Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die naturwissenschaftliche Weltanschauung

das geistige Individuum abhängen soll, ist deshalb unzulänglich, weil der
Einfluß der ganzen Biologie eines Einzelwesens verschwindet gegenüber der
Allmacht der wirtschaftlichen Notwendigkeiten. Wenn man also dem Schrift¬
steller, was alle seine Kritiker fast ohne Ausnahme tun, eine zu oberflächliche,
summarische Behandlung der Psychologie vorwirft, so zeigt man damit wenig
Verständnis für das eigentümliche Wesen des Zolaschen Romans. Dieser Mangel
ist in den Augen des Verfassers ein beabsichtigter Vorzug, der sich notwendig
aus seiner ganzen Auffassung vom Wesen der Kunst ergab. So stehen auch
hier wieder Romantechnik bis in die kleinsten Fasern der Werke und Welt¬
anschauung in engster Verbindung. Denn auch inhaltlich betrachtet ist diese
materialistische Beschränkung der Triebkräfte des menschlichen Handelns, diese
materialistische Geschichtsauffassung, nichts weiter als eine Fortbildung der
positivistischen, soziologischen Mechanik des Geisteslebens. Wir sahen eben
schon, beide Theorien beruhen auf der gemeinsamen Voraussetzung, daß alle
Äußerungen des menschlichen Lebens nur durch kausale Gesetze bestimmt
sein können und aus rein kausalen, allgemeingültigen Voraussetzungen
begriffen werden müssen. Daß es allgemeine Gesetze des historischen
Geschehens ebenso wie des Naturgeschehens gäbe, davon waren beide Richtungen
überzeugt. Aber schon Flaubert kann man den Vorwurf machen -- Brunetiöre
hat es ausdrücklich getan --, daß seine Beobachtungen sich nicht auf alle Gebiete
der menschlichen Handlungen erstrecken, daß er nur die Oberfläche der Dinge
sehe, daß der Mensch ihm zu sehr Maschine sei, die durch äußere Kräfte in
Bewegung gesetzt werde. Er übersehe viel zu sehr das "innere Milieu", das
weseuhafte Selbst, das dem Stoß der Außenwelt Widerstand leiste und alle
Einflüsse zwinge, durch dieses Selbst hindurchzugehen, sich ihm anzupassen, um
wirksam zu werden. Dieser Vorwurf trifft allerdings Flaubert nicht, weil er
ja gerade aus diesen äußeren Einflüssen das innere Selbst erklären will. Er
erkennt ein selbständiges inneres Milieu eben nicht an, er sieht es nur als
Produkt und erweist es als solches. Diese Beschränkung auf das äußere Milieu
ist also die logische Folge der ganzen positivistischen Kunstauffassung, welche
diese Vereinheitlichung unter den kausalen Gesetzen in allererster Linie fordert.
Das war ja eben die erste Folge der naturwissenschaftlichen Weltanschauung
auf dem Gebiete der Dichtung, daß daS Seelenleben als gesetzmäßige Folge
anderer Tatsachen, also nicht psychischer, sondern physischer, also äußerer Ver¬
hältnisse erklärt wurde. Bis zu Zola nun galten diese äußeren Einflüsse als
mannigfaltiger Art; aber gerade die naturwissenschaftliche Methode forderte,
diese Mannigfaltigkeit selbst wieder zu begreifen als Wirkungen einer einheit¬
lichen Grundtatsache. Daß also Zola diese Grundtatsache in der Gestalt seines
ökonomischen Prinzips betonte, war durchaus konsequent und läßt sich vom
naturwissenschaftlichen Standpunkt nur als ein Fortschritt bezeichnen. Allerdings
ist der Inhalt dieses Prinzips nicht eigentlich von der Naturwissenschaft gewonnen
worden. Wir Deutschen wissen es wohl, daß die materialistische Geschichts-


Die naturwissenschaftliche Weltanschauung

das geistige Individuum abhängen soll, ist deshalb unzulänglich, weil der
Einfluß der ganzen Biologie eines Einzelwesens verschwindet gegenüber der
Allmacht der wirtschaftlichen Notwendigkeiten. Wenn man also dem Schrift¬
steller, was alle seine Kritiker fast ohne Ausnahme tun, eine zu oberflächliche,
summarische Behandlung der Psychologie vorwirft, so zeigt man damit wenig
Verständnis für das eigentümliche Wesen des Zolaschen Romans. Dieser Mangel
ist in den Augen des Verfassers ein beabsichtigter Vorzug, der sich notwendig
aus seiner ganzen Auffassung vom Wesen der Kunst ergab. So stehen auch
hier wieder Romantechnik bis in die kleinsten Fasern der Werke und Welt¬
anschauung in engster Verbindung. Denn auch inhaltlich betrachtet ist diese
materialistische Beschränkung der Triebkräfte des menschlichen Handelns, diese
materialistische Geschichtsauffassung, nichts weiter als eine Fortbildung der
positivistischen, soziologischen Mechanik des Geisteslebens. Wir sahen eben
schon, beide Theorien beruhen auf der gemeinsamen Voraussetzung, daß alle
Äußerungen des menschlichen Lebens nur durch kausale Gesetze bestimmt
sein können und aus rein kausalen, allgemeingültigen Voraussetzungen
begriffen werden müssen. Daß es allgemeine Gesetze des historischen
Geschehens ebenso wie des Naturgeschehens gäbe, davon waren beide Richtungen
überzeugt. Aber schon Flaubert kann man den Vorwurf machen — Brunetiöre
hat es ausdrücklich getan —, daß seine Beobachtungen sich nicht auf alle Gebiete
der menschlichen Handlungen erstrecken, daß er nur die Oberfläche der Dinge
sehe, daß der Mensch ihm zu sehr Maschine sei, die durch äußere Kräfte in
Bewegung gesetzt werde. Er übersehe viel zu sehr das „innere Milieu", das
weseuhafte Selbst, das dem Stoß der Außenwelt Widerstand leiste und alle
Einflüsse zwinge, durch dieses Selbst hindurchzugehen, sich ihm anzupassen, um
wirksam zu werden. Dieser Vorwurf trifft allerdings Flaubert nicht, weil er
ja gerade aus diesen äußeren Einflüssen das innere Selbst erklären will. Er
erkennt ein selbständiges inneres Milieu eben nicht an, er sieht es nur als
Produkt und erweist es als solches. Diese Beschränkung auf das äußere Milieu
ist also die logische Folge der ganzen positivistischen Kunstauffassung, welche
diese Vereinheitlichung unter den kausalen Gesetzen in allererster Linie fordert.
Das war ja eben die erste Folge der naturwissenschaftlichen Weltanschauung
auf dem Gebiete der Dichtung, daß daS Seelenleben als gesetzmäßige Folge
anderer Tatsachen, also nicht psychischer, sondern physischer, also äußerer Ver¬
hältnisse erklärt wurde. Bis zu Zola nun galten diese äußeren Einflüsse als
mannigfaltiger Art; aber gerade die naturwissenschaftliche Methode forderte,
diese Mannigfaltigkeit selbst wieder zu begreifen als Wirkungen einer einheit¬
lichen Grundtatsache. Daß also Zola diese Grundtatsache in der Gestalt seines
ökonomischen Prinzips betonte, war durchaus konsequent und läßt sich vom
naturwissenschaftlichen Standpunkt nur als ein Fortschritt bezeichnen. Allerdings
ist der Inhalt dieses Prinzips nicht eigentlich von der Naturwissenschaft gewonnen
worden. Wir Deutschen wissen es wohl, daß die materialistische Geschichts-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0123" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/321870"/>
            <fw type="header" place="top"> Die naturwissenschaftliche Weltanschauung</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_425" prev="#ID_424" next="#ID_426"> das geistige Individuum abhängen soll, ist deshalb unzulänglich, weil der<lb/>
Einfluß der ganzen Biologie eines Einzelwesens verschwindet gegenüber der<lb/>
Allmacht der wirtschaftlichen Notwendigkeiten. Wenn man also dem Schrift¬<lb/>
steller, was alle seine Kritiker fast ohne Ausnahme tun, eine zu oberflächliche,<lb/>
summarische Behandlung der Psychologie vorwirft, so zeigt man damit wenig<lb/>
Verständnis für das eigentümliche Wesen des Zolaschen Romans. Dieser Mangel<lb/>
ist in den Augen des Verfassers ein beabsichtigter Vorzug, der sich notwendig<lb/>
aus seiner ganzen Auffassung vom Wesen der Kunst ergab. So stehen auch<lb/>
hier wieder Romantechnik bis in die kleinsten Fasern der Werke und Welt¬<lb/>
anschauung in engster Verbindung. Denn auch inhaltlich betrachtet ist diese<lb/>
materialistische Beschränkung der Triebkräfte des menschlichen Handelns, diese<lb/>
materialistische Geschichtsauffassung, nichts weiter als eine Fortbildung der<lb/>
positivistischen, soziologischen Mechanik des Geisteslebens. Wir sahen eben<lb/>
schon, beide Theorien beruhen auf der gemeinsamen Voraussetzung, daß alle<lb/>
Äußerungen des menschlichen Lebens nur durch kausale Gesetze bestimmt<lb/>
sein können und aus rein kausalen, allgemeingültigen Voraussetzungen<lb/>
begriffen werden müssen. Daß es allgemeine Gesetze des historischen<lb/>
Geschehens ebenso wie des Naturgeschehens gäbe, davon waren beide Richtungen<lb/>
überzeugt. Aber schon Flaubert kann man den Vorwurf machen &#x2014; Brunetiöre<lb/>
hat es ausdrücklich getan &#x2014;, daß seine Beobachtungen sich nicht auf alle Gebiete<lb/>
der menschlichen Handlungen erstrecken, daß er nur die Oberfläche der Dinge<lb/>
sehe, daß der Mensch ihm zu sehr Maschine sei, die durch äußere Kräfte in<lb/>
Bewegung gesetzt werde. Er übersehe viel zu sehr das &#x201E;innere Milieu", das<lb/>
weseuhafte Selbst, das dem Stoß der Außenwelt Widerstand leiste und alle<lb/>
Einflüsse zwinge, durch dieses Selbst hindurchzugehen, sich ihm anzupassen, um<lb/>
wirksam zu werden. Dieser Vorwurf trifft allerdings Flaubert nicht, weil er<lb/>
ja gerade aus diesen äußeren Einflüssen das innere Selbst erklären will. Er<lb/>
erkennt ein selbständiges inneres Milieu eben nicht an, er sieht es nur als<lb/>
Produkt und erweist es als solches. Diese Beschränkung auf das äußere Milieu<lb/>
ist also die logische Folge der ganzen positivistischen Kunstauffassung, welche<lb/>
diese Vereinheitlichung unter den kausalen Gesetzen in allererster Linie fordert.<lb/>
Das war ja eben die erste Folge der naturwissenschaftlichen Weltanschauung<lb/>
auf dem Gebiete der Dichtung, daß daS Seelenleben als gesetzmäßige Folge<lb/>
anderer Tatsachen, also nicht psychischer, sondern physischer, also äußerer Ver¬<lb/>
hältnisse erklärt wurde. Bis zu Zola nun galten diese äußeren Einflüsse als<lb/>
mannigfaltiger Art; aber gerade die naturwissenschaftliche Methode forderte,<lb/>
diese Mannigfaltigkeit selbst wieder zu begreifen als Wirkungen einer einheit¬<lb/>
lichen Grundtatsache. Daß also Zola diese Grundtatsache in der Gestalt seines<lb/>
ökonomischen Prinzips betonte, war durchaus konsequent und läßt sich vom<lb/>
naturwissenschaftlichen Standpunkt nur als ein Fortschritt bezeichnen. Allerdings<lb/>
ist der Inhalt dieses Prinzips nicht eigentlich von der Naturwissenschaft gewonnen<lb/>
worden.  Wir Deutschen wissen es wohl, daß die materialistische Geschichts-</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0123] Die naturwissenschaftliche Weltanschauung das geistige Individuum abhängen soll, ist deshalb unzulänglich, weil der Einfluß der ganzen Biologie eines Einzelwesens verschwindet gegenüber der Allmacht der wirtschaftlichen Notwendigkeiten. Wenn man also dem Schrift¬ steller, was alle seine Kritiker fast ohne Ausnahme tun, eine zu oberflächliche, summarische Behandlung der Psychologie vorwirft, so zeigt man damit wenig Verständnis für das eigentümliche Wesen des Zolaschen Romans. Dieser Mangel ist in den Augen des Verfassers ein beabsichtigter Vorzug, der sich notwendig aus seiner ganzen Auffassung vom Wesen der Kunst ergab. So stehen auch hier wieder Romantechnik bis in die kleinsten Fasern der Werke und Welt¬ anschauung in engster Verbindung. Denn auch inhaltlich betrachtet ist diese materialistische Beschränkung der Triebkräfte des menschlichen Handelns, diese materialistische Geschichtsauffassung, nichts weiter als eine Fortbildung der positivistischen, soziologischen Mechanik des Geisteslebens. Wir sahen eben schon, beide Theorien beruhen auf der gemeinsamen Voraussetzung, daß alle Äußerungen des menschlichen Lebens nur durch kausale Gesetze bestimmt sein können und aus rein kausalen, allgemeingültigen Voraussetzungen begriffen werden müssen. Daß es allgemeine Gesetze des historischen Geschehens ebenso wie des Naturgeschehens gäbe, davon waren beide Richtungen überzeugt. Aber schon Flaubert kann man den Vorwurf machen — Brunetiöre hat es ausdrücklich getan —, daß seine Beobachtungen sich nicht auf alle Gebiete der menschlichen Handlungen erstrecken, daß er nur die Oberfläche der Dinge sehe, daß der Mensch ihm zu sehr Maschine sei, die durch äußere Kräfte in Bewegung gesetzt werde. Er übersehe viel zu sehr das „innere Milieu", das weseuhafte Selbst, das dem Stoß der Außenwelt Widerstand leiste und alle Einflüsse zwinge, durch dieses Selbst hindurchzugehen, sich ihm anzupassen, um wirksam zu werden. Dieser Vorwurf trifft allerdings Flaubert nicht, weil er ja gerade aus diesen äußeren Einflüssen das innere Selbst erklären will. Er erkennt ein selbständiges inneres Milieu eben nicht an, er sieht es nur als Produkt und erweist es als solches. Diese Beschränkung auf das äußere Milieu ist also die logische Folge der ganzen positivistischen Kunstauffassung, welche diese Vereinheitlichung unter den kausalen Gesetzen in allererster Linie fordert. Das war ja eben die erste Folge der naturwissenschaftlichen Weltanschauung auf dem Gebiete der Dichtung, daß daS Seelenleben als gesetzmäßige Folge anderer Tatsachen, also nicht psychischer, sondern physischer, also äußerer Ver¬ hältnisse erklärt wurde. Bis zu Zola nun galten diese äußeren Einflüsse als mannigfaltiger Art; aber gerade die naturwissenschaftliche Methode forderte, diese Mannigfaltigkeit selbst wieder zu begreifen als Wirkungen einer einheit¬ lichen Grundtatsache. Daß also Zola diese Grundtatsache in der Gestalt seines ökonomischen Prinzips betonte, war durchaus konsequent und läßt sich vom naturwissenschaftlichen Standpunkt nur als ein Fortschritt bezeichnen. Allerdings ist der Inhalt dieses Prinzips nicht eigentlich von der Naturwissenschaft gewonnen worden. Wir Deutschen wissen es wohl, daß die materialistische Geschichts-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/123
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/123>, abgerufen am 03.07.2024.