Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die naturwissenschaftliche Weltanschauung

Roman als roman experimental bezeichnete, und es war völlig falsch, zu
behaupten, daß er sich in der theoretischen Grundlage und der Absicht seines
Schaffens gar nicht von seinen Vorgängern, einem Balzac oder Flaubert,
unterschied, ein Vorwurf, mit dem böswillige und verständnislose Gegner ihm
immer wieder die Existenzberechtigung abzusprechen versuchten. Seine Theorie
wie seine Praxis bedeuten einen gewaltigen Fortschritt über alle seine Vor¬
gänger hinaus; man hat das Recht, beide zu verwerfen, aber nicht ihnen ihre
Originalität und ihr logisches Daseinsrecht zu bestreiten.

Es bleibt noch eine andere Eigentümlichkeit des Zolaschen materialistischen
Romans zu erwähnen, welche ihm von vielen seiner Kritiker zum bitteren Vor¬
wurfe gemacht worden ist; ich meine den Vorwurf der Jmmoralität. Man
tadelt damit zweierlei; daß Zola seine Stoffe so gewählt habe, daß Hand¬
lungen dargestellt werden, welche man als unmoralisch bezeichnen zu müssen
glaubt, oder daß die ganze Wirkung seiner Romane auf den Leser in moralischem
Sinne nachteilig wirke, jedenfalls seine Willensrichtung nicht nach dem Guten
hin beeinflusse. Ebenso hat man bemängelt, daß der Sinn für das Schöne,
das ästhetische Gefühl allzuhäufig bei ihm beleidigt werde, wo doch der Dichter
es befriedigen soll. Man könnte hinzufügen, daß auch das religiöse Empfinden
keinerlei Rolle in seinen Werken spiele, jedenfalls beim Lesen seiner Werke keine
Anregungen fände. Alle diese Vorwürfe lassen sich dahin zusammenfassen, daß
alle Werte des Menschenlebens, der moralische, ästhetische und religiöse, aus¬
geschaltet sind aus der Wirttichkeitsbetrachtung dieser Romane. Wenn nun
auch besonders Zolas Schaffen solchen Einwänden begegnete, so werden wir
sofort zugeben müssen, daß auch Beule, Balzac und Flaubert jenen Werten
keinen Platz in ihren Werken einräumen. Ganz besonders bei Julien Sorel
fällt es auf, daß er nur von seinem Ehrgeiz sich leiten läßt und von der Er¬
kenntnis der geeigneten Mittel für seine Zwecke. Moralische Erwägungen liegen
ihm ganz fern. Bei Balzac spielen sie auch in solchen Romanen keine Rolle,
wo man sie noch am ersten erwarten würde, in Darstellungen einfachen, länd¬
lichen Familienlebens, und in .Maciame Kovar>" und der "Läueation 8en-
timentals" läßt auch nicht ein Wort auf die Wirkung eines Pflichtgebotes im
Herzen der Menschen schließen. Wir haben es also hier mit einer Eigenschaft
der ganzen Literaturgattung zu tun, und es ist klar, daß auch hier die posi-
tivistische Kunstauffassung die wirkende Ursache ist. Sie schreibt dem Dichter
vor, sich mit der Wirklichkeit zu befassen und diese Wirklichkeit als Notwendigkeit
begreifen zu lehren. Nun läßt sich zwar kausal begründen, warum der Mensch
so oder so handelt, daß er aber dies sein Handeln auch noch bewerten soll,
das liegt außerhalb der völlig geschlossenen Kausalreihe der Handlung, auch
eine kausal notwendige Handlung wird bewertet und nach dem Wertmaßstäbe
verworfen oder anerkannt. So fallen die Werte ganz aus dem Gesichtskreise
dessen heraus, der nur eine lückenlose Kausalreihe darstellen will. Dieser
Forscher will sich nicht auch noch darum kümmern, ob die so begründete


Grenzboten III 1912 16
Die naturwissenschaftliche Weltanschauung

Roman als roman experimental bezeichnete, und es war völlig falsch, zu
behaupten, daß er sich in der theoretischen Grundlage und der Absicht seines
Schaffens gar nicht von seinen Vorgängern, einem Balzac oder Flaubert,
unterschied, ein Vorwurf, mit dem böswillige und verständnislose Gegner ihm
immer wieder die Existenzberechtigung abzusprechen versuchten. Seine Theorie
wie seine Praxis bedeuten einen gewaltigen Fortschritt über alle seine Vor¬
gänger hinaus; man hat das Recht, beide zu verwerfen, aber nicht ihnen ihre
Originalität und ihr logisches Daseinsrecht zu bestreiten.

Es bleibt noch eine andere Eigentümlichkeit des Zolaschen materialistischen
Romans zu erwähnen, welche ihm von vielen seiner Kritiker zum bitteren Vor¬
wurfe gemacht worden ist; ich meine den Vorwurf der Jmmoralität. Man
tadelt damit zweierlei; daß Zola seine Stoffe so gewählt habe, daß Hand¬
lungen dargestellt werden, welche man als unmoralisch bezeichnen zu müssen
glaubt, oder daß die ganze Wirkung seiner Romane auf den Leser in moralischem
Sinne nachteilig wirke, jedenfalls seine Willensrichtung nicht nach dem Guten
hin beeinflusse. Ebenso hat man bemängelt, daß der Sinn für das Schöne,
das ästhetische Gefühl allzuhäufig bei ihm beleidigt werde, wo doch der Dichter
es befriedigen soll. Man könnte hinzufügen, daß auch das religiöse Empfinden
keinerlei Rolle in seinen Werken spiele, jedenfalls beim Lesen seiner Werke keine
Anregungen fände. Alle diese Vorwürfe lassen sich dahin zusammenfassen, daß
alle Werte des Menschenlebens, der moralische, ästhetische und religiöse, aus¬
geschaltet sind aus der Wirttichkeitsbetrachtung dieser Romane. Wenn nun
auch besonders Zolas Schaffen solchen Einwänden begegnete, so werden wir
sofort zugeben müssen, daß auch Beule, Balzac und Flaubert jenen Werten
keinen Platz in ihren Werken einräumen. Ganz besonders bei Julien Sorel
fällt es auf, daß er nur von seinem Ehrgeiz sich leiten läßt und von der Er¬
kenntnis der geeigneten Mittel für seine Zwecke. Moralische Erwägungen liegen
ihm ganz fern. Bei Balzac spielen sie auch in solchen Romanen keine Rolle,
wo man sie noch am ersten erwarten würde, in Darstellungen einfachen, länd¬
lichen Familienlebens, und in .Maciame Kovar>" und der „Läueation 8en-
timentals« läßt auch nicht ein Wort auf die Wirkung eines Pflichtgebotes im
Herzen der Menschen schließen. Wir haben es also hier mit einer Eigenschaft
der ganzen Literaturgattung zu tun, und es ist klar, daß auch hier die posi-
tivistische Kunstauffassung die wirkende Ursache ist. Sie schreibt dem Dichter
vor, sich mit der Wirklichkeit zu befassen und diese Wirklichkeit als Notwendigkeit
begreifen zu lehren. Nun läßt sich zwar kausal begründen, warum der Mensch
so oder so handelt, daß er aber dies sein Handeln auch noch bewerten soll,
das liegt außerhalb der völlig geschlossenen Kausalreihe der Handlung, auch
eine kausal notwendige Handlung wird bewertet und nach dem Wertmaßstäbe
verworfen oder anerkannt. So fallen die Werte ganz aus dem Gesichtskreise
dessen heraus, der nur eine lückenlose Kausalreihe darstellen will. Dieser
Forscher will sich nicht auch noch darum kümmern, ob die so begründete


Grenzboten III 1912 16
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0125" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/321872"/>
            <fw type="header" place="top"> Die naturwissenschaftliche Weltanschauung</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_428" prev="#ID_427"> Roman als roman experimental bezeichnete, und es war völlig falsch, zu<lb/>
behaupten, daß er sich in der theoretischen Grundlage und der Absicht seines<lb/>
Schaffens gar nicht von seinen Vorgängern, einem Balzac oder Flaubert,<lb/>
unterschied, ein Vorwurf, mit dem böswillige und verständnislose Gegner ihm<lb/>
immer wieder die Existenzberechtigung abzusprechen versuchten. Seine Theorie<lb/>
wie seine Praxis bedeuten einen gewaltigen Fortschritt über alle seine Vor¬<lb/>
gänger hinaus; man hat das Recht, beide zu verwerfen, aber nicht ihnen ihre<lb/>
Originalität und ihr logisches Daseinsrecht zu bestreiten.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_429" next="#ID_430"> Es bleibt noch eine andere Eigentümlichkeit des Zolaschen materialistischen<lb/>
Romans zu erwähnen, welche ihm von vielen seiner Kritiker zum bitteren Vor¬<lb/>
wurfe gemacht worden ist; ich meine den Vorwurf der Jmmoralität. Man<lb/>
tadelt damit zweierlei; daß Zola seine Stoffe so gewählt habe, daß Hand¬<lb/>
lungen dargestellt werden, welche man als unmoralisch bezeichnen zu müssen<lb/>
glaubt, oder daß die ganze Wirkung seiner Romane auf den Leser in moralischem<lb/>
Sinne nachteilig wirke, jedenfalls seine Willensrichtung nicht nach dem Guten<lb/>
hin beeinflusse.  Ebenso hat man bemängelt, daß der Sinn für das Schöne,<lb/>
das ästhetische Gefühl allzuhäufig bei ihm beleidigt werde, wo doch der Dichter<lb/>
es befriedigen soll.  Man könnte hinzufügen, daß auch das religiöse Empfinden<lb/>
keinerlei Rolle in seinen Werken spiele, jedenfalls beim Lesen seiner Werke keine<lb/>
Anregungen fände. Alle diese Vorwürfe lassen sich dahin zusammenfassen, daß<lb/>
alle Werte des Menschenlebens, der moralische, ästhetische und religiöse, aus¬<lb/>
geschaltet sind aus der Wirttichkeitsbetrachtung dieser Romane.  Wenn nun<lb/>
auch besonders Zolas Schaffen solchen Einwänden begegnete, so werden wir<lb/>
sofort zugeben müssen, daß auch Beule, Balzac und Flaubert jenen Werten<lb/>
keinen Platz in ihren Werken einräumen.  Ganz besonders bei Julien Sorel<lb/>
fällt es auf, daß er nur von seinem Ehrgeiz sich leiten läßt und von der Er¬<lb/>
kenntnis der geeigneten Mittel für seine Zwecke.  Moralische Erwägungen liegen<lb/>
ihm ganz fern.  Bei Balzac spielen sie auch in solchen Romanen keine Rolle,<lb/>
wo man sie noch am ersten erwarten würde, in Darstellungen einfachen, länd¬<lb/>
lichen Familienlebens, und in .Maciame Kovar&gt;" und der &#x201E;Läueation 8en-<lb/>
timentals« läßt auch nicht ein Wort auf die Wirkung eines Pflichtgebotes im<lb/>
Herzen der Menschen schließen. Wir haben es also hier mit einer Eigenschaft<lb/>
der ganzen Literaturgattung zu tun, und es ist klar, daß auch hier die posi-<lb/>
tivistische Kunstauffassung die wirkende Ursache ist.  Sie schreibt dem Dichter<lb/>
vor, sich mit der Wirklichkeit zu befassen und diese Wirklichkeit als Notwendigkeit<lb/>
begreifen zu lehren.  Nun läßt sich zwar kausal begründen, warum der Mensch<lb/>
so oder so handelt, daß er aber dies sein Handeln auch noch bewerten soll,<lb/>
das liegt außerhalb der völlig geschlossenen Kausalreihe der Handlung, auch<lb/>
eine kausal notwendige Handlung wird bewertet und nach dem Wertmaßstäbe<lb/>
verworfen oder anerkannt.  So fallen die Werte ganz aus dem Gesichtskreise<lb/>
dessen heraus, der nur eine lückenlose Kausalreihe darstellen will. Dieser<lb/>
Forscher will sich nicht auch noch darum kümmern, ob die so begründete</p><lb/>
            <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten III 1912 16</fw><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0125] Die naturwissenschaftliche Weltanschauung Roman als roman experimental bezeichnete, und es war völlig falsch, zu behaupten, daß er sich in der theoretischen Grundlage und der Absicht seines Schaffens gar nicht von seinen Vorgängern, einem Balzac oder Flaubert, unterschied, ein Vorwurf, mit dem böswillige und verständnislose Gegner ihm immer wieder die Existenzberechtigung abzusprechen versuchten. Seine Theorie wie seine Praxis bedeuten einen gewaltigen Fortschritt über alle seine Vor¬ gänger hinaus; man hat das Recht, beide zu verwerfen, aber nicht ihnen ihre Originalität und ihr logisches Daseinsrecht zu bestreiten. Es bleibt noch eine andere Eigentümlichkeit des Zolaschen materialistischen Romans zu erwähnen, welche ihm von vielen seiner Kritiker zum bitteren Vor¬ wurfe gemacht worden ist; ich meine den Vorwurf der Jmmoralität. Man tadelt damit zweierlei; daß Zola seine Stoffe so gewählt habe, daß Hand¬ lungen dargestellt werden, welche man als unmoralisch bezeichnen zu müssen glaubt, oder daß die ganze Wirkung seiner Romane auf den Leser in moralischem Sinne nachteilig wirke, jedenfalls seine Willensrichtung nicht nach dem Guten hin beeinflusse. Ebenso hat man bemängelt, daß der Sinn für das Schöne, das ästhetische Gefühl allzuhäufig bei ihm beleidigt werde, wo doch der Dichter es befriedigen soll. Man könnte hinzufügen, daß auch das religiöse Empfinden keinerlei Rolle in seinen Werken spiele, jedenfalls beim Lesen seiner Werke keine Anregungen fände. Alle diese Vorwürfe lassen sich dahin zusammenfassen, daß alle Werte des Menschenlebens, der moralische, ästhetische und religiöse, aus¬ geschaltet sind aus der Wirttichkeitsbetrachtung dieser Romane. Wenn nun auch besonders Zolas Schaffen solchen Einwänden begegnete, so werden wir sofort zugeben müssen, daß auch Beule, Balzac und Flaubert jenen Werten keinen Platz in ihren Werken einräumen. Ganz besonders bei Julien Sorel fällt es auf, daß er nur von seinem Ehrgeiz sich leiten läßt und von der Er¬ kenntnis der geeigneten Mittel für seine Zwecke. Moralische Erwägungen liegen ihm ganz fern. Bei Balzac spielen sie auch in solchen Romanen keine Rolle, wo man sie noch am ersten erwarten würde, in Darstellungen einfachen, länd¬ lichen Familienlebens, und in .Maciame Kovar>" und der „Läueation 8en- timentals« läßt auch nicht ein Wort auf die Wirkung eines Pflichtgebotes im Herzen der Menschen schließen. Wir haben es also hier mit einer Eigenschaft der ganzen Literaturgattung zu tun, und es ist klar, daß auch hier die posi- tivistische Kunstauffassung die wirkende Ursache ist. Sie schreibt dem Dichter vor, sich mit der Wirklichkeit zu befassen und diese Wirklichkeit als Notwendigkeit begreifen zu lehren. Nun läßt sich zwar kausal begründen, warum der Mensch so oder so handelt, daß er aber dies sein Handeln auch noch bewerten soll, das liegt außerhalb der völlig geschlossenen Kausalreihe der Handlung, auch eine kausal notwendige Handlung wird bewertet und nach dem Wertmaßstäbe verworfen oder anerkannt. So fallen die Werte ganz aus dem Gesichtskreise dessen heraus, der nur eine lückenlose Kausalreihe darstellen will. Dieser Forscher will sich nicht auch noch darum kümmern, ob die so begründete Grenzboten III 1912 16

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/125
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/125>, abgerufen am 03.07.2024.