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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Die naturwissenschaftliche Weltanschauung

selbst die Ausführung von "Louvarä et peeucliet" fast für unmöglich erklärte.
Genau dieselbe Schwierigkeit begegnet uns nun auf dem Gebiete der natur¬
wissenschaftlichen Methode. Wenn der Empiriker sein Prinzip mit aller Konsequenz
durchführen will, so muß er eine möglichst vollständige Beobachtung der Wirk¬
lichkeit versuchen. Da sähe er sich denn sehr bald vor der Unmöglichkeit, die
ganze Mannigfaltigkeit der Dinge darzustellen, die nach Quantität und Qualität
eine unendliche genannt werden muß. Soll also die Naturwissenschaft als ihre
Aufgabe betrachten, die Wirklichkeit in ihrer vollen Wahrheit wiederzugeben, so
ist diese Aufgabe eigentlich unerfüllbar. Es leuchtet aber sofort ein, daß sie das
auch gar nicht will, daß sie eine vollständige Registrierung der gegebenen Tat¬
sachen gar nicht anstrebt. Der Empiriker geht überhaupt nicht ohne alle
Voraussetzung an die Natur heran, denn sie würde ihm gar nichts sagen,
sondern er stellt an die Wirklichkeit ganz bestimmte Fragen und erwartet darauf
bestimmte Antworten. Er betrachtet also von vornherein nur diejenigen Seiten
der realen Vorgänge, von denen er glaubt, eine solche Belehrung erhalten zu
können. Statt blinden, endlosen Beschreibens und Sammelns verwendet er
mit wohlüberlegter Auswahl nur ganz genau vorherbestimmte Fälle, die zur
exakten Beobachtung ganz genau hergerichtet sind, kurz: er experimentiert. Die
induktive Methode ist kein zielloses Sammeln möglichst aller Fälle, sondern die
Auswahl bestimmter Tatsachen, die geeignet erscheinen, die von dem Forscher
gestellten Fragen zu beantworten. Alles, was auf diese Fragen nicht Bezug
hat, bleibt völlig unberücksichtigt. Auf den Künstler angewendet hieße das etwa,
er darf nicht ohne Wahl jede und die ganze Wirklichkeit darstellen wollen, er
muß vielmehr eine Auswahl treffen unter ganz bestimmten Gesichtspunkten; denn
ohne Ausscheidung des größten Teils der unendlich mannigfaltigen Natur ist
eine Darstellung auch dem Künstler nicht möglich, wie gerade Flaubert selbst
beweist. Soll aber der Künstler wählen, so muß er selbst mit seinem persön¬
lichen Handeln und Urteilen in die Wirklichkeit eingreifen. Greift aber etwa
der experimentierende Naturforscher nicht auch in die Natur ein, indem er eben
selbst entscheidet, was er an einem Vorgang beobachten will oder nicht? Trägt
nicht auch er seine Fragen an die Objekte heran in Gestalt kategorialer Begriffe,
und verschließt sein Ohr allen Äußerungen derselben, die nicht auf diese Fragen
Rede stehen? Völlig reine Empirie ist auch das Experiment nicht, die Dinge
reden nicht blindlings, sondern ihre Antwort liegt in der Richtung der Frage,
die der Menschengeist an sie stellt. Absolut empirische Wissenschaft ist ein
Unding, also auch absolut empirische Kunst. Beide gibt es nicht.

Diese Folge des Postulates "reiner Erfahrung" kann auch der Positivismus
nicht übersehen, zumal die praktische Naturwissenschaft, wie wir sehen, selbst
darüber aufklären muß. und die Kunstübung sich doch auch nicht selbst verneinen
kann. So ist denn auch bald über Flaubcrt hinaus eine Entwicklung des
naturalistischen Romans eingetreten, zunächst nur in der Praxis. Sein Prinzip
I'fre pour l'art hat keine Jünger mehr gefunden. Bedeutet es doch den Verzicht


Die naturwissenschaftliche Weltanschauung

selbst die Ausführung von „Louvarä et peeucliet" fast für unmöglich erklärte.
Genau dieselbe Schwierigkeit begegnet uns nun auf dem Gebiete der natur¬
wissenschaftlichen Methode. Wenn der Empiriker sein Prinzip mit aller Konsequenz
durchführen will, so muß er eine möglichst vollständige Beobachtung der Wirk¬
lichkeit versuchen. Da sähe er sich denn sehr bald vor der Unmöglichkeit, die
ganze Mannigfaltigkeit der Dinge darzustellen, die nach Quantität und Qualität
eine unendliche genannt werden muß. Soll also die Naturwissenschaft als ihre
Aufgabe betrachten, die Wirklichkeit in ihrer vollen Wahrheit wiederzugeben, so
ist diese Aufgabe eigentlich unerfüllbar. Es leuchtet aber sofort ein, daß sie das
auch gar nicht will, daß sie eine vollständige Registrierung der gegebenen Tat¬
sachen gar nicht anstrebt. Der Empiriker geht überhaupt nicht ohne alle
Voraussetzung an die Natur heran, denn sie würde ihm gar nichts sagen,
sondern er stellt an die Wirklichkeit ganz bestimmte Fragen und erwartet darauf
bestimmte Antworten. Er betrachtet also von vornherein nur diejenigen Seiten
der realen Vorgänge, von denen er glaubt, eine solche Belehrung erhalten zu
können. Statt blinden, endlosen Beschreibens und Sammelns verwendet er
mit wohlüberlegter Auswahl nur ganz genau vorherbestimmte Fälle, die zur
exakten Beobachtung ganz genau hergerichtet sind, kurz: er experimentiert. Die
induktive Methode ist kein zielloses Sammeln möglichst aller Fälle, sondern die
Auswahl bestimmter Tatsachen, die geeignet erscheinen, die von dem Forscher
gestellten Fragen zu beantworten. Alles, was auf diese Fragen nicht Bezug
hat, bleibt völlig unberücksichtigt. Auf den Künstler angewendet hieße das etwa,
er darf nicht ohne Wahl jede und die ganze Wirklichkeit darstellen wollen, er
muß vielmehr eine Auswahl treffen unter ganz bestimmten Gesichtspunkten; denn
ohne Ausscheidung des größten Teils der unendlich mannigfaltigen Natur ist
eine Darstellung auch dem Künstler nicht möglich, wie gerade Flaubert selbst
beweist. Soll aber der Künstler wählen, so muß er selbst mit seinem persön¬
lichen Handeln und Urteilen in die Wirklichkeit eingreifen. Greift aber etwa
der experimentierende Naturforscher nicht auch in die Natur ein, indem er eben
selbst entscheidet, was er an einem Vorgang beobachten will oder nicht? Trägt
nicht auch er seine Fragen an die Objekte heran in Gestalt kategorialer Begriffe,
und verschließt sein Ohr allen Äußerungen derselben, die nicht auf diese Fragen
Rede stehen? Völlig reine Empirie ist auch das Experiment nicht, die Dinge
reden nicht blindlings, sondern ihre Antwort liegt in der Richtung der Frage,
die der Menschengeist an sie stellt. Absolut empirische Wissenschaft ist ein
Unding, also auch absolut empirische Kunst. Beide gibt es nicht.

Diese Folge des Postulates „reiner Erfahrung" kann auch der Positivismus
nicht übersehen, zumal die praktische Naturwissenschaft, wie wir sehen, selbst
darüber aufklären muß. und die Kunstübung sich doch auch nicht selbst verneinen
kann. So ist denn auch bald über Flaubcrt hinaus eine Entwicklung des
naturalistischen Romans eingetreten, zunächst nur in der Praxis. Sein Prinzip
I'fre pour l'art hat keine Jünger mehr gefunden. Bedeutet es doch den Verzicht


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[0119] Die naturwissenschaftliche Weltanschauung selbst die Ausführung von „Louvarä et peeucliet" fast für unmöglich erklärte. Genau dieselbe Schwierigkeit begegnet uns nun auf dem Gebiete der natur¬ wissenschaftlichen Methode. Wenn der Empiriker sein Prinzip mit aller Konsequenz durchführen will, so muß er eine möglichst vollständige Beobachtung der Wirk¬ lichkeit versuchen. Da sähe er sich denn sehr bald vor der Unmöglichkeit, die ganze Mannigfaltigkeit der Dinge darzustellen, die nach Quantität und Qualität eine unendliche genannt werden muß. Soll also die Naturwissenschaft als ihre Aufgabe betrachten, die Wirklichkeit in ihrer vollen Wahrheit wiederzugeben, so ist diese Aufgabe eigentlich unerfüllbar. Es leuchtet aber sofort ein, daß sie das auch gar nicht will, daß sie eine vollständige Registrierung der gegebenen Tat¬ sachen gar nicht anstrebt. Der Empiriker geht überhaupt nicht ohne alle Voraussetzung an die Natur heran, denn sie würde ihm gar nichts sagen, sondern er stellt an die Wirklichkeit ganz bestimmte Fragen und erwartet darauf bestimmte Antworten. Er betrachtet also von vornherein nur diejenigen Seiten der realen Vorgänge, von denen er glaubt, eine solche Belehrung erhalten zu können. Statt blinden, endlosen Beschreibens und Sammelns verwendet er mit wohlüberlegter Auswahl nur ganz genau vorherbestimmte Fälle, die zur exakten Beobachtung ganz genau hergerichtet sind, kurz: er experimentiert. Die induktive Methode ist kein zielloses Sammeln möglichst aller Fälle, sondern die Auswahl bestimmter Tatsachen, die geeignet erscheinen, die von dem Forscher gestellten Fragen zu beantworten. Alles, was auf diese Fragen nicht Bezug hat, bleibt völlig unberücksichtigt. Auf den Künstler angewendet hieße das etwa, er darf nicht ohne Wahl jede und die ganze Wirklichkeit darstellen wollen, er muß vielmehr eine Auswahl treffen unter ganz bestimmten Gesichtspunkten; denn ohne Ausscheidung des größten Teils der unendlich mannigfaltigen Natur ist eine Darstellung auch dem Künstler nicht möglich, wie gerade Flaubert selbst beweist. Soll aber der Künstler wählen, so muß er selbst mit seinem persön¬ lichen Handeln und Urteilen in die Wirklichkeit eingreifen. Greift aber etwa der experimentierende Naturforscher nicht auch in die Natur ein, indem er eben selbst entscheidet, was er an einem Vorgang beobachten will oder nicht? Trägt nicht auch er seine Fragen an die Objekte heran in Gestalt kategorialer Begriffe, und verschließt sein Ohr allen Äußerungen derselben, die nicht auf diese Fragen Rede stehen? Völlig reine Empirie ist auch das Experiment nicht, die Dinge reden nicht blindlings, sondern ihre Antwort liegt in der Richtung der Frage, die der Menschengeist an sie stellt. Absolut empirische Wissenschaft ist ein Unding, also auch absolut empirische Kunst. Beide gibt es nicht. Diese Folge des Postulates „reiner Erfahrung" kann auch der Positivismus nicht übersehen, zumal die praktische Naturwissenschaft, wie wir sehen, selbst darüber aufklären muß. und die Kunstübung sich doch auch nicht selbst verneinen kann. So ist denn auch bald über Flaubcrt hinaus eine Entwicklung des naturalistischen Romans eingetreten, zunächst nur in der Praxis. Sein Prinzip I'fre pour l'art hat keine Jünger mehr gefunden. Bedeutet es doch den Verzicht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/119>, abgerufen am 03.07.2024.