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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Die naturwissenschaftliche lveltanschmmng

auffassung. deren Väter Lassalle, Engels und Karl Marx sind, auf dem Boden
der Hegelschen Philosophie erwachsen ist. Ebenso sicher ist aber auch, daß es
die naturwissenschaftliche Weltanschauung war, welche diese Lehre in der Geschichts¬
wissenschaft eine Zeitlang zur herrschenden werden ließ. Man sah nämlich in
ihr die einzige Möglichkeit, die naturwissenschaftliche Methode, ohne welche
Wissenschaft überhaupt, also auch Geschichte als Wissenschaft, unerreichbar schien,
in diese einzuführen. Sie sollte das Kausalprinzip des historischen Geschehens
werden. Daß man ein solches überhaupt forderte, war die Folge der Wissen¬
schaftslehre des Positivismus. So hat denn auch Zola dieses Prinzip als ein
naturwissenschaftliches übernommen; wie überhaupt in Frankreich die mate¬
rialistische Geschichtsauffassung keinen anderen Vater als den Positivismus
gehabt hat.

Doch hängt die Beschränkung der Beobachtung überhaupt noch enger mit
der naturwissenschaftlichen Beobachtung zusammen. Wir haben schon erwähnt,
daß der Physiker nicht alle Vorzüge der Natur berücksichtigt und berücksichtigen
kann. Er beobachtet nicht, sondern er experimentiert. Er stellt bestimmte Fragen
an die Tatsachen und verwertet von der Antwort nur das. was auf seine
Tatsachen Bezug hat. Die Hauptsache also, welche den laienhaften Natur¬
beobachter von dem wissenschaftlichen Forscher unterscheidet, ist die Stellung
einer wissenschaftlichen Frage an die Natur. Solche Fragen stellen in der
Kunst nun auch schon die Problemdichter. Auch sie berücksichtigen von den
Tatsachen der Wirklichkeit nur die, welche zur Lösung der Probleme beizutragen
geeignet sind. Doch die Stellung der Fragen selbst, der Probleme also, ist
völlig der Willkür überlassen. Die Gesamtheit ihrer Probleme ergibt kein
System des menschlichen Handelns, wie die Probleme der Naturwissenschaft ein
System der Natur ergeben müssen, wenn sie wissenschaftlichen Wert haben
wollen. Der Grund hierfür ist der, daß alle wissenschaftlichen Probleme der
Naturwissenschaften auf das eine Grundproblem hinauslaufen, die kausalen Ver¬
hältnisse der Dinge nachzuweisen, und eben in diesem Kausalverhältnis ihre
Einheit. Die Probleme, welche sich die Romanschriftsteller zu lösen vornahmen,
entbehrten jedoch dieser einheitlichen Zielrichtung. Zwar wollte auch sie kausale
Beziehungen aufzeigen, aber nur in einzelnen, ganz individuellen Fällen. Der
Nachweis eines großen Kausalgrundes alles Menschenlebens lag ihnen fern.
So war ihr Forschen bloß Liebhaberbeobachtung, nicht Experiment. Erst als
Zola die Forderung aufstellte, daß das ganze menschliche Dasein mit all seinen
Wandlungen als Produkt der wirtschaftlichen Verhältnisse aufzufassen und zu
erweisen sei, da war es möglich, alle Probleme auf ein großes Endziel ein¬
zustellen und die berechtigten Probleme von unberechtigten zu sondern. Die
Aufgabe der Dichter war nun ebenso genau bestimmt wie die des Natur¬
forschers, auch er konnte jetzt die Versuche, seine Probleme zu lösen, ein wissen¬
schaftliches Experimentieren nennen. So hat also Zola ganz instinktiv das
Richtige getroffen, als er, in Wirklichkeit aus viel äußerlicheren Gründen, seinen


Die naturwissenschaftliche lveltanschmmng

auffassung. deren Väter Lassalle, Engels und Karl Marx sind, auf dem Boden
der Hegelschen Philosophie erwachsen ist. Ebenso sicher ist aber auch, daß es
die naturwissenschaftliche Weltanschauung war, welche diese Lehre in der Geschichts¬
wissenschaft eine Zeitlang zur herrschenden werden ließ. Man sah nämlich in
ihr die einzige Möglichkeit, die naturwissenschaftliche Methode, ohne welche
Wissenschaft überhaupt, also auch Geschichte als Wissenschaft, unerreichbar schien,
in diese einzuführen. Sie sollte das Kausalprinzip des historischen Geschehens
werden. Daß man ein solches überhaupt forderte, war die Folge der Wissen¬
schaftslehre des Positivismus. So hat denn auch Zola dieses Prinzip als ein
naturwissenschaftliches übernommen; wie überhaupt in Frankreich die mate¬
rialistische Geschichtsauffassung keinen anderen Vater als den Positivismus
gehabt hat.

Doch hängt die Beschränkung der Beobachtung überhaupt noch enger mit
der naturwissenschaftlichen Beobachtung zusammen. Wir haben schon erwähnt,
daß der Physiker nicht alle Vorzüge der Natur berücksichtigt und berücksichtigen
kann. Er beobachtet nicht, sondern er experimentiert. Er stellt bestimmte Fragen
an die Tatsachen und verwertet von der Antwort nur das. was auf seine
Tatsachen Bezug hat. Die Hauptsache also, welche den laienhaften Natur¬
beobachter von dem wissenschaftlichen Forscher unterscheidet, ist die Stellung
einer wissenschaftlichen Frage an die Natur. Solche Fragen stellen in der
Kunst nun auch schon die Problemdichter. Auch sie berücksichtigen von den
Tatsachen der Wirklichkeit nur die, welche zur Lösung der Probleme beizutragen
geeignet sind. Doch die Stellung der Fragen selbst, der Probleme also, ist
völlig der Willkür überlassen. Die Gesamtheit ihrer Probleme ergibt kein
System des menschlichen Handelns, wie die Probleme der Naturwissenschaft ein
System der Natur ergeben müssen, wenn sie wissenschaftlichen Wert haben
wollen. Der Grund hierfür ist der, daß alle wissenschaftlichen Probleme der
Naturwissenschaften auf das eine Grundproblem hinauslaufen, die kausalen Ver¬
hältnisse der Dinge nachzuweisen, und eben in diesem Kausalverhältnis ihre
Einheit. Die Probleme, welche sich die Romanschriftsteller zu lösen vornahmen,
entbehrten jedoch dieser einheitlichen Zielrichtung. Zwar wollte auch sie kausale
Beziehungen aufzeigen, aber nur in einzelnen, ganz individuellen Fällen. Der
Nachweis eines großen Kausalgrundes alles Menschenlebens lag ihnen fern.
So war ihr Forschen bloß Liebhaberbeobachtung, nicht Experiment. Erst als
Zola die Forderung aufstellte, daß das ganze menschliche Dasein mit all seinen
Wandlungen als Produkt der wirtschaftlichen Verhältnisse aufzufassen und zu
erweisen sei, da war es möglich, alle Probleme auf ein großes Endziel ein¬
zustellen und die berechtigten Probleme von unberechtigten zu sondern. Die
Aufgabe der Dichter war nun ebenso genau bestimmt wie die des Natur¬
forschers, auch er konnte jetzt die Versuche, seine Probleme zu lösen, ein wissen¬
schaftliches Experimentieren nennen. So hat also Zola ganz instinktiv das
Richtige getroffen, als er, in Wirklichkeit aus viel äußerlicheren Gründen, seinen


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[0124] Die naturwissenschaftliche lveltanschmmng auffassung. deren Väter Lassalle, Engels und Karl Marx sind, auf dem Boden der Hegelschen Philosophie erwachsen ist. Ebenso sicher ist aber auch, daß es die naturwissenschaftliche Weltanschauung war, welche diese Lehre in der Geschichts¬ wissenschaft eine Zeitlang zur herrschenden werden ließ. Man sah nämlich in ihr die einzige Möglichkeit, die naturwissenschaftliche Methode, ohne welche Wissenschaft überhaupt, also auch Geschichte als Wissenschaft, unerreichbar schien, in diese einzuführen. Sie sollte das Kausalprinzip des historischen Geschehens werden. Daß man ein solches überhaupt forderte, war die Folge der Wissen¬ schaftslehre des Positivismus. So hat denn auch Zola dieses Prinzip als ein naturwissenschaftliches übernommen; wie überhaupt in Frankreich die mate¬ rialistische Geschichtsauffassung keinen anderen Vater als den Positivismus gehabt hat. Doch hängt die Beschränkung der Beobachtung überhaupt noch enger mit der naturwissenschaftlichen Beobachtung zusammen. Wir haben schon erwähnt, daß der Physiker nicht alle Vorzüge der Natur berücksichtigt und berücksichtigen kann. Er beobachtet nicht, sondern er experimentiert. Er stellt bestimmte Fragen an die Tatsachen und verwertet von der Antwort nur das. was auf seine Tatsachen Bezug hat. Die Hauptsache also, welche den laienhaften Natur¬ beobachter von dem wissenschaftlichen Forscher unterscheidet, ist die Stellung einer wissenschaftlichen Frage an die Natur. Solche Fragen stellen in der Kunst nun auch schon die Problemdichter. Auch sie berücksichtigen von den Tatsachen der Wirklichkeit nur die, welche zur Lösung der Probleme beizutragen geeignet sind. Doch die Stellung der Fragen selbst, der Probleme also, ist völlig der Willkür überlassen. Die Gesamtheit ihrer Probleme ergibt kein System des menschlichen Handelns, wie die Probleme der Naturwissenschaft ein System der Natur ergeben müssen, wenn sie wissenschaftlichen Wert haben wollen. Der Grund hierfür ist der, daß alle wissenschaftlichen Probleme der Naturwissenschaften auf das eine Grundproblem hinauslaufen, die kausalen Ver¬ hältnisse der Dinge nachzuweisen, und eben in diesem Kausalverhältnis ihre Einheit. Die Probleme, welche sich die Romanschriftsteller zu lösen vornahmen, entbehrten jedoch dieser einheitlichen Zielrichtung. Zwar wollte auch sie kausale Beziehungen aufzeigen, aber nur in einzelnen, ganz individuellen Fällen. Der Nachweis eines großen Kausalgrundes alles Menschenlebens lag ihnen fern. So war ihr Forschen bloß Liebhaberbeobachtung, nicht Experiment. Erst als Zola die Forderung aufstellte, daß das ganze menschliche Dasein mit all seinen Wandlungen als Produkt der wirtschaftlichen Verhältnisse aufzufassen und zu erweisen sei, da war es möglich, alle Probleme auf ein großes Endziel ein¬ zustellen und die berechtigten Probleme von unberechtigten zu sondern. Die Aufgabe der Dichter war nun ebenso genau bestimmt wie die des Natur¬ forschers, auch er konnte jetzt die Versuche, seine Probleme zu lösen, ein wissen¬ schaftliches Experimentieren nennen. So hat also Zola ganz instinktiv das Richtige getroffen, als er, in Wirklichkeit aus viel äußerlicheren Gründen, seinen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/124>, abgerufen am 03.07.2024.