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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Die naturwissenschaftliche Weltanschauung

Charakters auch erst später verständlich werden sollte. Durch diese Methode
gelingt es Flaubert in steigendem Maße, völlig hinter sein Werk zurückzutreten,
und der Leser selbst muß ohne Zutun des Autors aus dem Roman, wie aus
der Wirklichkeit, erst das Gesamtbild gewinnen. Da es nun eine Grundforderung
Flauberts ist, daß die Dichtung in diesem Sinne unpersönlich sein soll, so
können wir annehmen, daß er seine Darstellungsweise mit vollem Bewußtsein
gewählt habe, und wir können demnach auch seine Kompositionsweise als Er¬
gebnis seiner Kunsttheorie, also seiner Weltanschauung, fassen. Vor allem aber
fällt bei dieser Technik die Notwendigkeit fort, dem Werke eine einzige Idee
zugrunde zu legen. Es leuchtet ein, daß gerade dieser Eingriff der gestaltenden
Kraft der Persönlichkeit in den Gang der Dinge dem Verfasser der "IZclueation
sentimentale" als völlig unberechtigt, durchaus unrealistisch, unwissenschaftlich
erscheinen mußte. Er konnte darin nur eine Fälschung der Wirklichkeit erblicken,
einen Eingriff der "sentimentalen", subjektiven Dichterpersönlichkeit, der ihm geradezu
verhaßt war und den er wiederholt getadelt hat. Dadurch mußten die Menschen
idealisiert werden, und doch gab die empirische Beobachtung der Welt dazu
keinerlei Anlaß.

Vergleichen wir also Flauberts Praxis und die ihr genau entsprechende
theoretische Überzeugung mit den Postulaten der Taineschen normativen Ästhetik,
so sehen wir, daß keine dieser Forderungen erfüllt ist, und daß sie als un¬
vereinbar mit den Verhältnissen der Wirklichkeit abgelehnt werden. Eine Rang¬
ordnung der Charaktere ihrer Bedeutung nach kann es nicht geben, da überhaupt
von Bedeutung derselben keine Rede sein kann. Die größtmögliche Genauigkeit
und Vollständigkeit der Empirie ist nun die höchste Forderung, eine ästhetische
oder gar moralische Bedeutung könnte den Personen nur durch eine von: Dichter
selbst ausgehende Beurteilung verliehen werden, welche aber dem echten Jünger
der konsequenten positivistischen Theorie nicht erlaubt ist. Flauberts Entwicklungs¬
gang von .Maclame IZovary" zu "Louvarcl et peeueliet" bewies uns, daß
er die Dichtung für die vollendetste hielt, welche jegliche Wertung der darzu¬
stellenden Personen bei ihrer Auswahl völlig beiseite setzte, um den rein
empirischen Gesamteindruck der Wirklichkeit am reinsten zur Darstellung zu
bringen. Damit haben wir die Einsicht gewonnen, daß Flauberts Werk eine
Entwicklung des Positivismus, soweit er Kunsttheorie und -praxis betrifft, über
Taine hinaus bedeutet. Wir sehen die bei Taine gerügten Jnkonsequenzen
völlig vermieden, und den Grundsatz der Empirie bis zum äußerstell gewahrt.
Die Bezeichnung Flauberts als eines konsequenten Positivisten hat sich als
durchaus berechtigt erwiesen.

Diese Konsequenz beherrschte Flauberts Praxis bis zum künstlerischen
Selbstmord, bis er selbst erkannte, daß die psychologische Kleinmalerei, die feine
Kunst der kleinenUnterschiede, dersubtilitösps^LNoIoZiques, sich vor eine unlösbare
Aufgabe, vor eine solche Mannigfaltigkeit wirklicher Tatsachen gestellt sah, daß
keine Mühe sie mehr bewältigen konnte. Wir haben gesehen, daß der Dichter


Die naturwissenschaftliche Weltanschauung

Charakters auch erst später verständlich werden sollte. Durch diese Methode
gelingt es Flaubert in steigendem Maße, völlig hinter sein Werk zurückzutreten,
und der Leser selbst muß ohne Zutun des Autors aus dem Roman, wie aus
der Wirklichkeit, erst das Gesamtbild gewinnen. Da es nun eine Grundforderung
Flauberts ist, daß die Dichtung in diesem Sinne unpersönlich sein soll, so
können wir annehmen, daß er seine Darstellungsweise mit vollem Bewußtsein
gewählt habe, und wir können demnach auch seine Kompositionsweise als Er¬
gebnis seiner Kunsttheorie, also seiner Weltanschauung, fassen. Vor allem aber
fällt bei dieser Technik die Notwendigkeit fort, dem Werke eine einzige Idee
zugrunde zu legen. Es leuchtet ein, daß gerade dieser Eingriff der gestaltenden
Kraft der Persönlichkeit in den Gang der Dinge dem Verfasser der „IZclueation
sentimentale" als völlig unberechtigt, durchaus unrealistisch, unwissenschaftlich
erscheinen mußte. Er konnte darin nur eine Fälschung der Wirklichkeit erblicken,
einen Eingriff der „sentimentalen", subjektiven Dichterpersönlichkeit, der ihm geradezu
verhaßt war und den er wiederholt getadelt hat. Dadurch mußten die Menschen
idealisiert werden, und doch gab die empirische Beobachtung der Welt dazu
keinerlei Anlaß.

Vergleichen wir also Flauberts Praxis und die ihr genau entsprechende
theoretische Überzeugung mit den Postulaten der Taineschen normativen Ästhetik,
so sehen wir, daß keine dieser Forderungen erfüllt ist, und daß sie als un¬
vereinbar mit den Verhältnissen der Wirklichkeit abgelehnt werden. Eine Rang¬
ordnung der Charaktere ihrer Bedeutung nach kann es nicht geben, da überhaupt
von Bedeutung derselben keine Rede sein kann. Die größtmögliche Genauigkeit
und Vollständigkeit der Empirie ist nun die höchste Forderung, eine ästhetische
oder gar moralische Bedeutung könnte den Personen nur durch eine von: Dichter
selbst ausgehende Beurteilung verliehen werden, welche aber dem echten Jünger
der konsequenten positivistischen Theorie nicht erlaubt ist. Flauberts Entwicklungs¬
gang von .Maclame IZovary" zu „Louvarcl et peeueliet" bewies uns, daß
er die Dichtung für die vollendetste hielt, welche jegliche Wertung der darzu¬
stellenden Personen bei ihrer Auswahl völlig beiseite setzte, um den rein
empirischen Gesamteindruck der Wirklichkeit am reinsten zur Darstellung zu
bringen. Damit haben wir die Einsicht gewonnen, daß Flauberts Werk eine
Entwicklung des Positivismus, soweit er Kunsttheorie und -praxis betrifft, über
Taine hinaus bedeutet. Wir sehen die bei Taine gerügten Jnkonsequenzen
völlig vermieden, und den Grundsatz der Empirie bis zum äußerstell gewahrt.
Die Bezeichnung Flauberts als eines konsequenten Positivisten hat sich als
durchaus berechtigt erwiesen.

Diese Konsequenz beherrschte Flauberts Praxis bis zum künstlerischen
Selbstmord, bis er selbst erkannte, daß die psychologische Kleinmalerei, die feine
Kunst der kleinenUnterschiede, dersubtilitösps^LNoIoZiques, sich vor eine unlösbare
Aufgabe, vor eine solche Mannigfaltigkeit wirklicher Tatsachen gestellt sah, daß
keine Mühe sie mehr bewältigen konnte. Wir haben gesehen, daß der Dichter


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[0118] Die naturwissenschaftliche Weltanschauung Charakters auch erst später verständlich werden sollte. Durch diese Methode gelingt es Flaubert in steigendem Maße, völlig hinter sein Werk zurückzutreten, und der Leser selbst muß ohne Zutun des Autors aus dem Roman, wie aus der Wirklichkeit, erst das Gesamtbild gewinnen. Da es nun eine Grundforderung Flauberts ist, daß die Dichtung in diesem Sinne unpersönlich sein soll, so können wir annehmen, daß er seine Darstellungsweise mit vollem Bewußtsein gewählt habe, und wir können demnach auch seine Kompositionsweise als Er¬ gebnis seiner Kunsttheorie, also seiner Weltanschauung, fassen. Vor allem aber fällt bei dieser Technik die Notwendigkeit fort, dem Werke eine einzige Idee zugrunde zu legen. Es leuchtet ein, daß gerade dieser Eingriff der gestaltenden Kraft der Persönlichkeit in den Gang der Dinge dem Verfasser der „IZclueation sentimentale" als völlig unberechtigt, durchaus unrealistisch, unwissenschaftlich erscheinen mußte. Er konnte darin nur eine Fälschung der Wirklichkeit erblicken, einen Eingriff der „sentimentalen", subjektiven Dichterpersönlichkeit, der ihm geradezu verhaßt war und den er wiederholt getadelt hat. Dadurch mußten die Menschen idealisiert werden, und doch gab die empirische Beobachtung der Welt dazu keinerlei Anlaß. Vergleichen wir also Flauberts Praxis und die ihr genau entsprechende theoretische Überzeugung mit den Postulaten der Taineschen normativen Ästhetik, so sehen wir, daß keine dieser Forderungen erfüllt ist, und daß sie als un¬ vereinbar mit den Verhältnissen der Wirklichkeit abgelehnt werden. Eine Rang¬ ordnung der Charaktere ihrer Bedeutung nach kann es nicht geben, da überhaupt von Bedeutung derselben keine Rede sein kann. Die größtmögliche Genauigkeit und Vollständigkeit der Empirie ist nun die höchste Forderung, eine ästhetische oder gar moralische Bedeutung könnte den Personen nur durch eine von: Dichter selbst ausgehende Beurteilung verliehen werden, welche aber dem echten Jünger der konsequenten positivistischen Theorie nicht erlaubt ist. Flauberts Entwicklungs¬ gang von .Maclame IZovary" zu „Louvarcl et peeueliet" bewies uns, daß er die Dichtung für die vollendetste hielt, welche jegliche Wertung der darzu¬ stellenden Personen bei ihrer Auswahl völlig beiseite setzte, um den rein empirischen Gesamteindruck der Wirklichkeit am reinsten zur Darstellung zu bringen. Damit haben wir die Einsicht gewonnen, daß Flauberts Werk eine Entwicklung des Positivismus, soweit er Kunsttheorie und -praxis betrifft, über Taine hinaus bedeutet. Wir sehen die bei Taine gerügten Jnkonsequenzen völlig vermieden, und den Grundsatz der Empirie bis zum äußerstell gewahrt. Die Bezeichnung Flauberts als eines konsequenten Positivisten hat sich als durchaus berechtigt erwiesen. Diese Konsequenz beherrschte Flauberts Praxis bis zum künstlerischen Selbstmord, bis er selbst erkannte, daß die psychologische Kleinmalerei, die feine Kunst der kleinenUnterschiede, dersubtilitösps^LNoIoZiques, sich vor eine unlösbare Aufgabe, vor eine solche Mannigfaltigkeit wirklicher Tatsachen gestellt sah, daß keine Mühe sie mehr bewältigen konnte. Wir haben gesehen, daß der Dichter

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/118>, abgerufen am 03.07.2024.