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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Wiener Brief

Kaum waren die Wehrvorlagen angenommen, so hatte man das Gefühl,
als ob die Parteien ob der nützlichen Leistung Neue empfänden und nun erst
tobte sich die Kinderstube voll aus. Der Besuch des Unterrichtsministers beim
Sokolfest in Prag gab dazu den nächsten Anlaß. Es ist wirklich schwer, dem
Nicht-Österreicher einen Begriff davon zu geben, was hier zu einer Haupt-
und Staatsaktion wurde. Die Tschechen feierten ein allslawisches Sokolfest.
Sonst war bei solchen Anlässen an allerlei politischen Entgleisungen kein Mangel;
diesmal war die Parole ausgegeben, alles zu vermeiden, was bei Hofe Anstoß
erregen könnte. Das hängt mit der Schwenkung zusammen, die die tschechische
Politik seit der Annexionskrise im Jahre 1908 vorgenommen hat; die Seelen¬
gemeinschaft mit Serben und Russen, die die Tschechen damals bekundeten, ist
ihnen schlecht bekommen. Der Staat und seine Lenker mögen sich dieses Wandels
freuen. Wenn man aber den Tschechen gerade bei dieser Gelegenheit ihren
neu- oder wiedergefundenen Patriotismus attestieren wollte, so mußte man sich
doch die Konsequenzen überlegen, die die anderen Völker daraus ziehen müssen.
Heute ein allslawisches Turnerfest, morgen vielleicht ein allgermanisches, ein
altdeutsches, ein allpolnisches, ein allitalienisches usw. Verständigerweise sollte
kein Volk der vielsprachigen Monarchie an der Pflege seiner nationalen Ge¬
meinschaft mit seinen Volks- oder Rassegenossen außerhalb der schwarz-gelben
Grenzpfähle gehindert werden -- die Deutschen wären doch töricht, wenn sie
solche Forderung erhöben -- aber der Staat kann doch alle diese Gefühle nicht
verstaatlichen. Er muß in Österreich zufrieden sein, wenn ihm die Vernunft
der Völker gehört, die Gefühlswelt möge sich auf nationalem Gebiete ausleben.
Aber die Tschechen wollten nun einmal bei diesem allslawischen Fest die politische
Harmlosigkeit regierungsseitig bestätigt bekommen, was nach ihrer Meinung nur
dadurch geschehen konnte, daß ein Minister, und zwar ein deutscher Minister,
das Fest besuchte. Vom deutschen Standpunkte konnte man vernünftigerweise
dazu doch nur sagen: wenn die Negierung das Risiko auf sich nehmen will,
sich lächerlich zu machen, so möge sie es ruhig tun. Diese Gefahr lag ja in
der Tat nahe; welche Gewähr war dafür geboten, daß der Unterrichtsminister
nicht irgend eine panslawistische Hetzrede mit anhören mußte, ohne selbst die
Möglichkeit zu haben, rechtzeitig fortzugehen, weil er sie nicht verstand? Und
an den Deutschen wäre es gewesen, sich genau darüber zu unterrichten, was
bei diesem Feste alles gesprochen wurde. Die Rücksicht auf die Wühler verlangte
es freilich anders; und so schoß denn die deutschradikale Partei einige harmlose
Böller in die Luft, entfernte sich bei der Abstimmung über das Budgetprovisorium
(weil sie darüber beruhigt war, daß es doch angenommen werden würde),
und erklärte der Regierung und insbesondere dem Unterrichtsminister ihr Mißtrauen
(hätte sich aber wohl gehütet, das Ministerium zu stürzen, ohne vorher zu
wissen, was nachkommt). Das Verhalten der Regierung war das heitere
Gegenspiel hierzu; auf einmal fuhr der Unterrichtsminister nach Prag, nur um
die Hochschulen zu besuchen, wohnte offiziell nur der Enthüllung des Palacky-


Wiener Brief

Kaum waren die Wehrvorlagen angenommen, so hatte man das Gefühl,
als ob die Parteien ob der nützlichen Leistung Neue empfänden und nun erst
tobte sich die Kinderstube voll aus. Der Besuch des Unterrichtsministers beim
Sokolfest in Prag gab dazu den nächsten Anlaß. Es ist wirklich schwer, dem
Nicht-Österreicher einen Begriff davon zu geben, was hier zu einer Haupt-
und Staatsaktion wurde. Die Tschechen feierten ein allslawisches Sokolfest.
Sonst war bei solchen Anlässen an allerlei politischen Entgleisungen kein Mangel;
diesmal war die Parole ausgegeben, alles zu vermeiden, was bei Hofe Anstoß
erregen könnte. Das hängt mit der Schwenkung zusammen, die die tschechische
Politik seit der Annexionskrise im Jahre 1908 vorgenommen hat; die Seelen¬
gemeinschaft mit Serben und Russen, die die Tschechen damals bekundeten, ist
ihnen schlecht bekommen. Der Staat und seine Lenker mögen sich dieses Wandels
freuen. Wenn man aber den Tschechen gerade bei dieser Gelegenheit ihren
neu- oder wiedergefundenen Patriotismus attestieren wollte, so mußte man sich
doch die Konsequenzen überlegen, die die anderen Völker daraus ziehen müssen.
Heute ein allslawisches Turnerfest, morgen vielleicht ein allgermanisches, ein
altdeutsches, ein allpolnisches, ein allitalienisches usw. Verständigerweise sollte
kein Volk der vielsprachigen Monarchie an der Pflege seiner nationalen Ge¬
meinschaft mit seinen Volks- oder Rassegenossen außerhalb der schwarz-gelben
Grenzpfähle gehindert werden — die Deutschen wären doch töricht, wenn sie
solche Forderung erhöben — aber der Staat kann doch alle diese Gefühle nicht
verstaatlichen. Er muß in Österreich zufrieden sein, wenn ihm die Vernunft
der Völker gehört, die Gefühlswelt möge sich auf nationalem Gebiete ausleben.
Aber die Tschechen wollten nun einmal bei diesem allslawischen Fest die politische
Harmlosigkeit regierungsseitig bestätigt bekommen, was nach ihrer Meinung nur
dadurch geschehen konnte, daß ein Minister, und zwar ein deutscher Minister,
das Fest besuchte. Vom deutschen Standpunkte konnte man vernünftigerweise
dazu doch nur sagen: wenn die Negierung das Risiko auf sich nehmen will,
sich lächerlich zu machen, so möge sie es ruhig tun. Diese Gefahr lag ja in
der Tat nahe; welche Gewähr war dafür geboten, daß der Unterrichtsminister
nicht irgend eine panslawistische Hetzrede mit anhören mußte, ohne selbst die
Möglichkeit zu haben, rechtzeitig fortzugehen, weil er sie nicht verstand? Und
an den Deutschen wäre es gewesen, sich genau darüber zu unterrichten, was
bei diesem Feste alles gesprochen wurde. Die Rücksicht auf die Wühler verlangte
es freilich anders; und so schoß denn die deutschradikale Partei einige harmlose
Böller in die Luft, entfernte sich bei der Abstimmung über das Budgetprovisorium
(weil sie darüber beruhigt war, daß es doch angenommen werden würde),
und erklärte der Regierung und insbesondere dem Unterrichtsminister ihr Mißtrauen
(hätte sich aber wohl gehütet, das Ministerium zu stürzen, ohne vorher zu
wissen, was nachkommt). Das Verhalten der Regierung war das heitere
Gegenspiel hierzu; auf einmal fuhr der Unterrichtsminister nach Prag, nur um
die Hochschulen zu besuchen, wohnte offiziell nur der Enthüllung des Palacky-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/112>, abgerufen am 03.07.2024.