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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Die naturwissenschaftliche Weltanschauung

auf jede Rücksichtnahme auf das genießende Publikum, ein unbedingtes Fest¬
halten an der Theorie auch dann, wenn sie das Kunstwerk selbst unmöglich
macht und der Schriftsteller aus Kunstprinzip überhaupt das Schreiben aufgeben
müßte. Gegen diese Konsequenz sträubte sich natürlich jedermann. Im Gegenteil,
die Dichter suchten naturgemäß wieder eine Verbindung mit dem Geschmack des
Publikums und wendeten sich ab von den öden, subtilen Wirklichkeitsbildern
zu "interessanteren" Stoffen, die fesseln sollten. Daher mußte auch die Person
des Dichters wieder hervortreten, was Flaubert so sehr verpönt hatte. Man
kehrte nun aber nicht zu der Methode Beyle-Stendhals und Balzacs zurück,
das verbot doch die Erkenntnis von der logischen Richtigkeit der Postulate
Flauberts. Ein Rückschritt war nicht mehr möglich, es mußte eine Weiter¬
bildung erfolgen. In der Praxis half man sich zunächst damit, daß man die
Mittelmäßigkeit der Menschen, den Durchschnittswert der Gesamtheit, von dem
die Individuen nicht nennenswert abweichen, um eine Stufe tiefer legte. Wenn
die Alltagsgeschichten des Bourgeois auch kein Interesse bieten, wenn sich auch
die Menschen nicht über dieses interesselose Mittelmaß hinaussehen, so hindert
doch nichts, statt des Durchschnittsbourgois den Durchschnitt der Bewohner der
Pariser Vororte oder noch tiefer stehender Gesellschaftsklassen zur Darstellung
zu bringen. Gerade die verworfensten Kreise boten der psychologischen Klein¬
malerei die dankbarsten Aufgaben. Es läßt sich ja auch nicht bestreiten, daß
etwa das Verbrechen der Mechanik des Seelenlebens viel leichter und voll¬
ständiger zugänglich ist als das Genie mit den Großtaten des menschlichen
Geistes. Das Verbrechen mit seinen Ursachen und Folgen ließ sich viel leichter
unter die Begriffe Rasse und Milieu subsumieren als die normalen Betätigungen
der menschlichen Gesellschaft. Neben dem Verbrechen blieb dann überhaupt das
Abnorme, das Gewaltsame und Naturwidrige als dankbarer Stoff übrig.
Gerade nach 1850 und nach Flaubert nahmen Verbrecherromane, Schilderungen
von Elend und Laster in bedenklichem Maße überHand, auch die sentimentalen
Klostergeschichten kommen sogar bei den ersten Schriftstellern der Zeit wieder in Auf¬
nahme. Dieses Abnorme und Naturwidrige bestimmter Klassen verleitete dann dazu,
ähnliche Verhältnisse überhaupt zu bevorzugen, auch wenn sie nicht als Durch-
schnittsznstände erscheinen konnten. So kam man zur Darstellung der außer¬
gewöhnlichen Fälle in den einzelnen Gesellschaftskreisen, welche sich dann voni
psychologisch-wissenschaftlichen Standpunkte aus als "Probleme" darboten, die
eine Erklärung heisesten. Natürlich lag der Schlüssel der Lösung der Probleme
stets in ihrer kausalen Erklärung aus den besonderen Verhältnissen von Nasse
und Milieu, geradezu in der Biologie des Individuums, der Familie oder der
ganzen Gesellschaftsklasse. Von hier aus gewinnt dann die naturwissenschaftlich-
positivistische Kunsttheorie Einfluß auf das Drama; denn wenn die Aufgabe
einer Dichtung wieder auf die Darstellung und Lösung eines problematischen
Falles gestellt wird, so ist damit auch der dramatischen Gestaltung wieder die
Möglichkeit gegeben, den Stoff zu bewältigen. Die Geschichte des naturalistischen


Die naturwissenschaftliche Weltanschauung

auf jede Rücksichtnahme auf das genießende Publikum, ein unbedingtes Fest¬
halten an der Theorie auch dann, wenn sie das Kunstwerk selbst unmöglich
macht und der Schriftsteller aus Kunstprinzip überhaupt das Schreiben aufgeben
müßte. Gegen diese Konsequenz sträubte sich natürlich jedermann. Im Gegenteil,
die Dichter suchten naturgemäß wieder eine Verbindung mit dem Geschmack des
Publikums und wendeten sich ab von den öden, subtilen Wirklichkeitsbildern
zu „interessanteren" Stoffen, die fesseln sollten. Daher mußte auch die Person
des Dichters wieder hervortreten, was Flaubert so sehr verpönt hatte. Man
kehrte nun aber nicht zu der Methode Beyle-Stendhals und Balzacs zurück,
das verbot doch die Erkenntnis von der logischen Richtigkeit der Postulate
Flauberts. Ein Rückschritt war nicht mehr möglich, es mußte eine Weiter¬
bildung erfolgen. In der Praxis half man sich zunächst damit, daß man die
Mittelmäßigkeit der Menschen, den Durchschnittswert der Gesamtheit, von dem
die Individuen nicht nennenswert abweichen, um eine Stufe tiefer legte. Wenn
die Alltagsgeschichten des Bourgeois auch kein Interesse bieten, wenn sich auch
die Menschen nicht über dieses interesselose Mittelmaß hinaussehen, so hindert
doch nichts, statt des Durchschnittsbourgois den Durchschnitt der Bewohner der
Pariser Vororte oder noch tiefer stehender Gesellschaftsklassen zur Darstellung
zu bringen. Gerade die verworfensten Kreise boten der psychologischen Klein¬
malerei die dankbarsten Aufgaben. Es läßt sich ja auch nicht bestreiten, daß
etwa das Verbrechen der Mechanik des Seelenlebens viel leichter und voll¬
ständiger zugänglich ist als das Genie mit den Großtaten des menschlichen
Geistes. Das Verbrechen mit seinen Ursachen und Folgen ließ sich viel leichter
unter die Begriffe Rasse und Milieu subsumieren als die normalen Betätigungen
der menschlichen Gesellschaft. Neben dem Verbrechen blieb dann überhaupt das
Abnorme, das Gewaltsame und Naturwidrige als dankbarer Stoff übrig.
Gerade nach 1850 und nach Flaubert nahmen Verbrecherromane, Schilderungen
von Elend und Laster in bedenklichem Maße überHand, auch die sentimentalen
Klostergeschichten kommen sogar bei den ersten Schriftstellern der Zeit wieder in Auf¬
nahme. Dieses Abnorme und Naturwidrige bestimmter Klassen verleitete dann dazu,
ähnliche Verhältnisse überhaupt zu bevorzugen, auch wenn sie nicht als Durch-
schnittsznstände erscheinen konnten. So kam man zur Darstellung der außer¬
gewöhnlichen Fälle in den einzelnen Gesellschaftskreisen, welche sich dann voni
psychologisch-wissenschaftlichen Standpunkte aus als „Probleme" darboten, die
eine Erklärung heisesten. Natürlich lag der Schlüssel der Lösung der Probleme
stets in ihrer kausalen Erklärung aus den besonderen Verhältnissen von Nasse
und Milieu, geradezu in der Biologie des Individuums, der Familie oder der
ganzen Gesellschaftsklasse. Von hier aus gewinnt dann die naturwissenschaftlich-
positivistische Kunsttheorie Einfluß auf das Drama; denn wenn die Aufgabe
einer Dichtung wieder auf die Darstellung und Lösung eines problematischen
Falles gestellt wird, so ist damit auch der dramatischen Gestaltung wieder die
Möglichkeit gegeben, den Stoff zu bewältigen. Die Geschichte des naturalistischen


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[0120] Die naturwissenschaftliche Weltanschauung auf jede Rücksichtnahme auf das genießende Publikum, ein unbedingtes Fest¬ halten an der Theorie auch dann, wenn sie das Kunstwerk selbst unmöglich macht und der Schriftsteller aus Kunstprinzip überhaupt das Schreiben aufgeben müßte. Gegen diese Konsequenz sträubte sich natürlich jedermann. Im Gegenteil, die Dichter suchten naturgemäß wieder eine Verbindung mit dem Geschmack des Publikums und wendeten sich ab von den öden, subtilen Wirklichkeitsbildern zu „interessanteren" Stoffen, die fesseln sollten. Daher mußte auch die Person des Dichters wieder hervortreten, was Flaubert so sehr verpönt hatte. Man kehrte nun aber nicht zu der Methode Beyle-Stendhals und Balzacs zurück, das verbot doch die Erkenntnis von der logischen Richtigkeit der Postulate Flauberts. Ein Rückschritt war nicht mehr möglich, es mußte eine Weiter¬ bildung erfolgen. In der Praxis half man sich zunächst damit, daß man die Mittelmäßigkeit der Menschen, den Durchschnittswert der Gesamtheit, von dem die Individuen nicht nennenswert abweichen, um eine Stufe tiefer legte. Wenn die Alltagsgeschichten des Bourgeois auch kein Interesse bieten, wenn sich auch die Menschen nicht über dieses interesselose Mittelmaß hinaussehen, so hindert doch nichts, statt des Durchschnittsbourgois den Durchschnitt der Bewohner der Pariser Vororte oder noch tiefer stehender Gesellschaftsklassen zur Darstellung zu bringen. Gerade die verworfensten Kreise boten der psychologischen Klein¬ malerei die dankbarsten Aufgaben. Es läßt sich ja auch nicht bestreiten, daß etwa das Verbrechen der Mechanik des Seelenlebens viel leichter und voll¬ ständiger zugänglich ist als das Genie mit den Großtaten des menschlichen Geistes. Das Verbrechen mit seinen Ursachen und Folgen ließ sich viel leichter unter die Begriffe Rasse und Milieu subsumieren als die normalen Betätigungen der menschlichen Gesellschaft. Neben dem Verbrechen blieb dann überhaupt das Abnorme, das Gewaltsame und Naturwidrige als dankbarer Stoff übrig. Gerade nach 1850 und nach Flaubert nahmen Verbrecherromane, Schilderungen von Elend und Laster in bedenklichem Maße überHand, auch die sentimentalen Klostergeschichten kommen sogar bei den ersten Schriftstellern der Zeit wieder in Auf¬ nahme. Dieses Abnorme und Naturwidrige bestimmter Klassen verleitete dann dazu, ähnliche Verhältnisse überhaupt zu bevorzugen, auch wenn sie nicht als Durch- schnittsznstände erscheinen konnten. So kam man zur Darstellung der außer¬ gewöhnlichen Fälle in den einzelnen Gesellschaftskreisen, welche sich dann voni psychologisch-wissenschaftlichen Standpunkte aus als „Probleme" darboten, die eine Erklärung heisesten. Natürlich lag der Schlüssel der Lösung der Probleme stets in ihrer kausalen Erklärung aus den besonderen Verhältnissen von Nasse und Milieu, geradezu in der Biologie des Individuums, der Familie oder der ganzen Gesellschaftsklasse. Von hier aus gewinnt dann die naturwissenschaftlich- positivistische Kunsttheorie Einfluß auf das Drama; denn wenn die Aufgabe einer Dichtung wieder auf die Darstellung und Lösung eines problematischen Falles gestellt wird, so ist damit auch der dramatischen Gestaltung wieder die Möglichkeit gegeben, den Stoff zu bewältigen. Die Geschichte des naturalistischen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/120>, abgerufen am 03.07.2024.