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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Wiener Brief

unannehmbar erscheint, nicht vom Präsidentensitze aus zu führen. Ganz schlaue
Leute haben sogar das Gerücht aufgebracht, Graf Tisza werde im Herbst den
gemeinsamen Finanzminister Bninski ablösen, der als österreichischer Minister¬
präsident einen von ihm lange gehegten Traum verwirklichen werde. Der
Gedanke erinnert an die Praxis der französischen Liberalen, die die Kon¬
gregationen zwar aus dem Lande gejagt haben, sich ihre Tätigkeit im Orient
aber gerne gefallen lassen. Ins ungarische übertragen heißt das etwa: Tisza
ist nun einmal ein scharfer Köter, man hat ihn fehlerhafterweise auf uns los-
gelassen, er soll aber lieber die Österreicher beißen und er hat dann unseren
vollen Beifall. Es wäre wirklich sehr schön -- wird aber doch wohl nur ein
Gedanke bleiben, dessen Vater der Wunsch der Magyaren war.

Ganz ausgeschlossen ist es, daß der Kaiser Lukacs fallen ließe. Freiwillig
würde Lukacs aber niemals gehen; das ist er schon seiner hübschen jungen Frau
schuldig, die den Ehrgeiz ihres Gatten anstachelt. Das Wahrscheinlichste ist.
daß die Opposition ins Haus zurückkehren wird, auch wenn die Altäre nicht
von Opfern rauchen; Graf Tisza wird solange Präsident bleiben, bis er sieht,
daß die Opposition sich an den neuen Ton gewöhnt hat und nicht mehr Skandal
macht. Und dann wird in parlamentarischen Formen ein Kampf um die Wahl¬
reform beginnen, der der Opposition vielleicht einige Genugtuung bringen könnte.
Denn vermutlich wird sich bei dieser Gelegenheit der Gegensatz zwischen Tisza
und Lukacs enthüllen, die sich schon lange persönlich nicht ausstehen können
(es ist der Gegensatz zwischen demi stockkonservativen Aristokraten und dem durch
tausend Listen in die Höhe gestiegenen Emporkömmling). Dazu kommen aber
in der Frage der Wahlreform auch noch schwerwiegende sachliche Meinungs¬
verschiedenheiten; Lukacs ist jedenfalls bereit, den Freunden einer wirklichen
Wahlreform weiter entgegenzukommen als Tisza. Kann freilich die Opposition
daran eine reine Freude haben? Graf Apponyi steht in dieser Frage dem
Grafen Tisza näher als dem Ministerpräsidenten; so wird man vielleicht das
Schauspiel erleben, daß die Geister sich ohne Rücksicht auf die bestehenden
Parteigruppierungen unter ganz neuen Gesichtspunkten scheiden.

In Österreich bestand über die glatte Verabschiedung der Wehrvorlagen
schon seit Monaten kein Zweifel; und es war sonderbar, wie die Sache immer
leichter aussah, je näher die Entscheidung kam. Vor etwas über einem Jahre
mußte Bienerth gehen, ohne daß ein vernünftiger Grund dafür vorlag; denn
die Neuwahlen hatten die parlamentarischen Verhältnisse keineswegs zu seinen
Ungunsten verschoben. Aber unverantwortliche Kreise in der Umgebung des
Monarchen wiesen darauf hin, wie unbeliebt Bienerth bei den Tschechen sei,
ihm würde es nimmermehr gelingen, sie für die Regierungsmehrheit zu gewinnen
und so die Zweidrittelmehrheit zu schaffen, die zur Annahme der Wehrvorlagen
notwendig ist.

Der weitere Verlauf der Dinge hat dann gezeigt, daß es mit der Demission
Bienerths mindestens noch ein Jahr Zeit gehabt hätte und wenigstens die klägliche


Wiener Brief

unannehmbar erscheint, nicht vom Präsidentensitze aus zu führen. Ganz schlaue
Leute haben sogar das Gerücht aufgebracht, Graf Tisza werde im Herbst den
gemeinsamen Finanzminister Bninski ablösen, der als österreichischer Minister¬
präsident einen von ihm lange gehegten Traum verwirklichen werde. Der
Gedanke erinnert an die Praxis der französischen Liberalen, die die Kon¬
gregationen zwar aus dem Lande gejagt haben, sich ihre Tätigkeit im Orient
aber gerne gefallen lassen. Ins ungarische übertragen heißt das etwa: Tisza
ist nun einmal ein scharfer Köter, man hat ihn fehlerhafterweise auf uns los-
gelassen, er soll aber lieber die Österreicher beißen und er hat dann unseren
vollen Beifall. Es wäre wirklich sehr schön — wird aber doch wohl nur ein
Gedanke bleiben, dessen Vater der Wunsch der Magyaren war.

Ganz ausgeschlossen ist es, daß der Kaiser Lukacs fallen ließe. Freiwillig
würde Lukacs aber niemals gehen; das ist er schon seiner hübschen jungen Frau
schuldig, die den Ehrgeiz ihres Gatten anstachelt. Das Wahrscheinlichste ist.
daß die Opposition ins Haus zurückkehren wird, auch wenn die Altäre nicht
von Opfern rauchen; Graf Tisza wird solange Präsident bleiben, bis er sieht,
daß die Opposition sich an den neuen Ton gewöhnt hat und nicht mehr Skandal
macht. Und dann wird in parlamentarischen Formen ein Kampf um die Wahl¬
reform beginnen, der der Opposition vielleicht einige Genugtuung bringen könnte.
Denn vermutlich wird sich bei dieser Gelegenheit der Gegensatz zwischen Tisza
und Lukacs enthüllen, die sich schon lange persönlich nicht ausstehen können
(es ist der Gegensatz zwischen demi stockkonservativen Aristokraten und dem durch
tausend Listen in die Höhe gestiegenen Emporkömmling). Dazu kommen aber
in der Frage der Wahlreform auch noch schwerwiegende sachliche Meinungs¬
verschiedenheiten; Lukacs ist jedenfalls bereit, den Freunden einer wirklichen
Wahlreform weiter entgegenzukommen als Tisza. Kann freilich die Opposition
daran eine reine Freude haben? Graf Apponyi steht in dieser Frage dem
Grafen Tisza näher als dem Ministerpräsidenten; so wird man vielleicht das
Schauspiel erleben, daß die Geister sich ohne Rücksicht auf die bestehenden
Parteigruppierungen unter ganz neuen Gesichtspunkten scheiden.

In Österreich bestand über die glatte Verabschiedung der Wehrvorlagen
schon seit Monaten kein Zweifel; und es war sonderbar, wie die Sache immer
leichter aussah, je näher die Entscheidung kam. Vor etwas über einem Jahre
mußte Bienerth gehen, ohne daß ein vernünftiger Grund dafür vorlag; denn
die Neuwahlen hatten die parlamentarischen Verhältnisse keineswegs zu seinen
Ungunsten verschoben. Aber unverantwortliche Kreise in der Umgebung des
Monarchen wiesen darauf hin, wie unbeliebt Bienerth bei den Tschechen sei,
ihm würde es nimmermehr gelingen, sie für die Regierungsmehrheit zu gewinnen
und so die Zweidrittelmehrheit zu schaffen, die zur Annahme der Wehrvorlagen
notwendig ist.

Der weitere Verlauf der Dinge hat dann gezeigt, daß es mit der Demission
Bienerths mindestens noch ein Jahr Zeit gehabt hätte und wenigstens die klägliche


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[0110] Wiener Brief unannehmbar erscheint, nicht vom Präsidentensitze aus zu führen. Ganz schlaue Leute haben sogar das Gerücht aufgebracht, Graf Tisza werde im Herbst den gemeinsamen Finanzminister Bninski ablösen, der als österreichischer Minister¬ präsident einen von ihm lange gehegten Traum verwirklichen werde. Der Gedanke erinnert an die Praxis der französischen Liberalen, die die Kon¬ gregationen zwar aus dem Lande gejagt haben, sich ihre Tätigkeit im Orient aber gerne gefallen lassen. Ins ungarische übertragen heißt das etwa: Tisza ist nun einmal ein scharfer Köter, man hat ihn fehlerhafterweise auf uns los- gelassen, er soll aber lieber die Österreicher beißen und er hat dann unseren vollen Beifall. Es wäre wirklich sehr schön — wird aber doch wohl nur ein Gedanke bleiben, dessen Vater der Wunsch der Magyaren war. Ganz ausgeschlossen ist es, daß der Kaiser Lukacs fallen ließe. Freiwillig würde Lukacs aber niemals gehen; das ist er schon seiner hübschen jungen Frau schuldig, die den Ehrgeiz ihres Gatten anstachelt. Das Wahrscheinlichste ist. daß die Opposition ins Haus zurückkehren wird, auch wenn die Altäre nicht von Opfern rauchen; Graf Tisza wird solange Präsident bleiben, bis er sieht, daß die Opposition sich an den neuen Ton gewöhnt hat und nicht mehr Skandal macht. Und dann wird in parlamentarischen Formen ein Kampf um die Wahl¬ reform beginnen, der der Opposition vielleicht einige Genugtuung bringen könnte. Denn vermutlich wird sich bei dieser Gelegenheit der Gegensatz zwischen Tisza und Lukacs enthüllen, die sich schon lange persönlich nicht ausstehen können (es ist der Gegensatz zwischen demi stockkonservativen Aristokraten und dem durch tausend Listen in die Höhe gestiegenen Emporkömmling). Dazu kommen aber in der Frage der Wahlreform auch noch schwerwiegende sachliche Meinungs¬ verschiedenheiten; Lukacs ist jedenfalls bereit, den Freunden einer wirklichen Wahlreform weiter entgegenzukommen als Tisza. Kann freilich die Opposition daran eine reine Freude haben? Graf Apponyi steht in dieser Frage dem Grafen Tisza näher als dem Ministerpräsidenten; so wird man vielleicht das Schauspiel erleben, daß die Geister sich ohne Rücksicht auf die bestehenden Parteigruppierungen unter ganz neuen Gesichtspunkten scheiden. In Österreich bestand über die glatte Verabschiedung der Wehrvorlagen schon seit Monaten kein Zweifel; und es war sonderbar, wie die Sache immer leichter aussah, je näher die Entscheidung kam. Vor etwas über einem Jahre mußte Bienerth gehen, ohne daß ein vernünftiger Grund dafür vorlag; denn die Neuwahlen hatten die parlamentarischen Verhältnisse keineswegs zu seinen Ungunsten verschoben. Aber unverantwortliche Kreise in der Umgebung des Monarchen wiesen darauf hin, wie unbeliebt Bienerth bei den Tschechen sei, ihm würde es nimmermehr gelingen, sie für die Regierungsmehrheit zu gewinnen und so die Zweidrittelmehrheit zu schaffen, die zur Annahme der Wehrvorlagen notwendig ist. Der weitere Verlauf der Dinge hat dann gezeigt, daß es mit der Demission Bienerths mindestens noch ein Jahr Zeit gehabt hätte und wenigstens die klägliche

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/110>, abgerufen am 03.07.2024.