hand¬
lungen angewendet, auch nur ihrer kausalen Verknüpfung beizukommen vermag.
Alles andere fällt bei dieser Methode unter den Tisch. Ihr Objekt ist der
Mensch und sein Handeln nur als Glied der großen, einheitlichen, durch das
Kausalitätsprinzip zusammengehaltenen Natur, nicht die Welt der Werte, welche
nicht in die Grenzen dieser Natur hineinpaßt. So war es das Grundprinzip
der ganzen naturwissenschaftlichen Kunst, die Forderung, die Menschen dar¬
zustellen als notwendige Produkte allgemeiner Tatsachen, welche diese Werte
aus den Werken dieser Dichter verbannte, und zwar in dem angeführten,
doppelten Sinne. Bei der Auswahl der Stoffe konnte ihr moralischer, ästhe¬
tischer oder religiöser Wert keine Rolle spielen, da es bei der Darstellung auf
sie nicht ankommen konnte, da sie der Technik dieser Kunst völlig unzugänglich
waren und besonders, weil die Forderung der Wissenschaftlichkeit und Natur¬
wahrheit des Beobachtungsmaterials eine solche Auslese verbot. Auch der
Physiker wählt seine Beobachtungsgegenstände nicht nach ihrem ästhetischen
Werte aus. In den Werken selbst konnten dann die moralischen Anschauungen
der Personen ebenfalls keine Rolle spielen, weil die Tatsache solcher Beurteilungen
eigenen und fremden Handelns die lückenlose Kausalreihe der Ereignisse unter¬
brochen hätte. So führt hier die Methode wieder die künstlerische Eigenart
herbei und wir haben nicht das Recht, gegen irgendeinen Naturalisten der Kunst
den persönlichen Vorwurf zu erheben, er lasse alle Werte im philosophischen
Sinne außer acht; denn das hängt von dem ganzen Wesen seiner Kunst und
nicht von seinem persönlichen Willen ab, oder gar von seiner persönlichen
Stellung zu diesen Werten. Auch Zola nimmt in dieser Hinsicht keine Sonder¬
stellung ein und verdient keine besonderen Vorwürfe. In ihm vollendet sich nur,
was mit Bevle, Balzac und Taine begonnen wurde, die Verbindung der Dicht¬
kunst mit der Wissenschaft auf dem Boden derselben Weltanschauung und Me¬
thode. Bei den ersten drei war diese Verbindung noch unvollständig, sie stellte
an die Dichtung noch Forderungen, welche sie nicht erfüllen durfte, wenn sie wissen¬
schaftlich sein wollte; bei Flaubert war die Vereinigung zwar vollständig durchgeführt,
doch schien sich aus ihr die Unmöglichkeit zu ergeben, daß die Kunst wirklich ihre von
der Wissenschaft gestellten Anforderungen erfüllen könnte. Diese Schwierigkeit löste
dann Zola, indem er ein Prinzip fand, das auch der Kunst die notwendige Auslese
der Tatsachen erlaubte, ohne dadurch ihre Wissenschaftlichkeit zu vernichten.


Die naturwissenschaftliche Weltanschauung

Handlung moralisch, ästhetisch oder religiös wertvoll ist oder nicht. Die Wertung
tritt an die kausalen Notwendigkeiten heran, gewissermaßen von oben, als
fremdes Licht, und die Tatsache, daß wir überhaupt kausal notwendige Hand¬
lungen werten, ist selbst nicht kausal begründbar. Sehen wir das eigentliche
Gebiet der Kausalitätsforschung, die Naturwissenschaften an; keinem physischen
Experimentator kommt es in den Sinn, zu sagen: das ist zwar der notwendig
eintretende Erfolg, aber er ist verwerflich, die Ursachen hätten anders wirken
„sollen". Eine solche Bewertung der Tatsachen der äußeren Natur wäre sinnlos.
So ist es selbstverständlich, daß dieselbe Methode, auf die menschlichen Hand¬
lungen angewendet, auch nur ihrer kausalen Verknüpfung beizukommen vermag.
Alles andere fällt bei dieser Methode unter den Tisch. Ihr Objekt ist der
Mensch und sein Handeln nur als Glied der großen, einheitlichen, durch das
Kausalitätsprinzip zusammengehaltenen Natur, nicht die Welt der Werte, welche
nicht in die Grenzen dieser Natur hineinpaßt. So war es das Grundprinzip
der ganzen naturwissenschaftlichen Kunst, die Forderung, die Menschen dar¬
zustellen als notwendige Produkte allgemeiner Tatsachen, welche diese Werte
aus den Werken dieser Dichter verbannte, und zwar in dem angeführten,
doppelten Sinne. Bei der Auswahl der Stoffe konnte ihr moralischer, ästhe¬
tischer oder religiöser Wert keine Rolle spielen, da es bei der Darstellung auf
sie nicht ankommen konnte, da sie der Technik dieser Kunst völlig unzugänglich
waren und besonders, weil die Forderung der Wissenschaftlichkeit und Natur¬
wahrheit des Beobachtungsmaterials eine solche Auslese verbot. Auch der
Physiker wählt seine Beobachtungsgegenstände nicht nach ihrem ästhetischen
Werte aus. In den Werken selbst konnten dann die moralischen Anschauungen
der Personen ebenfalls keine Rolle spielen, weil die Tatsache solcher Beurteilungen
eigenen und fremden Handelns die lückenlose Kausalreihe der Ereignisse unter¬
brochen hätte. So führt hier die Methode wieder die künstlerische Eigenart
herbei und wir haben nicht das Recht, gegen irgendeinen Naturalisten der Kunst
den persönlichen Vorwurf zu erheben, er lasse alle Werte im philosophischen
Sinne außer acht; denn das hängt von dem ganzen Wesen seiner Kunst und
nicht von seinem persönlichen Willen ab, oder gar von seiner persönlichen
Stellung zu diesen Werten. Auch Zola nimmt in dieser Hinsicht keine Sonder¬
stellung ein und verdient keine besonderen Vorwürfe. In ihm vollendet sich nur,
was mit Bevle, Balzac und Taine begonnen wurde, die Verbindung der Dicht¬
kunst mit der Wissenschaft auf dem Boden derselben Weltanschauung und Me¬
thode. Bei den ersten drei war diese Verbindung noch unvollständig, sie stellte
an die Dichtung noch Forderungen, welche sie nicht erfüllen durfte, wenn sie wissen¬
schaftlich sein wollte; bei Flaubert war die Vereinigung zwar vollständig durchgeführt,
doch schien sich aus ihr die Unmöglichkeit zu ergeben, daß die Kunst wirklich ihre von
der Wissenschaft gestellten Anforderungen erfüllen könnte. Diese Schwierigkeit löste
dann Zola, indem er ein Prinzip fand, das auch der Kunst die notwendige Auslese
der Tatsachen erlaubte, ohne dadurch ihre Wissenschaftlichkeit zu vernichten.


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[0126] Die naturwissenschaftliche Weltanschauung Handlung moralisch, ästhetisch oder religiös wertvoll ist oder nicht. Die Wertung tritt an die kausalen Notwendigkeiten heran, gewissermaßen von oben, als fremdes Licht, und die Tatsache, daß wir überhaupt kausal notwendige Hand¬ lungen werten, ist selbst nicht kausal begründbar. Sehen wir das eigentliche Gebiet der Kausalitätsforschung, die Naturwissenschaften an; keinem physischen Experimentator kommt es in den Sinn, zu sagen: das ist zwar der notwendig eintretende Erfolg, aber er ist verwerflich, die Ursachen hätten anders wirken „sollen". Eine solche Bewertung der Tatsachen der äußeren Natur wäre sinnlos. So ist es selbstverständlich, daß dieselbe Methode, auf die menschlichen Hand¬ lungen angewendet, auch nur ihrer kausalen Verknüpfung beizukommen vermag. Alles andere fällt bei dieser Methode unter den Tisch. Ihr Objekt ist der Mensch und sein Handeln nur als Glied der großen, einheitlichen, durch das Kausalitätsprinzip zusammengehaltenen Natur, nicht die Welt der Werte, welche nicht in die Grenzen dieser Natur hineinpaßt. So war es das Grundprinzip der ganzen naturwissenschaftlichen Kunst, die Forderung, die Menschen dar¬ zustellen als notwendige Produkte allgemeiner Tatsachen, welche diese Werte aus den Werken dieser Dichter verbannte, und zwar in dem angeführten, doppelten Sinne. Bei der Auswahl der Stoffe konnte ihr moralischer, ästhe¬ tischer oder religiöser Wert keine Rolle spielen, da es bei der Darstellung auf sie nicht ankommen konnte, da sie der Technik dieser Kunst völlig unzugänglich waren und besonders, weil die Forderung der Wissenschaftlichkeit und Natur¬ wahrheit des Beobachtungsmaterials eine solche Auslese verbot. Auch der Physiker wählt seine Beobachtungsgegenstände nicht nach ihrem ästhetischen Werte aus. In den Werken selbst konnten dann die moralischen Anschauungen der Personen ebenfalls keine Rolle spielen, weil die Tatsache solcher Beurteilungen eigenen und fremden Handelns die lückenlose Kausalreihe der Ereignisse unter¬ brochen hätte. So führt hier die Methode wieder die künstlerische Eigenart herbei und wir haben nicht das Recht, gegen irgendeinen Naturalisten der Kunst den persönlichen Vorwurf zu erheben, er lasse alle Werte im philosophischen Sinne außer acht; denn das hängt von dem ganzen Wesen seiner Kunst und nicht von seinem persönlichen Willen ab, oder gar von seiner persönlichen Stellung zu diesen Werten. Auch Zola nimmt in dieser Hinsicht keine Sonder¬ stellung ein und verdient keine besonderen Vorwürfe. In ihm vollendet sich nur, was mit Bevle, Balzac und Taine begonnen wurde, die Verbindung der Dicht¬ kunst mit der Wissenschaft auf dem Boden derselben Weltanschauung und Me¬ thode. Bei den ersten drei war diese Verbindung noch unvollständig, sie stellte an die Dichtung noch Forderungen, welche sie nicht erfüllen durfte, wenn sie wissen¬ schaftlich sein wollte; bei Flaubert war die Vereinigung zwar vollständig durchgeführt, doch schien sich aus ihr die Unmöglichkeit zu ergeben, daß die Kunst wirklich ihre von der Wissenschaft gestellten Anforderungen erfüllen könnte. Diese Schwierigkeit löste dann Zola, indem er ein Prinzip fand, das auch der Kunst die notwendige Auslese der Tatsachen erlaubte, ohne dadurch ihre Wissenschaftlichkeit zu vernichten.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/126>, abgerufen am 03.07.2024.